Grond | Vom neuen Erzählen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Grond Vom neuen Erzählen

Gipfelstürmer und Flachlandgeher
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7099-7364-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Gipfelstürmer und Flachlandgeher

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7364-6
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Walter Grond knüpft im vorliegenden Essayband an seine in "Der Erzähler und der Cyberspace" dargelegten Thesen an, denenzufolge der Gebrauch der digitalen Informationsnetze nicht unbedingt einen Kulturverlust bedeutet, sondern vielmehr auch eine Zerstörung bestehender Hierarchien und damit einen Gewinn an Freiheit beinhalten könnte.

Jetzt geht der Autor zusammen mit mehreren Gesprächspartnern diesen Überlegungen weiter nach: Auch in der Art der Diskursführung trägt Grond der Komplexität des Netzes Rechnung.

In den Gesprächen und E-Mail-Dialogen wird vernetzt gedacht, die Eindimensionalität des seine Gedanken Mitteilenden wird aufgebrochen. Dabei ist die Bandbreite der angeschnittenen Themen beachtlich und reicht von einer Diskussion zur Mythenbildung um Thomas Bernhard über mentalitätsphilosophische Debatten bis zum Konnex zwischen Naturwissenschaft und Literatur.

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Kulturelles Gedächtnis und Evolution
Im Forschungsbericht, dem sechzehnten von 22 Bänden seiner Geschichte der Empfindlichkeit, läßt Hubert Fichte den Schriftsteller Jäcki und die Fotografin Irma nach Dangriga/Belize in die Karibik reisen. Dabei stenografiert er, wie Fichte bemerkt, stur den Tageslauf zweier Ethnologen vom 4. bis 14. Februar 1980, muß aber am Ende feststellen, daß die europäischen Versuche, engagiert auf die Herausforderung durch das Elend in der Dritten Welt zu reagieren, allesamt gescheitert seien. Fichtes Diagnose betrifft nicht nur das politische Engagement, sondern auch die wissenschaftliche Forschung und damit seinen eigenen Erkenntnisanspruch. Sein Protagonist hatte als schlichter Reporter in der Nachfolge Herodots die Verhältnisse schildern wollen und bezeichnet nun resigniert Herodot, den ersten abendländischen Historiker, als den ersten Romancier. Herodot habe geschrieben, wie er sich Ägypten vorstellte und wie die Ägypter ihm Ägypten vorlogen. Lügen und Lügen aufzeigen, die der Ägypter wie auch die eigenen. Die Wissenschaften selbst seien Romane – über Helden wie Hegel, Freud oder Lacan. Fichte schreibt in kurzen Sätzen, protokollartig, in der Art von Botschaften, wie man sie im Seefunk überträgt. Tatsächlich liegen dem Roman Tonbandaufzeichnungen zugrunde, Fichtes Material seiner ethnologischen Feldforschung. Der Fluß von Informationen, den Fichte in Gang bringt, ist einem strengen Code unterworfen, einem Ordnungsprinzip, das sich schlichter Sätze bedient, um sich selbst weiterzutragen und ein vielschichtiges Bild unser Welt zu erzeugen. Fichte beschreibt nicht nur, wie sich europäische und außereuropäische Kulturen durchweben, sondern führt vor, wie Kultur in Natur eingebettet ist; immer wieder schimmert durch, daß ein grundlegendes Prinzip das komplexe System Erde am Laufen hält, dem nachzuspüren Fichtes Motor für seine Forschungen zu sein scheint. Benennt Hubert Fichte jenes grundlegende Prinzip? Unmißverständlich ruft er im Forschungsbericht einmal aus: Ich bin Darwinist! Demnach meint er wohl die Fähigkeit der Replikation, der Selbstverdoppelung. Biologisches Leben entsteht in seiner üppigen Vielfalt aufgrund dieser Fähigkeit, was die Existenz von Replikatoren voraussetzt, und so drehen sich naturwissenschaftliche Auseinandersetzungen auch um die Frage, ob Replikatoren Individuen sind, die sich durch Kopie vermehren, ob dahinter eine vielgestaltige Kraft steht, die alles am Laufen hält, oder reduktionistisch betrachtet, ob Gene im Sinn einer Schablone am Werken sind. Freilich äußert sich Fichte nicht über genetische Replikatoren. Seine Sprache aber geht gewissermaßen darwinistisch vor. In seinem Roman entsteht ein kulturelles Universum aus einem Fluß von Informationen, die sich wiederholen und auf der Grundlage berechenbarer Größen hierarchisch kombinieren und anordnen. Sein Thema ist das