Grimes Fremde Federn
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18923-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 12, 100 Seiten
Reihe: Die Inspektor-Jury-Romane
ISBN: 978-3-641-18923-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die 'Mystery Writers of America' kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum 'Grand Master', und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.
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2
I
Ironischerweise hieß das Mädchen Beatrice. Und ihre Haut war blass und ihr Haar rot. Aber nicht Rossetti-rot, nicht durchscheinend rot wie das Haar der Beata Beatrix an der Wand vor ihr.
Selbst angesichts der unsterblichen Gemälde um sie herum konnten das Mädchen und der Junge ihre sterblichen Hände nicht voneinander lassen. Sie umklammerten und küssten sich ohne Rücksicht auf die Umstehenden, die sie leicht empört anschauten. Sie waren zu sehr ineinander versunken, um auf irgendjemand anderen in der Tate Gallery zu achten, so jung und auf sich selbst bezogen, dass es ihnen völlig gleichgültig war, ein Bild abzugeben, das einen Maler nicht die Bohne gereizt hätte. Purpurrotes Haar und schwarzes Leder (das Mädchen), kurz geschorenes braunes Haar mit einem purpurnen Streifen und schwarzes Leder (der Junge) legten die Vermutung nahe, dass sie Zwillinge waren; doch ihre tastenden Hände legten andere Vermutungen nahe.
Man gewann allerdings nicht den Eindruck, dass sie sich in den Fängen irdischer oder überirdischer Leidenschaften befanden, eigentlich nicht einmal in denen der Fleischeslust. Ihre öffentliche Vorstellung diente allein dem Zweck, der Welt kundzutun, dass sie sich einen Scheißdreck um die Empfindungen anderer scherten, ob diese anderen nun herumspazierten, die wunderbaren Bilder betrachteten oder neben ihnen auf der Bank saßen.
Eine Galeriebesucherin saß beinahe Schulter an Schulter mit dem Mädchen, das gerade seine Zunge in den Mund des Jungen schob und wenig überzeugend stöhnte. Als das Mädchen die Frau rechts hinter sich spürte, deren schwere Schulter an der eigenen, versuchte es die unwillkommene Bürde loszuwerden und rückte abrupt (die Zunge immer noch im Mund des Freundes) ein wenig zur Seite. Die Last aber wurde schwerer, die Frau rutschte langsam weiter den Rücken des Mädchens hinunter, bis das Mädchen sich umdrehte und sagte, sie solle sich verpissen, die blöde Kuh.
Aber die Frau, mittleren Alters, überaus schick und geschmackvoll gekleidet, reagierte nicht. Sie wurde immer schwerer, als suche sie an der Schulter des Mädchens Halt.
»He …!«, fing das Mädchen an und riss sich von dem Jungen los, um zwischen sich und der schlummernden Frau Platz zu schaffen. »Meine Da-me!«, sagte sie mit schneidender Ungeduld.
Aber die Dame antwortete nicht, sondern fiel langsam zur Seite auf die Bank.
»Ach, du Scheiße«, flüsterte das Mädchen und stand auf.
II
Sie hieß Bea und er Gabe, und im Gegensatz zu den Wärtern in der Tate Gallery entging Richard Jury die Ironie nicht.
Keine Sekunde hatte das Mädchen aufgehört, Kaugummi zu kauen. Ihr rotes Haar war zu Stacheln hochtoupiert; der schwarze Lederrock bedeckte knapp ihr Hinterteil. Wenn überhaupt, war sie die Underground-Version von Dante Gabriel Rossettis Beatrice.
Im Moment besorgte der Junge, Gabe, das Reden, obwohl Bea seine kehligen Laute mit ihren nicht weniger kehligen fleißig unterbrach. »Woher sollten wir das schnallen? Konnte ja voll blau sein, ey.«
»Oder an der Nadel«, sagte Gabe, ganz der Welterfahrene.
