E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Greifenstein Dieser längst vergangene Sommer
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-492-98887-2
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-492-98887-2
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das jähe Ende einer eigentlich unsterblich geglaubten Freundschaft nach einem wunderschönen Sommer - und das Wiederannähern nach vielen Jahren. Für alle LeserInnen von Susann Abel und Dörte Hansen »Da stand ein alter, mit bunten, schrecklich kitschigen Poesiebildchen beklebter Schuhkarton, der ihr unangenehm bekannt vorkam. Der Deckel lag auf der Tischplatte, genauso wie unzählige Fotografien. Fotografien, die sie vor vielen Jahren in diesen Karton verbannt und seitdem nie wieder hervorgeholt hatte.« Dieser längst vergangene Sommer war flirrend vor Hitze, die Luft roch nach Dosenravioli und nach Freiheit, jeder Atemzug schmeckte nach Abenteuer. Es war diese schwerelose Zeit zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, zwischen Abitur und Studienbeginn, zwischen Nesthocken und Flüggewerden, zwischen Unbeschwertheit und dem Ernst des Lebens. Und sie waren so verdammt jung und hungrig nach diesem Leben, das aufregend geheimnisvoll vor ihnen lag. Ein märchenhafter Sommer voller Lachen, zarter Gefühle und ewiger Freundschaft, der jedoch jäh mit einem Unglück endete. Das ist die Geschichte von Johanna, Iris und Sonja. Und natürlich von Annabell ... »Berührende Geschichte über Schuld und Freundschaft.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Ein wunderschönes Buch über Freundschaft, Schuld und Träume. Man fliegt nur so durch die Seiten!« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Wahnsinnig nachdenklich machendes Buch. Einige schöne Momente, die man förmlich spüren konnte! Toller Roman, der mehr Aufmerksamkeit verdient!« ((Leserstimme auf Netgalley))
Gina Greifenstein lebt und arbeitet als freie Autorin in der Südpfalz. Sie schreibt Romane, Krimis und Kochbücher. Ihre Backbücher bei Gräfe und Unzer sind Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt. Regionalkrimi-Fans unterhält sie kriminell-humorvoll mit ihrem fränkisch-pfälzischen Ermittler-Duo Paula Stern und Bernd Keeser. Ihr Roman »Der Traummann auf der Bettkante« (Piper) war 2008 für den DELIA-Preis nominiert. Zuletzt sind von ihr bei Piper erschienen: »Katastrophen haben kurze Beine« und »Sechs Fremde und ein Dackel« - letzterer ist in Zusammenarbeit mit Anne Grießer und Barbara Saladin entstanden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
3
Sonja Nach einem langen Vormittag bei Gericht und einem noch längeren Nachmittag in der Kanzlei fuhr Sonja durch die beiden mannshohen Pfosten, die die breite Einfahrt flankierten, und stellte den Motor ihres neuen Audi TT Coupé ab. Mit dem Absterben des Motors war auch die Musik aus dem Radio erloschen. Nur das leise Klopfen der Regentropfen auf dem Autodach war noch zu hören. Die Sicht durch die Windschutzscheibe wurde zunehmend undeutlicher, da auch der Scheibenwischer nicht mehr arbeitete. Aber sie wusste auch so, wie es draußen aussah. Sie stand auf dem Hof einer ehemaligen, U-förmig angelegten Tuchfabrik. Tuche und Stoffe wurden hier aber schon lange keine mehr gewoben. Vor vier Jahren hatten ihre Freundin Bea und sie diese vor sich hin verfallenden Gebäude entdeckt und gekauft. Sie hatten sie restauriert und saniert und jede Menge Geld und Nerven hineingesteckt. Jetzt war das alte Gemäuer aus roten Ziegelsteinen ein Schmuckstück, um das sie vor allem die beneideten, die ihnen damals vom Kauf abgeraten hatten. Im Gebäude zu ihrer