Greenblatt / Jussen / Scholz | Die Erfindung der Intoleranz | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 12, 144 Seiten

Reihe: Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge

Greenblatt / Jussen / Scholz Die Erfindung der Intoleranz

Rom und das Christentum
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8353-4428-0
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Rom und das Christentum

E-Book, Deutsch, Band 12, 144 Seiten

Reihe: Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge

ISBN: 978-3-8353-4428-0
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Über das Ende der religiösen Vielfalt und Akzeptanz im alten Rom - eingeläutet durch das Christentum.

Das alte Rom war in vielerlei Hinsicht fortschrittlich. Unzählige Götter und Religionen lebten in der Millionenstadt am Tiber nebeneinander - es war eine politische Strategie des Weltreiches, andere Kulturen und deren Rituale zu integrieren, aber auch Religionskritik und Skepsis zu akzeptieren. Wie sich das mit dem Aufkommen des Christentums änderte und wie religiöse Intoleranz und Toleranz entstanden, zeichnet Stephen Greenblatt in seinem Essay nach. Damit zeigt er auch, wie sich aus der kultischen Vielfalt der Antike eine Gesellschaft entwickelte, die auf Reinheit und Einheitlichkeit, auf Zerstörung und Zensur setzte. Vor allem die materialistische Vorstellung völlig unbeteiligter Götter erwies sich bald als etwas, das unter keinen Umständen toleriert werden konnte und dessen Träger (ob Bücher oder Menschen) vernichtet werden musste.

