E-Book, Deutsch, 209 Seiten
Grethlein Mein Jahr mit Achill
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-78207-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Ilias, der Tod und das Leben
E-Book, Deutsch, 209 Seiten
ISBN: 978-3-406-78207-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jonas Grethlein lehrt an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Klassische Philologie. Im Verlag C.H.Beck ist von ihm lieferbar: "Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens" (2017).
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AM STRAND
Die Sonne war weitergewandert und blendete mich. Ich legte das Buch in den warmen Sand, richtete mich auf und griff nach der Sonnenbrille. Ein Stück weit draußen auf dem Meer wendete eine Surferin ihr rotes Longboard und glitt mit ein paar schnellen Armzügen auf eine Welle. Hoch waren die Wellen nicht am Marconi Beach, aber sie brachen gleichmäßig. Die Surferin konnte fast bis zum Strand fahren, bevor sie sich ins Wasser fallen ließ. Unablässig rauschte die Brandung, ansonsten war nur das Schreien der Möwen zu hören. Es war ein Dienstag, die Sommerferien in Massachusetts hatten noch nicht begonnen. Wie angenehm die Wärme am Strand doch war! Die Schwüle in der Stadt war kaum zu ertragen, aber hier wehte eine angenehme Brise. Mein letzter Ausflug nach Cape Cod, ein Abschied vom Meer.
Andere Strände waren näher an Boston, einige sogar mit der Bahn zu erreichen. Aber seitdem ich im vergangenen Sommer einmal die zweieinhalbstündige Autofahrt auf mich genommen hatte, war ich immer wieder hierhergekommen. Schotterstraßen führten durch Pinienwälder, vorbei an kleinen Häusern mit verwilderten Gärten. Nach der Fahrt über die Sagamore Bridge tauchte man ein in üppiges Grün, aus dem Blüten in allen Farben hervorleuchteten. Neben gelben Taglilien und roten Kamelien wuchsen weiße Dahlien und violette Hortensien. Der Duft der Rosen mischte sich mit Salzgeruch, der vom Meer herüberwehte. Dünen liefen in breite Sandstrände aus und erinnerten mich an Dänemarkurlaube meiner Kindheit.
In genau einer Woche würde ich im Flugzeug sitzen; meine zwei Jahre als Postdoktorand im Classics Department von Harvard waren um. Erst vor ein paar Wochen war ich das letzte Mal in Deutschland gewesen, aber nur für zwei Tage, um in Freiburg meinen Habilitationsvortrag zu halten. Einer meiner Mentoren hatte mir danach auf die Schulter geklopft und – das mochte sein Sinn für Humor sein – zur Menschwerdung gratuliert.
Wohlig schob ich meine Füße in den warmen Sand und streckte die Arme aus. Den Tag am Strand hatte ich mir verdient. Mit nur 27 Jahren Privatdozent – das sollte mir in meiner Zunft erst mal einer nachmachen. In Deutschland warteten schon die nächsten Aufgaben: Zurück in Freiburg würde ich eine Forschergruppe einrichten und drei Doktoranden betreuen. Vor allem aber würde ich meine Habilitationsschrift über das Geschichtsbild der Ilias für die Veröffentlichung überarbeiten.
Ich nahm die Flasche und trank einen Schluck Wasser. Ein Stechen im Unterleib – nur kurz, aber so schmerzhaft, dass ich zusammenzuckte. Musste ich schon wieder pinkeln? Ich war doch gerade erst, ja, seit meiner Ankunft am Strand mittags schon dreimal auf die Toilette gegangen. Unwillig stand ich auf und schlüpfte in die Flip-Flops. Vielleicht war das Pensum der letzten zwei Jahre doch zu groß gewesen: das emsige Schreiben an der Habilitationsschrift, für die ich mich jeden Morgen um halb sieben an den Schreibtisch gezwungen, dann die Partys, in die ich mich am Wochenende gestürzt hatte, um am Montag wieder in das Korsett der Arbeitswoche zu schlüpfen. In der Strandtoilette war es dunkel, ich nahm die Sonnenbrille ab. Es roch unangenehm nach Urin, aber Gott sei Dank war ich allein. Ich stellte mich ans Urinal, es kamen nur ein paar Tropfen, die brannten. Ob ich die Reizblase, die ein Urologe während meines Studiums in Göttingen diagnostiziert hatte, jemals loswerden würde? Dafür müsste ich wohl Stress reduzieren, dachte ich, und mir kam der Rilkevers in den Sinn: «Du musst dein Leben ändern.»
Mein Leben sollte sich drastisch ändern, aber anders als gedacht: Acht Wochen später, im August 2005, erfuhr ich, dass in meiner Blase ein Tumor wuchs. Meine Chance, die nächsten zehn Jahre zu überleben, lag laut Statistik bei 17 Prozent. Ich habe die zehn Jahre überlebt und werde in diesem Buch von dem ersten, dem schwersten Jahr erzählen. Dabei wird es vor allem um jenes Epos gehen, das mir half, dieses Jahr durchzustehen.