Rechten, in dem einst die riesigen Webstühle gestanden hatten, befand sich das großzügige Atelier, hinter dessen deckenhohen Fenstern jetzt kein Licht brannte. Vor ihr, jenseits der wasserbenetzten Windschutzscheibe, lag der Trakt mit den Garagen, der Werkstatt und dem großen Raum, der zum Feiern genauso gut taugte wie für Ausstellungen. Und links, nur ein paar Schritte entfernt, war das Wohnhaus. Wo einst die Büros und Aufenthaltsräume der Arbeiter waren, lebten sie nun. Dort brannte Licht. Es spiegelte sich auf dem regennassen, über Jahrzehnte rundgefahrenen Kopfsteinpflaster. Sonja öffnete die Fahrertür, nahm den Aktenkoffer vom Beifahrersitz, blieb dann aber mit ihm auf dem Schoß sitzen. Sie war zu müde zum Aussteigen. Einzelne Regentropfen verirrten sich ins Wageninnere, trafen ihre linke Hand, der eine oder andere ihr Gesicht. Sie fühlten sich an wie kleine, kalte Stiche auf der Haut. Dass eine Partnerschaft in der Kanzlei mehr Verantwortung bedeuten würde, war ihr von vorneherein klar gewesen, nicht aber, dass sie auch mehr als doppelt so viel würde arbeiten müssen. Hätte sie es gewusst, hätte sie wohl dankend abgelehnt. Oder? Was nützte ein atemberaubendes Gehalt, wenn sie keine Zeit mehr hatte, es auszugeben? Wenn sie keine Zeit mehr hatte für sich, für ihre Beziehung, ihre Freunde? Was hatte sie von dem tollen neuen Auto, wenn sie damit nur von zu Hause ins Büro und von dort wieder zurückfuhr? Das hätte sie auch mit dem alten Golf machen können, den sie einer der Praktikantinnen so gut wie geschenkt hatte. Sie sog den unverwechselbaren Duft ein, den nur neue Autos verströmen. Eine Mischung aus jungem Kunststoff, bislang unbetretenem Teppichboden und dem jungfräulichen Leder, mit dem die Sitze bespannt waren. »Wer viel arbeitet, muss sich auch belohnen.« Das war der Lieblingsspruch ihres Vaters gewesen. Und als Alleinverdiener und Oberhaupt der fünfköpfigen Familie hatte er ihn oft bemüht, er hatte sich regelmäßig belohnt. Nach solchen Belohnungen war er meist sehr spät und sehr betrunken nach Hause gekommen. Sonja konnte sich nur allzu gut an den Geruch erinnern, den er dann an sich haften hatte: Er roch nach kaltem Rauch und Alkohol. Wenn er in diesem Zustand ankam, ging man ihm am besten aus dem Weg. Ihre Mutter hatte das nicht immer geschafft. Eine geplatzte Lippe und ein blaues Auge waren nur die für alle sichtbaren Verletzungen, was sie unter ihrer Kleidung, im Sommer manchmal unter langen Ärmeln verbarg, konnte Sonja im Nachhinein nur erahnen. Für sie war ihre Mutter eine tragische Gestalt, eine Frau, die den ganzen Haushalt mit ihm und drei Kindern schmiss, kochte, backte, einweckte, wusch, bügelte, nähte, flickte, Hausaufgaben betreute, Elternabende besuchte, den Garten pflegte, dadurch kein winziges Zipfelchen eigenes Leben hatte und sich trotzdem nie beklagte. Nicht mal über die Prügel, die sie immer wieder einstecken musste. Sonja liebte ihre Mutter, doch dank dieses zugegebenermaßen bedauernswerten Vorbildes war ihr schon sehr früh klar gewesen, dass sie auf gar keinen Fall ein solch kleines, auf Familie und Haus reduziertes Leben führen wollte. Schon als Zehnjährige hatte sie sich erfolgreich geweigert, kochen zu lernen. Damals hatte sie sich geschworen, niemals für einen Mann ihr Leben, ihre Persönlichkeit, ihr Selbstwertgefühl aufzugeben. Dass es in dieser Form sowieso nie dazu kommen würde, davon hatte sie mit zehn noch keine Ahnung gehabt. Natürlich war Sonja damals zu klein, um ihrer Mutter zu helfen, aber schon da war ihr klar, dass solchen Frauen wie ihrer Mutter geholfen werden musste. Und deshalb wusste sie schon mit knapp