E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Grond Der gelbe Diwan
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-7099-7521-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-7099-7521-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was hält den pathologischen Horizont unserer Gegenwart zusammen? Wieso funktioniert unsere Gesellschaft anscheinend so reibungslos, obwohl ihre Basis längst weggebrochen ist?
Walter Grond stellt keine geringere Frage als die, wie unsere Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts funktioniert - und führt statt einer einfachen Antwort tief hinein in den Großstadtdschungel zwischen Orient und Okzident, wo Menschen und Kulturen sich begegnen und verlieren, wo Ideen und Identitäten, Geschichten und Erinnerungen aufblitzen und verglühen, wo alles verbunden ist und doch jedes Leben für sich steht: Der Journalist Paul Clement bereitet sich auf eine Reise vor, die ihn auf den Spuren Gustave Flauberts durch Ägypten führen soll, als er vom Selbstmord seines ehemaligen Freundes Johan erfährt. Die Reise zu seinem Begräbnis wird zu einer Reise zurück in seine Bohèmejahre, in eine Zeit, in der alles möglich und alles erklärbar erschien, in der man genau wusste, wofür und wogegen man kämpfte ...
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
5
Während des Fluges nach Paris, unterwegs zu Johans Begräbnis, irgendwo über den französischen Alpen, spürt Paul Clement die unsägliche Kälte, die den Freund erfasst haben musste, um seine eigenen Fersen, spürt, wie sie langsam die Beine hochkriecht, wie sich ein Gürtel um die Brust, dann um den Hals schnürt. Wendet er sich zum Fenster, blendet ihn die Sonne, und schiebt sich eine silbrige Wolke dazwischen, überblickt er eine zerklüftete Berglandschaft, spitze schroffe Felsen, Schnee und Eis. Panisch umklammern seine Hände das Knie, er schließt die Augen und atmet tief durch, er kennt diese pure Angst, kennt sie von damals, an Johans Seite, wenn sein Herz raste, und er, ohne dass jemand etwas ahnte, zu sterben fürchtete, mitten im Trubel. Dann, im Zug von Paris nach Nantes, weicht die Panik einem nicht unangenehmen Dämmerzustand. Wie von außerhalb blickt er auf sich selbst, in eine vergangene Zeit, sieht einen Kerl, der seine Jugend überlebt hat, schaut auf die Kühe dort draußen, Schweine und Ziegen, die auf den flachen Winterweiden stehen, und meint sich zugleich mit Johan im Abteil, beobachtet, wie sie einst beide, an Angers und Ancenis vorbei, durch das Abteilfenster die Loire-Atlantique erspähten. Was er damals als Zeichen nahenden Glücks deutete, stimmt ihn jetzt schwermütig: die überdachten Unterstände, das Vieh im Freien, die Flecken unangetasteten Moors, das Schilf, die Salzlacken, diese kultivierte und zugleich wilde Landschaft. Später, in Nantes, wo er auf den Bus nach Saint-Marc-sur-Mer wartet, lässt er sich im Lärm eines Cafés treiben. Beobachtet die Serviererin in ihrem kurzen Rock, nicht unhübsch, umworben von männlichem Jammer, wird sie nach Sperrstunde allein nach Hause gehen, einsam und umso selbständiger. Im Schutz des Flüchtigen lässt sich das Mittelmäßige als gut denken, das Leben verklären, wird das Mittelmäßige zum Gespinst eines Reisenden. Lässt sich jene betörende Kurzweile empfinden, die Johan dazu verführt haben mochte, dies alles hier für ein besseres Leben zu halten, nur weil es sich vor einem anderen