Grether | Bravo Bar | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Grether Bravo Bar

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95575-640-6
Verlag: Ventil Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-95575-640-6
Verlag: Ventil Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Bravo Bar« ist die Geschichte von drei Seelenverwandten, die vor unverschämten Herausforderungen stehen. Der schreibende Arztsohn Timo möchte sich der erfolgreichen Straßenrapperin Rachelle Engel zu Füßen werfen. Die allerdings läuft gerade auf wackeligen Beinen durch die Berliner Parks - denn sie kann ihren Brustkrebs im Frühstadium nur noch mit einer Chemotherapie heilen und fühlt sich wie auf einem Drogentrip, der ihre Schutzmauern schwinden lässt. Sie denkt alle Gedanken, die es gibt, und denkt doch gar nichts mehr. Und da ist noch jemand: Wie gut mal wieder für die Menschheit bzw. diese beiden, dass es Greta gibt! Eine Aktivistin, und zufällig beste Freundin von Timo, die mit der magisch guten Laune, die immer einen (Aus-)Weg weiß, auch wenn dieser durch ihre eigenen Begehrenshöhen und -tiefen führt. Zu einem Soundtrack aus Deutschrap erlebt das Trio infernale einen endlosen Sommer, in dem sich die Gefühle rasend überhitzen. Einzige Konstante: die legendäre Bravo Bar in der Berliner Torstraße. Rachelle und Greta verbindet zudem das Geheimnis einer gewaltvollen Nacht vor vielen Jahren in Hamburg ... »Bravo Bar« ist ein Pop-, Gesellschafts-, Gegenwarts-, HipHop- und Episoden-Roman. Jede Figur wird in ihrem eigenen Stil und ihrer eigenen Stimmung erzählt. Ein Rap in vielen Geschmacksrichtungen, der virtuos mit den Zeichen, Zärtlichkeiten und identitätspolitischen Zumutungen der Generationen X bis Z spielt.

Kersty Grether wurde bereits im Teenageralter als Autorin der SPEX berühmt-berüchtigt. 2004 veröffentlicht sie den vielbeachteten Roman »Zuckerbabys«, es folgen Essay-Sammlungen, eine Anthologie über Madonna und der Roman »An einem Tag für rote Schuhe«. Die FAZ nennt sie »die Susan Sontag der deutschen Popkritik«, der Deutschlandfunk beschreibt sie als Gesamtkunstwerk. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sandra betreibt Kersty Grether die Band The Doctorella, beide kuratieren außerdem in Berlin die Konzertreihe »Ich brauche eine Genie« sowie den Salon »Krawalle & Liebe«.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Rachelle Engel – Keine Metastasen, nur Melodien,
Januar 2019


Du nennst mich Capital, doch ich hab tausend Namen.

(Capital Bra)

Ich bin ein streunender Punk, dem Wege entlang,
Richtung unbekanntem Ziel, es ist mehr ein Fluchtgefühl.

(FaulenzA)

Ich finde keinen Frieden, denn ich glaube an die Liebe.

Gefühle überwiegen, die Wahrheit wird zur Lüge. Ich hab Angst.

(Haiyti)

Keine Metastasen, nur Melodien.

(Rap von Rachelle Engel)

Omg, nicht schon wieder diese Nebeldecke! Seitdem Rachelle Engel auf Chemotherapie war, hatte die Sonne nicht einmal ihr träges, goldenes Haupt erhoben, nicht ein einziges Mal! Folge 25 von Nebeldecke, Nebeldecke, wenn ich nur so ein Leben hätte, reimte etwas schon leicht meschugge Gewordenes in ihr, als sie an diesem Januarnachmittag aus ihrer Haustür stolperte. Sie kam aus der Superwärme ihrer Wohnung und trat in eine nassforsche Kälte, die sie sofort frösteln ließ, obwohl Rachelle, von mehreren Laken Thermokleidung umgarnt, mehr einem gut ausgestatteten Astronauten glich als einer jungen, kranken Frau.