elf, dass sie Anwältin werden wollte. Bis sie es allerdings zu der erfolgreichen Anwältin im neu duftenden Sportwagen schaffte, hatte sie unzählige schwere Kämpfe mit und gegen ihren Vater ausfechten müssen, der ihre Zukunft in einem Besuch der Hauswirtschaftsschule und baldiger Ehe mit einem gutverdienenden Mann sah. Inklusive natürlich fleißiger Fortpflanzung und Vermehrung. Gegen seinen Willen – und da hatte die Mutter sie zum ersten Mal unterstützt – blieb sie nach der Mittleren Reife auf der Schule und machte ein recht gutes Abitur. Das hatte ihm schon gefallen, er erzählte es schließlich jedem, ob er es wissen wollte oder nicht, dass seine Älteste das Abitur gemacht hatte. Aber dann kam der Bruch: Als sie ihm nämlich eröffnete, dass sie sich für ein Jurastudium eingeschrieben hatte, warf er sie – gerade volljährig geworden – aus dem Haus. Derartige Hirngespinste wollte er nicht unterstützen. Dabei hätte sie nur ein kostenloses Dach über dem Kopf gebraucht, den Rest hätte sie schon allein geschafft. Bei dieser Erinnerung angekommen, entfuhr Sonja ein leiser Seufzer. Fünfzehn Jahre war das nun her, und es tat noch immer weh. Aus der Entfernung gesehen war dieser Sommer damals, der eigentlich so gut angefangen hatte, der beschissenste Sommer ihres gesamten Lebens gewesen. Auch wenn sie am liebsten einfach in ihrem ergonomisch geformten Schalensitz hocken geblieben wäre, wurde es jetzt kühl und vor allem feucht hier drin. Sie raffte sich auf und stieg aus. Wenn ihre Gedanken schon zu ihrem Vater und zu diesem Sommer zurückgeschweift waren, dann würde unweigerlich noch mehr hochkochen. Das wusste sie aus Erfahrung, und das wollte, nein, das musste sie vermeiden. Außerdem wartete Bea drinnen auf sie. Mit ihrem Lächeln, ihrer Wärme würde sie die Gespenster aus der Vergangenheit schnell vertreiben. Sonja warf die Fahrertür zu und strich im Vorbeigehen liebevoll über den nassen Lack des Wagens. Ja, sie hatte dieses Auto verdient! Nicht nur, weil sie viel arbeitete, sondern weil sie die letzten fünfzehn Jahre doch irgendwie heil überlebt hatte. Bevor sie die Haustür öffnete, blieb sie kurz auf der Schwelle stehen und streckte das Gesicht in den Nachthimmel. Die kühlen Tropfen, die ihr auf Stirn, Wangen und Kinn fielen, taten gut. Der Geruch von frisch gekochter Tomatensoße, Knoblauch und Kräutern empfing sie, als sie die Diele betrat. So roch Heimkommen. So roch es, wenn sich jemand auf einen freute, jemand, der für einen gekocht hatte. Ob sich ihr Vater jeden Abend so gefühlt hatte, wenn er nach getaner Arbeit nach Hause gekommen war? Geliebt? Dabei war Sonja keineswegs überzeugt davon, dass ihre Mutter ihren Ehemann geliebt hatte. »Hallo Liebes!« Bea erschien mit einem blaukarierten Küchenhandtuch, mit dem sie ihre Hände abtrocknete, in der Tür zur Küche. Wie immer trug sie ihre mit Farbe bekleckste Latzhose, die irgendwann mal vor Sonjas Zeit weiß gewesen sein musste. Ihre wilde tizianrote Lockenmähne, die sie zu einem lockeren Knoten hochgebunden hatte, war in Auflösung begriffen, schon kringelten sich die ersten dicken Locken über ihren Schultern. Dieses Lächeln, der schiefgelegte Kopf – in diesem Moment hatte sie eine unglaubliche Ähnlichkeit mit … nein, das war Unsinn! Sonja schob den Gedanken schnell beiseite. Bunte Farbkleckse zierten Beas kaum zähmbare Haarpracht und ihre Arme. Ein hellgrüner Tupfer war auf ihrer rechten sommersprossigen Wange gelandet und dort wahrscheinlich schon vor Stunden eingetrocknet. Daraus schloss Sonja, dass sie noch vor Kurzem im Atelier gearbeitete hatte – ihre kleine Malerin, wie sie Bea liebevoll nannte. Dort hatte sie...