E-Book, Deutsch, 152 Seiten
Grieser Gut genug statt perfekt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7495-0136-6
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Perfektionismus loslassen - entspannter leben
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-7495-0136-6
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Franz Grieser ist Buchautor, Schreib-Coach und Gestalttherapeut. Er beschreibt sich selbst als 'entspannten Perfektionisten' und weiß aus eigener Erfahrung um die Herausforderungen seiner Leser*innen.
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Einführung
Da du1 dieses Buch gekauft hast, gehe ich davon aus, dass du Schwierigkeiten mit deinem Perfektionismus hast und deshalb etwas verändern willst. Genauer gesagt: Du willst die negativen Seiten ablegen und positive Aspekte behalten (ja, Perfektionismus hat auch positive Seiten).
Was Perfektionismus ist und was daran problematisch ist, werde ich gleich erklären. Zuerst einmal zwei Beispiel für ganz unterschiedliche Seiten von Perfektionismus.
Fallbeispiel 1: der Buchautor, der sich selbst im Weg stand
Dieses Buch ist das 26. Buch, das ich unter meinem Namen veröffentliche. Viele Bücher habe ich geschrieben, weil ich mehr über das Thema wissen wollte; die anderen, weil ich mein Wissen zum Thema weitergeben wollte. Bei einigen meiner Bücher, die ich als Experte geschrieben habe, habe ich das (für Perfektionisten typische) Hochstapler-Phänomen am eigenen Leib erlebt. Ich wollte unbedingt alles, was es zum Thema gibt, ins Buch packen. Ich wollte um alles in der Welt vermeiden, dass auch nur ein einziger Leser mich dafür kritisiert, ich hätte etwas Falsches geschrieben oder etwas Wichtiges übersehen – denn dann wäre ich ja nicht der Experte, sondern einer, der nur so tut.
Als ich die erste Version dieses Buchs vor drei Jahren schrieb, bin ich in diese selbst gestellte Falle getappt. Im Lauf des Schreibprozesses wurde mir klar, welch hohen Anspruch ich an mich selbst habe: „Wenn ich ein Buch über Perfektionismus schreibe, muss ich meinen Perfektionismus zu 100 Prozent überwunden haben. Sonst darf ich das gar nicht schreiben. Wie will ich denn sonst als Autor glaubhaft sein – oder auch als Coach, der Perfektionisten begleitet?“
Über diesen Anspruch bin ich dann tatsächlich gestolpert. Allein schon der Anspruch („zu 100 Prozent“) ist ja typisch für einen Perfektionisten. Und als Perfektionist dürfte ich das Buch ja gar nicht schreiben. Ich wollte es dann erzwingen, das ging aber nicht: Ich habe von Lektion zu Lektion länger gebraucht für das Schreiben – bis ich dann in Lektion 4 stecken blieb.
Nach ein paar Tagen Verschnaufpause habe ich mich für eine neue Vorgehensweise entschieden: „O. k., ich habe offensichtlich noch eine Menge perfektionistischer Züge in mir. Dann probiere ich doch mal die Methoden aus dem Buch von diesem Franz Grieser aus. Mal sehen, ob ich damit lernen kann, besser mit meinem hohen Anspruch und meiner Angst vor Kritik zurechtzukommen. Ob ich damit in der Lage bin, mein Buch ohne diesen Druck gut zu Ende zu schreiben. Mal sehen, was dieser Franz draufhat. ;-)“
Was soll ich sagen: Da du dieses Buch gerade liest, ist es mir offenbar gelungen.
Fallbeispiel 2: die un-perfekte Gastgeberin
Für Katja (die in Wirklichkeit nicht Katja heißt) war nichts im Leben wichtiger, als die perfekte Gastgeberin zu sein. Jedes Mal, wenn sie Freunde oder Verwandte eingeladen hatte, putzte sie vorher stundenlang die gesamte Wohnung, inklusive der Fenster. Nicht selten passierte es, dass sie, während sie dabei war, das Essen vorzubereiten, noch Streifen auf einem Fenster entdeckte und dann das Fenster ein weiteres Mal putzte. Schließlich wurde die Zeit knapp, und sie fing an, in Panik zu geraten. Der Salat war noch nicht fertig, die Nachspeise auch nicht. In der Hektik fielen Gläser auf den Boden, sie schnitt sich in den Finger, und es gingen noch weitere Dinge schief.
Als wir einmal zum Essen eingeladen waren, war der Kastenkuchen gebrochen – geschmeckt hat er trotzdem. Sie entschuldigte sich zigmal. Den Abend über wirkte sie unkonzentriert und reagierte fast schon genervt, wenn man sie ansprach. Tage später gestand sie mir, dass sie den halben Abend über Selbstgespräche geführt und sich dafür niedergemacht hatte, dass alles schiefgelaufen war. Dass sie so eine schlechte Gastgeberin war. Dass der Abend eine komplette Pleite gewesen und sie eine völlige Niete war.
Inzwischen hat sie ein paar Coaching-Stunden genommen. In ihrem Fall reichten die Übungen aus Lektion 2 und 3 vollkommen aus. Da sie vor einer Einladung nicht mehr Stunden mit Putzen und Kochen verbringt, lädt sie jetzt viel öfter Freunde zu sich ein. Sie ist nicht mehr angespannt und kann die Gesellschaft genießen – und es ist ihr seither auch kein Nachtisch mehr misslungen.