Hintergrundgeräusch abspielt. Auch er stieg in Nantes aus dem Zug, jedes Mal, wenn er sich ans Ende Europas aufmachte, saß zuletzt vielleicht in diesem Café, und vielleicht trug die junge Serviererin dieselben hautfarbenen Strümpfe. Von dieser Stadt des Jules Verne ist es nicht mehr weit bis zum Meer, wie Johan so begeistert zu erzählen verstand. Indes musste längst aller Glanz aus seinen Augen gewichen, der Bohemien am utopischen Geist verzweifelt gewesen sein, wehrlos der Unverfrorenheit gelauscht haben, mit der die Nachfahren der Sklavenhändler von Nantes auch heute noch das Grand Siècle des Negerhandels feiern, das der Stadt einst den Reichtum bescherte. Sich auf seinem Traumpfad eingestanden haben, dass in diesem Hafen hundert Jahre lang, bis ins Jahr 1794, Schiffe aus Westafrika Station gemacht hatten, um das Ebenholz, wie man die lebende Ladung nannte, Kinder und Frauen und Männer, für die Überfahrt nach Amerika aufzupäppeln, und dass man im Jahrhundert der Aufklärung und der Französischen Revolution, als dessen leidenschaftlichen Nachfahren sich Johan begriff, nicht einmal die Luken der ankernden Dreimaster dichtmachen musste, ja das Jammern und Flehen der Sklaven niemanden aufbrachte, sondern sogar zum Ruhm der Negerhändler beitrug. Freilich wird das historische Unrecht Johan nicht in den Selbstmord getrieben haben. Aber so wie Nantes einmal die Bühne für seine kühnsten Träume gewesen war, musste diese Stadt für ihn auf dem Weg zur gekachelten Scheune, in der er die ganze Welt auslöschen würde, der für ihn hoffnungsloseste Ort des Abschieds gewesen sein. Den Aschenbecher kippt die Serviererin in den Mülleimer, hält den Deckel mit dem Knie hoch, dreht den Lappen flink gegen den Uhrzeigersinn. Die Fernsehnachrichten wird Clement zwei Stunden später noch einmal in der Rezeption des Dorfhotels hören. Der Bus, der ihn nach Saint-Marc-sur-Mer bringt, durchsticht schon die Dunkelheit, aber, endlich dort angekommen, wird sich Clement fragen, ob er gerade den Windfang des Cafés in Nantes verlässt und sich die Fahrt ans Meer vorstellt, oder, schon hier im Hotel, in Gedanken seiner Melancholie im Café nachhängt. Etwas Orientierungsloses ist an der Idee vom Tod. Clement muss in den Bus gestiegen sein, und der wird sich aus Nantes hinausbewegt haben, denn als er kurz vor der Hafenstadt Saint-Nazaire aus dem Moorland an die Stelle gelangt, wo der Kontinent in den Atlantik abbricht, erfasst Paul Clement wie einst der Zauber des Herumirrens. Saint-Nazaire, eine Stadt mit atlantischen Häuschen, gepfählt von den Kränen im Hafen, niedergedrückt von den deutschen Bunkern, die seit Kriegsende als Werfthallen dienen und nun im Scheinwerferlicht prächtig wirken, kontrastiert von einer Brücke, die draußen die Bucht überragt, ebenso hell, von einer olympischen Himmelsleiter. Nicht überall ist die Küste steil, aber überall karg, umbrandet, wie es gewöhnlich nur Inseln sind. Kaum einen Fleck auf der Landzunge gibt es, der nicht mit schmucklosen Einfamilienhäusern, Einkaufszentren und Wohnsilos verbaut ist. In Clements Vorstellung war Saint-Marc-sur-Mer zyklopischer, stilvolle Landhäuser säumten die Dorfstraße, auch prächtige Villen, Ferienhäuser, dann fiel das Land zum Meer hin ab, in zwei Serpentinen ging es hinunter bis zum Dorfplatz, einem Busbahnhof eigentlich. Von hier waren es noch hundert Schritte bis zum Strand, standen alte Häuser