Grond Old Danube House
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7099-7363-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-7099-7363-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wien, Moskau und Sarajevo sind die Schauplätze dieses Romans, in dem es u.a. um die Frage geht, was für die meisten Menschen heute das eigentlich Fremde ist: die Zuwanderer aus anderen Kulturen, die technikbesessenen jungen Leute und ihre Rituale, die verdrängte Vergangenheit oder die ungewisse Zukunft. Der Quantenphysiker Johan Nichol gerät durch die über das Internet verbreitete Nachricht vom Selbstmord des bosnischen Physikers Nicola Sahli in eine existenzielle Krise. Der geheimnisvolle Kollege wird zur Schlüsselfigur bei der Suche nach Sinn und Mut im Beruf wie im Privatleben. Er fährt nach Sarajevo und findet jenes Old Danube House, wo Sahlis Vater mit Adoptivkindern verschiedener Nationalitäten ein multikulturelles Experiment verfolgt hatte ...
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ICH FÜHLE MICH
Geistesabwesend suchte Johan Nichol nach seinem Wohnungsschlüssel, darum fiel ihm die Maus zuerst gar nicht auf: Ihre Überreste, der Kopf und der Schwanz, lagen auf dem Fußabstreifer vor der Tür. Marina lehnte an der Wand und umfaßte mit beiden Händen den Saum ihres Webpelzmantels. Sie rieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger; der Mantel war aufgeknöpft. Ihr Gesicht war weich, und ihre Zunge befeuchtete die Lippen. Die kurzen Haare ließen sie noch jünger aussehen. Der spitzbübische Schnitt, mit dem sie ihn in der Ankunftshalle überrascht hatte, ließ die Ohren frei, die dunklen Brauen betonten ihre Augen. Marina war schön, sie regte ihn auf. Ihre Hand griff an den Mund, sie biß sich in die Unterlippe. Am Tragegriff von Nichols Koffer hingen noch die Schleifen des Moskauer Flughafens. Endlich fand er den Schlüssel, sperrte die Tür auf, bückte sich und wickelte den Mauskadaver in ein Taschentuch. „Katzenliebe“, sagte Nichol, nicht ohne bitteren Ton. „Mach schnell, Chéri.“ Die Katze der Nachbarin nervte ihn. Er schaute ihr nicht in die Augen, aber das Vieh verstand seine Reserviertheit falsch und schmiegte sich gern schnurrend an ihn. Von Zeit zu Zeit jagte sie im Hinterhof und legte ihm dann Mäuse vor die Tür. Angewidert schmiß er jetzt die Überreste der Maus in den Müllschlucker. Beim Zurückgehen streifte er am Pelzmantel, Marina zog ihn an sich und küßte ihn auf die Schläfe, das Haar, das schon grau war. In der Schlafzimmertür drückte Marina die Fingernägel in seinen Rücken, und er fühlte sich stark, und sie war laut und wild. Dann lag Nichol schwitzend auf dem Futon und blickte sich um, als hätte er dieses Zimmer gerade erst erobert. Das Bett, auf dem er lag, stand diagonal gegenüber der Tür, umgeben von blauen Tapeten. Alles war ausgeklügelt, nach Feng-Shui-Regeln geordnet, der Spiegel mit Brokatstoff verhangen. Hatte er sich nicht gerade mit einem Gespenst vermählt, seine Poren zum Atmen und seine Öffnungen zum Auseinanderklaffen gebracht? Es hatte sich vor Lust gewunden, außer sich. Er lag neben Marina, die seit sieben Jahren seine Frau war, und dachte an Katharina, die er vor fünfundzwanzig Jahren geliebt und nun in Moskau wiedergesehen hatte. Vielleicht nippte auch die Russin gerade an einem Wasserglas, aus der verbotenen Zone zurückgekehrt wie er. Er stellte das Glas auf das Nachttischchen zurück, Müdigkeit überkam ihn. Eine kriegerische Energie hatte ihn getrieben, er war bei Marina, vielleicht bei Katharina gewesen und hatte in einer Art Raserei die Verstörung niedergerungen. Marina saß am Fußende des Bettes, auf dem er sich streckte und sich umblickte, satt und leer. In der Fensteröffnung baumelte eine Kristallkugel, die Nachttischlampen spendeten weiches Licht. Marina litt an chronischen Rückenschmerzen. Für das Verharren der Qi-Energie, wie sie das nannte, unternahm sie alles. Die Wohnung war von einer befreundeten Innenarchitektin nach den Regeln chinesischer Meister und doch wie ein New Yorker Loft entworfen, kühl und hell, mit Anklängen von Ethno- wie von Industriedesign, elegant durch die Verwendung teurer Materialien. Nichol bewegte sich in diesen Räumen, wenn nicht wie ein Fremder, dann wie ein Gast. Ein Fluß der Zufriedenheit durchströmte jetzt seinen Körper, ein warmer Strahl, der nicht über die Haut rinnt, sondern inwendig die Organe umspült. Die Beine angewinkelt, vergrub Marina ihren Kopf im Schoß. „Es war schön. Wie am Anfang“, sagte er. Sie antwortete nicht. „Es war schön. Du bist so offen gewesen.“ „Ich habe mich schrecklich gefühlt“, sagte Marina, „ich fühle mich so hurenhaft.