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II.
»Gibt es denn einen schlimmeren Seelentod«, fragte Augustinus, »als die Freiheit des Irrtums?«[55] Unter den Architekten der christlichen Orthodoxie herrschte wenig Toleranz für Duldsamkeit. Obwohl man sich gut vorstellen könnte, dass Erinnerungen an die unbarmherzige Verfolgung durch eine Reihe heidnischer Kaiser zu Nachsicht gegenüber anderen Glaubensrichtungen geführt hätte, scheint genau das Gegenteil der Fall gewesen zu sein. Sobald ihre Machtposition gefestigt war, schritten die Christen, so schnell sie konnten, zur Unterdrückung konkurrierender Glaubenssysteme. Dadurch aber bestätigten sie die Vorwürfe, die überhaupt erst zu den Verfolgungen geführt hatten. Einige wütende Polytheisten hatten bereits gewarnt, das Imperium könne die Christen nicht ebenso behandeln wie andere neu entdeckte Religionen. Das heißt, dass es nicht möglich war, das Christentum in den Synkretismus einzugliedern und die neue Gottheit durch brillante Intellektuelle auf Linie bringen zu lassen – auf Linie mit der bestehenden Palette an Göttern und mit dem Nutzen für den Staat. Des Weiteren ließ sich mit fortschreitender Entwicklung des Kaiserkultes von den Anhängern Jesu Christi nicht mehr die eine einfache und minimale Sache erwarten, die sie schuldeten: für die Gesundheit und das Wohlergehen des vergöttlichten Herrschers zu beten. In diesem speziellen Sinne waren die Christen »Atheisten«, Leute also, die sich stur widersetzten, die Heiligkeit des göttlichen Kaisers anzuerkennen und die Existenz der Götter zu bekennen, die sonst ein jeder verehrte. Wenn man die Christen gewähren ließe, so warnten vorausschauende Polytheisten, dann wäre die gesamte traditionelle Ordnung, die Rom Jahrhunderte des Wohlstands beschert hatte, in Gefahr. Das war die Befürchtung des Caecilius gewesen. Schon vor der Zeit des Kaiserkultes besaß das römische Imperium starke Bindungen an eine offizielle, religiöse Frömmigkeit, die im Grunde alles aufnahm, was der Stabilität förderlich war und eine vertrauenswürdige Atmosphäre von Beständigkeit und Altertum verbreitete. In erster Linie waren da die zwölf olympischen Götter, wie sie Livius als Paare bei einem Gastmahl beschrieben hat: Jupiter und Juno, Neptun und Minerva, Mars und Venus, Apollo und Diana, Vulkan und Vesta, Merkur und Ceres. Diese großen Paare absorbierten die Verehrung, die die Griechen Zeus und Hera, Poseidon und Athene, Ares und Aphrodite, Hephaistos und Hestia, Hermes und Demeter dargebracht hatten. Aber das waren nur einige in der verwirrenden Masse an Gottheiten. Deren Zahl wuchs beständig weiter, als Altäre für die Kaiser errichtet wurden. Nach Sueton errichtete Caligula einen eigenen Tempel für seine Gottheit, in dem Priester eine erlesene und besonders kostspielige Auswahl an Opfertieren darbrachten, darunter etwa Flamingos und Pfaue. Zur Ausstattung des Tempels gehörte auch eine lebensgroße Statue des Kaisers aus Gold, der jeden Tag dieselben Kleider angelegt wurden, die der Kaiser trug. Sueton wird schwerlich als verlässliche Quelle durchgehen, aber dass die Kaiser vergöttlicht wurden, steht außer Frage. Die Kaiser, die in den Status von Göttern aufgestiegen waren, identifizierten sich selbst mit Jupiter und den anderen Hauptgottheiten des römischen Pantheons. Die Flut der Gottheiten nahm immer weiter zu. Die Kaiser konnten auch vergessene Kulte wiederbeleben, wie den des archaischen latinischen Sonnengottes Sol Invictus, und seine Priesterschaft ehren. In Rom konnten für die sabinischen Gottheiten Quirinus und Flora, für den italischen Liber, die keltische Aericura oder den graeco-ägyptischen Serapis Gebete angestimmt und Opfer dargebracht werden. Die Römer scheinen so gut wie keine religiösen Grenzen gekannt zu haben, sie errichteten Altäre in promisker Fülle. Sich Götter anzuverwandeln war eine Taktik des Imperiums, eine der Methoden, durch die der Kaiser Roms, in Vergils Vision, über Garamanten und Inder hinaus / das Imperium ausdehnen wird; dies Land liegt außerhalb unserer Gestirne, / außerhalb der Bahnen von Jahr und Sonne, wo der Himmelsträger Atlas / auf seinen Schultern das mit leuchtenden Sternen besetzte Himmelsgewölbe dreht.[56] Diese grenzenlose Expansion der Macht war allerdings in keiner Weise an die Ambition gekoppelt, die Götter Roms über den ganzen Globus zu verbreiten. Deshalb war das Imperium der Römer auch kein Vorläufer des christlichen und später muslimischen Traums, die ganze Menschheit zur Verehrung des einen wahren Gottes zu bekehren. Vielmehr war es, wie Caecilius im Octavius argumentiert, geradezu das Gegenteil dieses Traums: Indem sich die Macht Roms weiter ausdehnte, wurden all die regionalen und lokalen Gottheiten in der großen Stadt zusammengezogen, und eine jede von ihnen erhielt ihren würdigen Platz und schuldigen Respekt. Der Verteidiger des Polytheismus bei Minucius Felix hatte gewiss recht damit, dass diese vorzügliche Taktik sehr viel älter war als das Imperium selbst. Unter Berufung auf den Antiquar Verrius Flaccus berichtet Plinius in der Naturalis historia von dem langlebigen Brauch, »daß man bei Belagerungen als erste Maßnahme durch römische Priester den Gott, unter dessen Schutz die Stadt stand, herausrufen ließ und zu versprechen pflegte, man werde ihm dieselbe oder eine noch größere Verehrung bei den Römern erweisen.