dicht aneinandergedrängt, eine Apotheke, eine Boutique, eine Boucherie, drei Hotels. Während Clement in der Vergangenheit schwelgt, reiht sich der Bus in einen Kreisverkehr ein, rund um einen künstlichen Teich. Im Wasserbecken drängen sich Schwärme von Möwen, wuchernde Appartementanlagen sieht er nun, die Fensterläden fast alle geschlossen. Dieser Schritt auf dem Kiesel, dieser Mann, dem der Wind den Mantel zu Flügeln aufbläht, dieser Koffer, in dem viel zu viele Sachen stecken, diese Verlorenheit, durchdrungen vom salzigen Geruch des Windes. Clement hört die Schritte des Verstorbenen neben sich, ein sägendes Knirschen, das nach Sühne schreit, doch auch dafür, muss er sich sagen, ist es zu spät. Als er das Hôtel de la Plage betritt, schlägt ihm mit der feuchtwarmen Luft ein Vexierbild entgegen. Dort drüben hat er den Fernseher in Erinnerung, auf einem schmucklosen Tischchen, gegenüber dem Sofa, alles wirkte so vorläufig damals, die Abendnachrichten, das leise Gemurmel, die Bilder an der Wand, ohne ersichtliche Ordnung gehängt. Die Bodenvase war leer, und durch die Glastür, die zur Strandveranda führte, fiel der Blick auf das Meer, erst allmählich wurde man sich dessen bewusst. Nun sind die alten Holztäfelungen verschwunden, hat sich das Schummrige in eine helle Halle verwandelt, wird man von Neonlicht empfangen, von pastellfarbenen Stofftapeten, gekachelten Böden, Zentralheizungskörpern unter den Fenstern, nur die gerahmten Schwarz-weiß-Fotos an den Wänden halten einen Hauch von früher fest. Junge Leute mit derben Gesichtern, Hotelangestellte, beobachten den Mann in der Rezeption, den Clement sofort als den alten Maître wiedererkennt. Wie die zwei weißen Porzellanlöwen, die ihn flankieren, wirkt er ganz und gar fehl am Platz, und hält sich, nicht anders als damals, keinesfalls mit Höflichkeiten auf, erklärt, eine Dame wünsche Monsieur Clement in ihrem Zimmer zu sprechen. Deren Name huscht so entstellt über seine Lippen, dass Clement mehrmals nachfragen muss, und doch weiß er, dass es sich nur um Rafaela handeln kann. Der Maître hat Clement, den jungen Mann in Johans Gefolge, nicht vergessen, und präsentiert ihm also das kostbare Wesen, das Johan einst in Besitz nahm, jene Frau, die den Schriftsteller liebte, geduldig jede seiner Eskapaden ertrug. Von Besuchern, die er abwies, erzählt der Maître, der für Johans Begräbnis noch einmal seine Livree anlegte, die Zimmer sind alle belegt, erklärt pathetisch, „Monsieur Johan war ein amüsanter Herr, wir haben ihn am Ende sehr bedauert“. Im Übrigen hält er das Restaurant heute Abend geschlossen, verwies die Reporterbande, wie er die übrigen Gäste nennt, in ein Lokal nebenan, bringt aber gern, wenn Clement es wünscht, eine Flasche Wein auf das Zimmer. Wenig später hört Clement das leise „Grüß dich, Paul“, tritt nach so vielen Jahren Rafaela gegenüber, sie hält ihm die Wange zum Kuss hin, bittet ihn freundlich ins Zimmer. Nur wenig jünger als Johan, hat die Zeit kaum Spuren an ihr hinterlassen, sie sieht jung aus, eigentlich alterslos, wie damals, als ihre tänzelnden Bewegungen ein wenig überkommen anmuteten, so wie sie jetzt um einen Deut zu jugendlich wirken. Nun tritt ihr toskanischer Großvater noch deutlicher aus ihrem Gesicht hervor, dessen große dunkle Augen, die gerade Nase, das schwarze Haar, das sie schulterlang trägt, über den Augenbrauen gerade geschnitten. Mit sanfter...