“ „Erinnerst du dich an unsere Flitterwochen?“ „Hurenhaft fühle ich mich.“ Sie hob den Kopf und blickte ihn an. „Du weinst ja.“ „Nein.“ Tränen waren da keine – mochte er sich auch welche gewünscht haben. Marina tätschelte seine Hand, ihr Blick aber war kalt. Vor sieben Jahren hatte er sie in Marina San Giusto, dem Yachthafen von Triest, kennengelernt. Der heiße Augusttag hatte die sandsteinernen Paläste noch träger in die Bucht plaziert, und oben am Hügel flimmerten die Zypressen in der dunstigen Luft. Er mühte sich mit einem Bootshaken ab, versuchte, seinen Katamaran vom Steg loszubinden. Ein Fender klemmte am Poller, an dem das Boot verknotet war, Nichol stöhnte und fluchte. Am äußersten Ende des Kais saß eine dunkle Frau auf einem schweren Tau; sie hatte langes, schwarzes Haar, spielte mit dem Kettchen an ihrem Knöchel, die Sonnenbrille im Haar, und ihre Augen ließen ihn nicht los. Sie kam zu ihm herüber und half, das Boot loszubinden. Dann saßen sie an Deck, die Beine baumelten im Wasser. „Woran denkst du?“ sagte Marina. „An Marina San Giusto und an das Boot.“ „Ich sagte, ich heiße Marina, und du hast mich nicht Hafen und nicht Nixe und nicht Welle genannt. Das machte dich unwiderstehlich, weißt du?“ „Ich seh die verblüfften Gesichter deiner Studienfreunde noch vor mir. Die frischgebackene Doktorin der Kunstgeschichte macht sich mit einem graumelierten Mann in die Ägäis davon.“ „Mit einem Physiker, noch schlimmer.“ Sie lachten beide. „Es war unglaublich.“ Es war wirklich unglaublich, sagte sich Nichol. Berauscht waren sie am Strand gelegen. Der Sand hatte ihre Poren verklebt, und sie kletterten zwischen die Klippen, bis zu einer Mulde, die man nicht einsehen konnte. Seine Knie waren zerschunden, ihre Handballen aufgerissen, und einen Sprung entfernt planschten Mütter und Kinder im Wasser. „Ich fühle mich so hurenhaft.“ Er schwieg. „Ich nehme ein Bad.“ Marina schlüpfte in den Morgenmantel und ging hinaus. Er verlor sich in seinen Gedanken an Moskau, an den Nanotechnik-Kongreß, an das Wiedersehen mit Katharina. Er sah sich durch Moskau fahren, durch die Stadt, die für ihn das Fremde, das Böse schlechthin verkörpert hatte. Sah die Russin, die er vor fünfundzwanzig Jahren geliebt hatte, und die ihm, dem jungen Studenten und ehemaligen Klosterschüler, wie eine süße Botin des Bösen erschienen war. Gefährlich und sündig, animalisch, er dachte daran, wie verführerisch sie ihm erschienen war, und schlummerte ein. Er stand vor dem Hotel Ukraina, der Morgen war sonnig und bitter kalt wie vor wenigen Tagen. Er traf am Fuß der Freitreppe auf Katharina, sie reichte ihm die Hand, und er schaute ihr nicht in die Augen. Katharina Tschodorowa trug einen schweren Mantel, darunter schwarze Jeans, ihren Wollschal hatte sie wie ein Tuch über den Kopf gezogen. Blond gefärbte Strähnen fielen in ihre Stirn, ihre Haut war sehr weiß. „Damals wolltest du Moskau nicht besuchen“, sagte sie, „aber ich zeig dir gern ein Stück davon. Eine zerbrochene Scherbe, sagt man?“ Der städtische Bus 616, in den sie stiegen, war ein älteres Modell, hart gefedert, mit automatischen Türen, kunstlederbespannten Sitzbänken, gepflegt. Es war so still hier, und lauter blasse, weiße Menschen nahmen schweigsam Platz und schwiegen auch während der Fahrt. Er schaute zum Fenster hinaus und schlug verschämt den Pelzmantel zu, verdeckte den Kragen seines teuren Pullis aus Kaschmirwolle. Ein säuerlicher Geruch lag in der Luft. Dann rutschte Katharinas Handtasche auf den Boden, sie bückten sich beide, ihr Gesicht war dem seinen ganz nahe. Abrupt richtete sich Katharina wieder auf und deutete auf die Erlöserkirche, an der sie gerade vorbeifuhren. „Die russische Seele“, sagte sie spöttisch, „Stalin hat die größte Kathedrale Rußlands schleifen und durch ein Schwimmbad ersetzen lassen. Das war seine erste Großtat und serr wichtig für ihn. Jetzt hat man sie in drei Jahren wiederaufgebaut, das ist die erste Großtat der orthodoxen Kirche und serr wichtig für den Patriarchen. Da scheut man keine Kosten. Der Patriarch wird die Erlöserkirche um Mitternacht zur Jahrtausendwende einweihen.“ „Wie künstlich das alles wirkt.“ Löschen und Ersetzen, digitale Codes, technische Landschaften, die Herrschaft der Vorstellungen, gingen es Nichol durch den Kopf. Müßte nicht Marcel Hofer, sein Lieblingsstudent, Linux-Hacker und Cyberwelt-Bewohner, davon begeistert sein? Hier schien es keine Eigentumsrechte zu geben, keinen Widerstand gegen die Entscheidung, eine ganze Stadt umzugestalten. Wie mit revolutionärer Geste aus einer Kathedrale ein Schwimmbad gemacht worden war, wurde jetzt aus dem Schwimmbad eine...