Richard Jury sah, dass es jenseits der Vorstellungskraft dieser beiden lag, dass ein Lebenslicht auch aus anderen Gründen verlöschen konnte. Tot, breit, high – es kam, wie’s kam.
Die tote Frau war auf einer Bahre über den glänzenden Boden weggerollt worden. Inspektor Marks von der Londoner Kripo hatte ihren Abtransport überwacht und unterhielt sich jetzt (sichtlich erleichtert) mit Scotland Yard, Mordkommission, in Gestalt von Superintendent Jury. Jury war vor Marks in dem Raum gewesen und hatte mit Hilfe der Wärter die Leute – ungefähr ein Dutzend – davon abgehalten, fortzugehen.
Er war zufällig in der Tate gewesen, um die »Swagger«-Ausstellung mit den protzigen Bildern der feinen Gesellschaft zu sehen, bevor sie zu Ende ging. Er hielt sich für unterbelichtet, was die bildenden Künste anging, und dachte, ein bisschen Nachhilfe über die Unterschiede zwischen Reynolds und Gainsborough könnte ihm nicht schaden. Von allen Gemäldegalerien in London gefiel Jury die Tate am besten. Und Bea und Gabe hatten ihre schreckliche Entdeckung in seinem Lieblingsraum gemacht, dort, wo er sich gerade befand. Rossetti, Burne-Jones, William Holman Hunt, Millais’ Ophelia – er fand sie alle unbeschreiblich romantisch. Der Junge und das Mädchen hatten vor dem Rossetti-Gemälde am einen Ende der Bank gesessen, die Frau im rechten Winkel dazu vor dem berühmten Bildnis Chattertons.
»Mrs. Frances Hamilton«, sagte Inspektor Marks und schaute in seine Notizen. »Warminster Road, Belgravia. Ausweisen konnte sie sich wahrhaftig – sechs Kreditkarten, Scheckhefte. Aber kein Führerschein.«
Warum kam ihm die Adresse bekannt vor? Jury runzelte die Stirn, wusste aber nicht, wo er sie einordnen sollte. Er hatte sich abseits gehalten, als die Kripo und der Gerichtsmediziner Fotos machten und an der Leiche von Frances Hamilton herumfingerten. Der Arzt vermutete einen Schlaganfall, aber sicher war er nicht. Die verstorbene Mrs. Hamilton sei fortgeschrittenen Alters, aber kaum älter als sechzig, bei guter Gesundheit. Vor einer genaueren Untersuchung könne er ihnen mehr nicht sagen.
»Hat einer von denen gesehen, wie es passiert ist?« Jury deutete mit dem Kopf in Richtung des nervösen Grüppchens Galeriebesucher in einer Ecke des Raumes. Sie wurden von Marks’ Männern befragt.
»Nein. Nur die beiden Jugendlichen. Und gesehen haben die auch erst dann etwas, als sie neben ihnen zusammengesunken ist. Witzig mit den Blagen, da tun sie immer so, als könnte ihnen keiner mehr was vormachen und nichts könnte sie erschüttern. Aber wenn dann wirklich mal jemand abkratzt oder ein Notfall eintritt, gucken sie dumm aus der Wäsche.«
III
Thomas Chatterton, die Haut wie blaues Eis, lag auf dem schmalen Bett, der Arm hing elegant über die Kante, die Finger berührten fast den Boden, als wolle er die Fetzen der Manuskriptseiten, die – auf dem Bild – aussahen wie verstreutes Konfetti, von den blanken Dielen wieder einsammeln. Die Blätter hatte der Dichter zerrissen, bevor er den tödlichen Trank nahm.
Der herrliche Knabe. Hatte ihn nicht jemand einmal so genannt, überlegte Jury. Er saß auf derselben Bank an ungefähr derselben Stelle, wo die Frau vor kaum mehr als zwei Stunden gesessen hatte.