Während ich meine Habilitationsschrift verfasste, hatte ich mich intensiv mit der Ilias beschäftigt. Etliche Male hatte ich die gut 15.000 Verse im griechischen Original gelesen; einzelne Episoden hatte ich so eingehend analysiert, dass ich sie auswendig konnte. Immer wieder hatte ich zu antiken und modernen Kommentaren gegriffen, um den homerischen Text besser zu verstehen, und ungezählte Bücher und Aufsätze gelesen, um meine eigene Interpretation zu schärfen. Der Krebs aber gab der Ilias für mich eine neue Eindringlichkeit. Zugleich prägte das Epos meinen Blick auf die Krankheit.
Homer scheint weit entfernt von unserer Welt. Der archaische Charakter seiner Dichtung tritt uns bereits in der epischen Formelsprache entgegen – Wortverbindungen, die immer wieder auftauchen und den Ursprung des Epos in mündlicher Dichtung verraten. Nicht nur feste Attribute wie «die rosenfingrige Morgenröte», sondern auch längere, aus Wortblöcken zusammengefügte Beschreibungen erleichterten den Barden vor bald 3000 Jahren ihren Vortrag. Auf uns aber wirken sie befremdlich. Um etwa die Vorbereitungen eines Abendessens in Worte zu kleiden, bedient sich Homer stets der folgenden Verse:
Als aber die Schenkel verbrannt waren und sie von den inneren Teilen gekostet hatten, Zerstückelten sie das andere und spießten es auf Bratspieße Und brieten es sorgsam und zogen alles herunter.
In der Antike schätzte man die Ilias mehr als die Odyssee, das zweite homerische Epos; ein kaiserzeitlicher Rhetoriker vergleicht die Odyssee mit der untergehenden Sonne: Man spüre in ihr noch Homers Größe, aber nicht mehr so stark wie in der Ilias. Heute hingegen ist die Odyssee uns viel näher als die Ilias: Einzelne Abenteuer des Odysseus wie seine Begegnung mit den Sirenen, den Lotosessern und dem einäugigen Zyklopen sind auch denen bekannt, die Homer nie gelesen haben. Mit der Geschichte eines Helden, der in die Fremde aufbricht, zahlreiche Prüfungen besteht und schließlich glücklich heimkehrt, hat Homer der Literaturgeschichte eines der wichtigsten Erzählmuster geliefert. Auch in unseren Alltag hat das Epos Eingang gefunden: Wenn wir von einer «Odyssee» sprechen, erweist sich ein Weg als unerwartet lang und umständlich.
Aber die Ilias, das Epos vom Zorn des Achill, hat sie uns heute überhaupt noch etwas zu sagen? Sie handelt von einem Streit, der im Lager der Griechen vor Troja ausbricht: Seit neun Jahren belagern die Griechen Troja, um die schöne Helena zurückzuholen, die Gattin des Menelaos, die der trojanische Prinz Paris entführt hat. Die Stimmung im griechischen Heer ist ohnehin schon gereizt, da eskaliert unter den Anführern auch noch ein Streit. Agamemnon, der Oberbefehlshaber, muss eine Frau aus seiner Beute zurückgeben, da sie die Tochter eines Apollonpriesters ist; als Entschädigung nimmt er sich eine Frau aus der Beute des Achill, des «Besten der Achaier». Achill fühlt sich in seiner Ehre angegriffen und zieht sich grollend aus dem Kampf zurück. Zeus verspricht Achills Mutter Thetis, er werde ihrem Sohn Ehre verschaffen, indem er die Griechen in Bedrängnis geraten und dadurch ihre Abhängigkeit von Achill spüren lassen werde. Die Verwirklichung dieses Versprechens nimmt drei Viertel der Ilias ein: Auch wenn einzelne Götter, allen voran Athene und Poseidon, die Griechen unterstützen, drängen die Trojaner diese immer weiter zurück. Jedoch auch dann lässt sich Achill nicht durch die Bitten der Griechen erweichen; erst als Hektor, der größte Held der Trojaner, Achills Busenfreund Patroklos tötet, kehrt Achill in die Schlacht zurück. Er wütet wie ein Berserker unter den Trojanern und bringt schließlich Hektor um. Die Griechen bestatten Patroklos, die Trojaner Hektor, und damit endet die Ilias.
Peter Sloterdijk beruft sich zwar auf Achill, um die Austreibung der «thymotischen Energien» – der Kraft aus tiefen Gefühlsaufwallungen – in der Gegenwart zu beklagen, aber sein Plädoyer für den Zorn als ein wichtiges Element der Politik unterstreicht, dass die Ilias weit auf der Schattenseite der gegenwärtigen Interessen liegt. Der archaische Konflikt zwischen Achill und Agamemnon hilft Sloterdijk, die Provokation seiner Thesen zu steigern. Vom unbedingten Ehrstreben der iliadischen Helden sind wir befremdet, von den ganze Bücher füllenden Schlachtbeschreibungen schnell gelangweilt. Während der umherirrende, listenreiche Odysseus sofort unsere Sympathie gewinnt und nicht nur bei Sloterdijk, sondern auch in Max Horkheimers und Theodor W. Adornos...