Der Himmel am Horizont war so bleich wie ein Krankenhausleintuch. Diese Art von steifer Bettwäsche, die das Gefühl in einem weckte, aus Versehen unter ein Leichentuch gerutscht zu sein. Aber Rachelle war wohlauf. Sie schlenderte in Richtung Park, schwankte dabei allerdings erheblich mit dem Oberkörper hin und her, als suchte sie nach der »New Balance«, die ihren Joggingschuhen den Markennamen gab, seitdem sie Adidas den Laufpass gegeben hatte. Das Gehen fiel ihr schwer, gerade so, als würden die neuesten Drogen aus der BRAVO BAR durch ihre Venen kreiseln. Das wäre überhaupt das Beste: Wenn sie jetzt auf Club-Chemie wäre statt auf Krankenhaus-Chemo. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so wünschte sie sich, dass alle ihre Freundinnen und Freunde im Moment genauso verstrahlt wären wie sie. Sie ertrug den Gedanken nicht, die Einzige zu sein, der etwas Gefährliches eingeflößt wurde. Dabei war es so herum doch wenigstens einmal etwas Neues. Mit ihren Augen suchte sie die Wolkenwand nach einer undichten Stelle ab. Gab es nicht doch irgendwo noch eine Lücke, einen Riss im Deckweiß dieses seltsam leblosen Wintertags? Einen rosa-orange leuchtenden Übergang zu den finsteren Feuern ihrer Welt? Noch vor ein paar Wochen war es um diese Uhrzeit stockfinster gewesen. Aber die dunkelsten Tage hatte Rachelle Engel wahrlich hinter sich gelassen.

Sie dachte, zu ihrer Beruhigung: Es ist fünf nach vier. Es ist der Zwölfte Erste. Der kommt nicht mehr wieder, sponn eine weise Stimme das Rädchen in ihr noch ein bisschen weiter. Pain und Finsternis standen ihr mittlerweile zu nahe, um schon wieder dem Licht der Welt zu vertrauen, das Rachelle hinter den Wolkenbrettern vermutete; ein leiser Seufzer der frühlingsgetönten Natur. Langsam, langsamer, ein Bein vors andere setzen. Die Übelkeit in der Magengegend mitnehmen. Irgendwie kam man doch voran, irgendwann. Noch konnte sich Rachelle Engel, die sich in Zukunft auch als Künstlerin wieder Silvana Lovric nennen wollte, nur im Schneckentempo fortbewegen … Aber später, in wenigen Minuten schon, würde sie fliegen, sie spürte es kommen. Ihre Gedanken konnten Erdbeben auslösen. Die Endorphine, der Sauerstoff, alles, was der Körper an gutem Zeugs ausschüttete, wird sie tanzen lassen, dann.

Rachelle war fest entschlossen, die Welt mit all ihren Sinnen einzunehmen. Sie verspürte eine seltsame Lust auf die Momentaufnahmen des Alltags. War es das, was die Spießer »Achtsamkeit« nannten? Sie hielt sich da an die Devise von Onkelchen Sido: »Genieß dein Leben ständig, du bist länger tot als lebendig.«

Rachelle hatte schon immer ein Faible für die neumodischsten Vollmonde und niedrigschwelligsten Feuerwerke. Sie sah auf einmal wieder so viel Interessantes da draußen, wie in der Zeit, als sie noch an der Kunsthochschule studierte. Plötzlich war sie wieder Malerin. War wieder der Mensch, der das Leben über alles liebte, und genau deshalb war sie dazu übergegangen, ihre gesamte Umgebung in Stücke zu reißen. Allein, um Maß zu nehmen. Ja, da war auch eine Technische Zeichnerin in ihr, eine Ärztin oder Krankenschwester. Eine Superfrau, die am liebsten alle Phänomene der Wirklichkeit berechnet und in mathematische Werte wie in grelle Gemälde übersetzt hätte, während cremig die Farbe am Pinsel zu Boden tropft.