Jury war immer der Meinung gewesen, dass Chatterton ein Leben geführt hatte, wie man es sich trauriger nicht vorstellen konnte. Die siebzehnjährigen Jugendlichen, denen Jury begegnete, waren entweder auf Heroin, klauten Autos oder zockten die Kreditkarten ihrer Eltern ab. Je nachdem, in welchem Stadtteil Londons er gerade zu tun hatte.
Mit siebzehn hatte Thomas Chatterton die literarische Welt mit einem Gedichtzyklus in Erstaunen versetzt. Nach Jurys Überzeugung hatte sich niemand wirklich dafür interessiert, dass die Rowley-Gedichte eine Fälschung waren. Außer Horace Walpole. Der war zu seiner Schande – offenbar zu seiner ewigen Schande – darauf hereingefallen. Verzweiflung und Tod im Alter von siebzehn. Jury schüttelte den Kopf. Ein Leben ohne sichtbaren Erfolg, ohne Geld, ohne ausreichend zu essen und dann von seinem Wohltäter verraten. Chatterton hatte sich nicht einmal literarischen Diebstahl zu Schulden kommen lassen; er hatte alles selbst inszeniert, sich die ganze Sache ausgedacht. Womit hatte er ein solches Ende verdient?
Jury wunderte sich, warum ausgerechnet er über die Ungerechtigkeit des Lebens nachdachte. Er betrachtete die junge Frau auf dem Gemälde von Holman Hunt, die sich von den Knien eines Liebhabers erhob, der sie garantiert verlassen würde. Jury mochte vor allem die Inschrift, die Hunt auf den Rahmen gemalt hatte: »Wer aber ein Gewand in der Kälte raubet, gleicht dem, der einem schweren Herzen Lieder singet.«
Er ging an dem Rossetti vorbei, dem Burne-Jones, Millais’ Ophelia, dem dreiteiligen Bild des unseligen Endes einer treulosen Gattin, und an dem Gemälde, von dem er einen Druck in der Hand hielt: Eine Ehefrau und eine Mutter trauerten um einen Seemann, der auf hoher See ertrunken war. Ein Morgen ohne Hoffnung: Jeder nur vorstellbare Grauton ergoss sich über dieses Bild – das Morgenlicht am Fenster, dahinter die Wellen, der Zinnständer mit der abgebrannten Kerze, die Schatten, die Kleider. Aus der Welt der Frauen war alle Farbe gewichen.
Er kehrte zu der Stelle zurück, an der er seinen Gang durch die Tate begonnen hatte, und setzte sich wieder auf die Bank. Der Tod Chattertons war wohl doch sein Lieblingsbild. Eine Leinwand des Leides.
Er hatte seit zwei Wochen Urlaub, war in Leeds gewesen und hatte sich entschieden: Nein, die endgültige Versetzung nach Bradford würde er doch nicht aushalten. Seine nächste Station würde Stratford-upon-Avon sein und danach Northampton. Er war sich ziemlich sicher, dass Superintendent Pratt ihn mit offenen Armen empfangen würde, die Mordkommissionen in der Provinz waren immer überlastet. Desgleichen Sammy Lasko bei der Polizei in Warwickshire, das wusste er. Aber wenn er ehrlich darüber nachdachte, mit wem er zusammenarbeiten konnte und wollte, lag der reizbare, arrogante, sture Macalvie an allererster Stelle. Auf der Bank in der Tate ließ Jury das Telefongespräch noch einmal an sich vorüberziehen.
»Exeter? Devon-Cornwall? Mit mir wollen Sie zusammenarbeiten?«
»Dreimal richtig geraten. Ein Rekord, sogar für Sie, Macalvie.«
»Ich weiß nicht, Jury. Ich weiß nicht, ob Sie reinpassen. Außer mir merkt hier sowieso keiner, ob jemand beim Sex erstickt ist oder erdrosselt wurde. Wie bitte?«
Die...