«[57] Im frühen 5. Jahrhundert n. Chr. bestätigt Macrobius in seinen Saturnalia die Altehrwürdigkeit dieser Praxis und bietet zudem eine zumindest plausible Erklärung für sie an: Es steht nämlich fest, daß alle Städte im Schutz einer Gottheit stehen, und daß es ein geheimer und vielen unbekannter Brauch der Römer war, daß sie bei Belagerung einer feindlichen Stadt, an deren Einnahme sie bereits glaubten, deren Schutzgötter mit einem bestimmten Gebet herausriefen; anders nämlich meinten sie nicht, die Stadt einnehmen zu können, oder sie hielten es für Frevel, selbst wenn sie es könnten, Gottheiten gefangen zu nehmen.[58] In Übereinstimmung mit diesem Glauben taten die Römer ihr Bestes, um den Namen der Schutzgottheit ihrer eigenen Stadt geheim zu halten; auf die Weitergabe dieses Geheimnisses stand die Todesstrafe. Um jeden Preis wollten sie verhindern, dass einer ihrer Feinde ihren göttlichen Beschützer mit unwiderstehlichen Angeboten verführen würde, so wie sie es selbst mit den Schutzgottheiten der anderen taten. Macrobius zitiert sogar einen uralten Fluch, den er in seinen Quellen gefunden haben will. Ein römischer Priester ruft die Schutzgötter Karthagos an und bittet um ihre besondere Gunst: Ich flehe euch an, verehre euch und bitte euch um die Gunst, daß ihr Volk und Stadt der Karthager verlaßt, ihre Orte, Tempel, Heiligtümer und ihre Stadt aufgebt und von ihnen fortgeht; auch sollt ihr diesem Volk und dieser Stadt Furcht, Angst und Vergessen einjagen, und sollt, dort preisgegeben, nach Rom zu mir und den Meinigen kommen. Unsere Orte, Tempel, Heiligtümer und unsere Stadt sollen euch willkommener und wohlgefälliger sein, und ihr sollt mir und dem römischen Volk und meinen Soldaten vorgesetzt sein, so daß wir es wissen und erkennen. Wenn ihr also tut, gelobe ich, euch Tempel und Spiele einzurichten.[59] Karthago war der erbittertste Feind Roms, aber der karthagische Wettergott Baal-Hammon wurde umstandslos in den Kult des römischen Saturn aufgenommen, der seinerseits bereits lange mit dem griechischen Kronos identifiziert worden war. Auch Baal-Hammons Gattin, die Mondgöttin Tanit, war in der Stadt der Eroberer willkommen. Diese rituellen Formeln und das Wuchern der Altäre bedeuten nicht notwendigerweise, dass die Römer den Göttern gegenüber besonders furchtsam waren. Zweifellos gab es einige, die viel Zeit und Geld aufwandten, um das Wohlwollen gleich mehrerer Götter zu gewinnen, ihren Grimm über jedes denkbare Versäumnis, jede denkbare Kränkung zu besänftigen, und sie in dieser oder in der nächsten Welt günstig zu stimmen. Andere konzentrierten ihre Frömmigkeit auf eine einzelne Gottheit. Und wieder andere waren gleichgültig oder skeptisch. »So haben beispielsweise in dieser Frage die meisten Philosophen sich für die Existenz von Göttern erklärt. Das besitzt ja auch den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit«[60], schrieb Cicero mit einer gewissen abwägenden Vorsicht. Aber sofort fügte er hinzu, dass die Vertreter dieser Ansicht untereinander derart uneins sind, dass ihre Meinungen eine quälend lange Aufzählung ergeben würden. Diese Meinungsverschiedenheiten beziehen sich auf die Form der Götter, auf ihre Wohnstätte, ihre Lebensart und so weiter, aber wichtiger noch, sie beziehen sich auch auf die zentrale Frage, um die sich alles dreht: »ob die Götter nichts tun, keine Wirksamkeit haben und sich jeder fürsorgenden Leitung der Welt enthalten, oder ob im Gegenteil gerade von ihnen schon vom ersten Anfang an (a principio) alles erschaffen und eingerichtet ist und alles bis in Ewigkeit von ihnen geleitet und in Bewegung gehalten wird«[61]. In diesem Punkt ist die Uneinigkeit am größten, schreibt Cicero, und bis eine Lösung gefunden ist, »muß die Menschheit unvermeidlich in einem ganz großen Irrtum«[62] verbleiben. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass Rom mit einer verwirrenden Fülle und Vielfalt von Schreinen überschwemmt wurde, Göttern aller Formen und Größen gewidmet – und jeder Gott musste die Anwesenheit...


Roth, Tobias
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Greenblatt, Stephen
Stephen Greenblatt, geb. 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Harvard University. Er ist einer der führenden Vertreter des »New Historicism« und vor allem für seine Arbeit zu Shakespeare und der Renaissance bekannt. Er wurde u. a. 2012 mit dem Pulitzer-Preis für sein Buch »Die Wende« sowie 2016 mit dem Holberg-Preis ausgezeichnet.
Veröffentlichungen u. a.:
Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit (2018); Die Wende. Wie die Renaissance begann (2012).



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