Alles bedeutete ihr etwas, jede Nuance im Wechsel der Jahreszeiten wollte beachtet, später vielleicht ins Smartphone diktiert werden. Wo früher auch mal Null Bock ihr Dasein bestimmt hatte, regierte jetzt wieder so eine spirituelle High Energy, die sie auch dann nicht verließ, wenn sie ermattet in ihrem Bettchen lag. Je gesünder sie wurde, desto kranker fühlte er sich an, ihr Körper. Das war die Quadratur des Kreises – das Paradox der Chemo. Ich möchte abheben, auf ’ner Wolke schweben und mir gleichzeitig selber Ruhe geben, wie in dem verdammt kuscheligen und radikalen Einhorn-Rap-Track von der queeren Rapperin FaulenzA. Seit Neuestem fiel auch Rachelle unter die Kategorie »Einhorn«. Denn nur 2,5 % aller an Brustkrebs erkrankten Frauen waren im Alter von 35 bis 39. Wobei Rachelle ihre Diagnose durchaus schon in der Vergangenheitsform betrachtete: Der Tumor war ja schon wieder weg. Jede andere Definition wäre eine Fehleinschätzung! Ich hatte Krebs, korrigierte sie sich, während sie versuchte, die berühmt-berüchtigte Landsberger Allee heil zu überqueren, die weit über die Stadtgrenzen hinaus traurige Bekanntheit für ihre tödlichen Fahrradunfälle erlangt hatte. Er war rausgeschnitten, mitgenommen, untersucht, vermessen und weggeworfen worden: Vermutlich schimmelte er gerade auf einer Sondermülldeponie vor sich hin. Auf der anderen Straßenseite angekommen blieb sie ruckartig stehen. Sie war jetzt schon ausgelaugt, so verletzt und voller Kummer. Aber Baby, bitte, du musst mir verzeihen, in meinem Kopf warn wieder diese Melodien. Gleichzeitig freute sie sich darüber, dass FaulenzA auf dem Spotify-Mixtape-5 automatisch von Capital Bra abgelöst wurde. Der Bratan hatte seinen Erfolg wirklich verdient, versuchte sie sich mit einem Gedanken über Musik abzulenken. Er hatte sich den Straßenrap geschnappt und daraus dribbelnden Trap gemacht. Capi stand unter den Drogen der Straße, während sie auf Stoff aus der Apotheke hin und her schaukelte. Nur die Bewegung an der frischen Luft half noch gegen dieses Bündel Ödnis in ihr. Sie hatte den Tod wirklich für ein Gerücht gehalten, bis zu ihrer Schockdiagnose, insgeheim gedacht, dass es sie nie treffen wird. Und jetzt mit einem Mal begriffen, dass die Lebenszeit eines jeden Menschen kostbar war, hatte das ausgerechnet in dem Moment erkannt, wo alles in ihr danach strebte, die Tage so schnell wie möglich verstreichen zu lassen. Müdigkeit und Lebensfreude lagen im Clinch miteinander, ebenso Trauer und Hoffnung.

Vielleicht war es noch ein bisschen zu früh, um auf der Straße zu tanzen? Die Windschatten der alten Bäume beschützten sie, aber gleichzeitig fühlte sie sich auch bedroht. Da waren jede Menge schräge, winterkahle Äste, die nach ihr zu greifen schienen, um mit Capital Bra, unterlegt von Arthur Schopenhauer, zu flüstern: »Das Schicksal mischt die Karten, wir spielen.« Rachelle liebte den wintervollen Nadelduft im Park, erst recht, wenn er mit Kälteschauern und eisiger Luft aufgeladen war. Er verströmte eine minzige Note, die sie an Männer-Deos erinnerte und an die Zeit, als Männer noch der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens gewesen waren. Natur-Minze, der Pfeffer des freien Mannes sozusagen. Sie hatte sich kürzlich auch eine Bodybutter mit dem Duft von Minze und Limette gekauft. Wie neuerdings alle ihre Cremes hatte sie das Produkt bei CodeCheck eingegeben, eine App, die Kosmetikprodukte auf bedenkliche Inhaltsstoffe absucht. Und »bedenklich« oder »giftig« bedeutete im Grunde immer »krebserregend«. In der Welt von CodeCheck, in der auch Rachelle jetzt wie ein Engel ihre emotionalen Zelte aufgeschlagen hatte, war fast jede Creme, jedes Deo, jeder Lippenstift und jedes Parfum potentiell »krebserregend.« Es schien fast so, als fänden die Macher all dieser hochgiftigen Produktpaletten den Krebs erregend. Oder warum musste immer überall dieser Scheiß drin sein? Und alles, was nicht hundert Prozent Bio war, konnte man sowieso zu hundert Prozent vergessen. All die großen Marken, die sie in ihren Songtexten so überaus begeistert abgefeiert hatte: einfach nur toxischer Müll!

Baby, sag mir, warum lässt du mich allein? Ich bin laut, geh dir fremd und trinke viel. Aber Baby, bitte, du musst mir verzeihen. In meinem Kopf waren wieder diese Melodien.

Ja, doch, Rachelle hasste die »Vernunft der Besserverdienenden«, und sie hasste Bio immer noch, obwohl sie sich im Moment ausschließlich Bio ernährte. Von dort war es auch nicht mehr...


Kersty Grether wurde bereits im Teenageralter als Autorin der SPEX berühmt-berüchtigt. 2004 veröffentlicht sie den vielbeachteten Roman »Zuckerbabys«, es folgen Essay-Sammlungen, eine Anthologie über Madonna und der Roman »An einem Tag für rote Schuhe«. Die FAZ nennt sie »die Susan Sontag der deutschen Popkritik«, der Deutschlandfunk beschreibt sie als Gesamtkunstwerk. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sandra betreibt Kersty Grether die Band The Doctorella, beide kuratieren außerdem in Berlin die Konzertreihe »Ich brauche eine Genie« sowie den Salon »Krawalle & Liebe«.



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