Perfektionismus – der Versuch einer Definition
Eine allgemein anerkannte Definition von Perfektionismus gibt es nicht. Es gibt jedoch unterschiedliche Modelle, die Perfektionismus anhand diverser Facetten bzw. Kriterien beschreiben (vgl. Wikipedia; Bonelli 2019). Nach diesen Modellen bezeichnet man eine Person als „Perfektionist“, die mehrere der folgenden Kriterien erfüllt (ich orientiere mich weitgehend am Sechs-Facetten-Modell von Randy O. Frost; siehe Wikipedia, Stichwort „Perfektionismus“ [Psychologie]). Eine Perfektionistin / ein Perfektionist …
- strebt nach Fehlerlosigkeit, versucht also, Fehler um alles in der Welt zu vermeiden;
- setzt für sich selbst extrem hohe Leistungsstandards und stellt strenge Regeln auf;
- bewertet das eigene Verhalten überkritisch;
- legt sehr hohen Wert auf eine positive Bewertung durch andere;
- ist oft unentschlossen und vermeidet Entscheidungen oder Handeln aus Angst, Fehler zu machen;
- richtet das Handeln an der erwarteten Reaktion der Umwelt aus;
- ist organisiert, wobei er / sie eher rigide statt gut organisiert ist (darunter leiden die Betroffenen selten, das stört eher das Umfeld).
Der Perfektionismus bezieht sich meist nur auf einzelne Bereiche des Lebens oder auf Rollen: oft auf den Beruf, auf die Wohnung, die Kochkünste, die Rolle als Mutter und / oder als Hausfrau, auf das Aussehen oder auch auf Fähigkeiten (der perfekte Liebhaber, die perfekte DJane …).
Abbildung 1: Kritische Seiten von Perfektionismus
Wichtig ist mir dabei: Niemand von uns kommt als Perfektionist*in2 auf die Welt, Perfektionist*innen eignen sich diese Verhaltensweise im Lauf ihres Lebens an. In den allermeisten Fällen wird der Grundstein dafür in der Kindheit gelegt.
Und das ist die gute Nachricht. Denn ein erlerntes Verhalten und erlernte Überzeugungen und Muster können wir wieder verlernen und uns neue aneignen. Und genau darum geht es in diesem Kurs. (Warum ich hier „Kurs“ schreibe? Das erfährst du im nächsten Abschnitt „Zu diesem Buch“.)
Warum ist Perfektionismus problematisch?
Es ist nichts verkehrt daran, nach Spitzenleistung zu streben und keine gravierenden Fehler machen zu wollen. Und in einigen Kontexten ist Fehlerfreiheit sogar „Teil der Jobbeschreibung“ – etwa wenn du ein Flugzeug steuerst oder in der Chirurgie arbeitest.
Eins kann ich mit Sicherheit sagen: Es gibt einen klaren Unterschied zwischen Perfektionismus (also dem Streben nach Fehlerfreiheit) und dem Streben nach Spitzenleistung. Perfektionismus ist eine gewaltige Bürde, die dich herunterzieht und belastet, Streben nach Spitzenleistung dagegen gibt dir Energie, bereichert dich und richtet dich auf.
Perfektionismus ist aus diesen Gründen problematisch:
- Du strebst nicht aus eigenem Antrieb nach Exzellenz (Perfektion), sondern aus einem Zwang heraus. Du hast (vermeintlich) keine Wahl, du tust es nicht, weil du es wirklich willst und es genießt, sondern weil du „musst“. Typischerweise, weil du um alles in der Welt Kritik von anderen vermeiden musst.
- Kritik ist für dich gleichbedeutend mit Scheitern und einem Gefühl der Wertlosigkeit. Es gibt nur Erfolg oder Scheitern, nichts dazwischen. Entweder ist es ein voller Erfolg, ohne Abstriche, ohne Fehler, einfach perfekt – oder du bist gescheitert. Und Scheitern beweist dir, dass du nichts wert bist.
- Deine Motivation ist nicht die Freude an dem, was du geschafft oder geschaffen hast, sondern die Angst vor Fehlschlag – und vor Kritik.
- Du neigst außerdem dazu, an andere hohe Standards anzulegen und sie zu kritisieren, wenn sie diesen nicht entsprechen. Du tust dich auch schwer damit, Aufgaben an andere zu delegieren, weil du denkst, dass sie es nicht hinkriegen.
- Weil du Kritik fürchtest (Kritik bedeutet für dich ja, dass du nichts wert bist), vermeidest du es, dich Kritik auszusetzen. Wenn du etwas zu erledigen hast, neigst du dazu, den Beginn hinauszuschieben. Umgekehrt kann es sein, dass du Fristen gewaltig überziehst. Schließlich ist der Artikel, den du schreiben sollst, noch nicht perfekt, die Küche ist nicht perfekt sauber (also kannst du niemand zu dir nach Hause einladen) …
- Du packst Projekte, die dir wirklich wichtig sind, gar nicht erst an. Oder du fängst an, bringst die Projekte aber nicht zu Ende. Denn wenn du sie nicht perfekt machen kannst, dann lieber gar nicht.
- Du führst kein glückliches und erfülltes Leben. Glück ist für dich mit Erfolg verknüpft, und Erfolg gibt es nur, wenn du Perfektes geleistet hast. Da du aber nur höchst selten perfekt bist, ist es schwierig mit dem Glücklichsein.
- Die ständige Angst vor Fehlern und vor dem Ertapptwerden führt dazu, dass du anfälliger bist für Gesundheitsprobleme wie Schlafstörungen, Bluthochdruck, Ess- oder Verdauungsstörungen oder Angstzustände.
Was dich Perfektionismus kosten kann
Perfektionismus hat einen Preis.
Fallbeispiel 3: die Studentin, die unbedingt alles lesen musste
Katharina...