kulturelle Gedächtnis, das er in zweierlei Hinsicht naturwissenschaftlich betrachtet: zum einen, indem er es in den größeren Zusammenhang der belebten und unbelebten Natur stellt, und zum anderen, indem er sich methodisch naturwissenschaftliche Perspektiven zunutze macht. Fichtes Sätze entwickeln als Erinnerungsskripten selbst das Gefüge (was an die Fähigkeit lebender Mechanismen, sich zu replizieren, erinnert); als Autor tritt Fichte in der Gestalt Jäckis dann auf, wenn es darum geht, den freien Willen zu äußern, sich also als Mensch mit seiner Fähigkeit zum Dialog zu behaupten. Das bedeutet auch: Fichtes Protagonist scheitert zwar in der Nachfolge Herodots (als Europäer), aber es steht ihm trotzdem frei, weiterzuschreiben. Zu den am meisten diskutierten Interpretationen des Darwinismus gehört Richard Dawkins These, das Leben fristen bedeute soviel wie in DNA codierte Texte in die Zukunft weiterzutragen; das Leben sei ein Fluß aus DNA, der durch die geologischen Zeiträume fließe und sich verzweige, und die Metapher von den steilen Ufern, die den genetischen Spielraum der einzelnen Arten begrenzen, erweise sich überraschenderweise als wirksames, nützliches Mittel zur Erklärung. Die Vervielfältigungsmaschine, die wir Leben nennen, sei als ein Fluß der Gene in Gang gekommen, und dieser Urfluß der genetischen Information habe sich inzwischen in dreißig Millionen Arme, die heute bekannten Arten, geteilt; ein biologisches Alphabet von nur vier Buchstaben habe also das gesamte Wörterbuch des Lebens mit seiner faszinierenden Vielfalt entstehen lassen. Die von Generation zu Generation weitergegebenen Gene würden uns aber nicht nur formen, sondern auch steuern und dirigieren, um sich selbst zu erhalten; die biologischen Organismen somit vor allem dem Überleben und der Unsterblichkeit der Erbanlagen dienen, unsere Körper seien etwas wie Überlebensmaschinen der egoistischen Gene. Letztendlich manipuliere ein digitaler Code, genannt Information, die Welt um ihn herum zum Zwecke seiner eigenen Reproduktion. Richard Dawkins Theorie der egoistischen Gene hat ihn oft dem Vorwurf eines gefräßigen Reduktionismus ausgesetzt, eine schlimme Form von Unmenschlichkeit, da sie den Menschen und seine Fähigkeit zur Menschlichkeit als Ziel der Evolution außer acht lasse. Zum Beispiel meint Oliver Riepel, viele Aspekte unserer Gestalt seien nicht in den Genen, sondern in thermodynamischen Prozessen grundgelegt, was zumindest eine Pluralität an Erklärungsebenen fordere. Oder wie Douglas Hofstatter es postuliert: Ein Teilphänomen wie das Gen lasse sich nicht von einem Gesamtphänomen wie dem lebendigen Körper isolieren, um im nachhinein alles von unten her zu erklären. Richard Dawkins widerspricht solchen Bedenken auch gar nicht. Er spricht von einer Hierarchie der Erklärungsebenen, und sein Versuch, in der großen Geschichte der Natur die kleinste Erzählung zu finden, auf der sich alles aufbaut, will offenbar der Pluralität von Wirklichkeiten nicht widersprechen. Woran war nun der Schriftsteller Jäcki im Forschungsbericht gescheitert? Fichtes europäischer Blick hatte sich alles – die Welt – mit einem Blick der Synthese, alles zusammenschauend, aneignen wollen; und was er fand, waren kleinste Scherben, die über die Zeiten und Orte hinweg nicht nur andauerten, sondern Strukturen vorgaben. Und so zitiert Fichte Empedokles, mehrfach und in mehreren Übersetzungsvarianten: Einst bin ich ein Knabe, ich bin auch ein Mädchen gewesen, Busch und Vogel und Fisch, der warm aus den Wassern emporschnellt. Daß sein Protagonist Jäcki auf diese eindrückliche Erfahrung hin den Roman Raubvogel und Seefische nennen will, bedenkt Fichte zwar vier Zeilen später mit der Feststellung, der blanke Kolonialismus, weitet aber nach wenigen Seiten Jäckis Vision abermals aus, diese nun zwischen dem klassischen Text und schamanischer Praxis ansiedelnd: Ich erinnere, als ich ein Stein war. Ich war ein Schatten an den ersten Kratern und Gischt über meiner Schwester, der Lava. Ich wurde gerollt. Lange. Algenzeit. Die Lange Zeit, in der alles verwandelt wird. Als Dorsch tauchte ich wieder hinab, fraß rohe Daphnen, der Raubvogel fraß seinen Onkel, den Dorsch. Ich wohnte über den Wolken, und ich kannte nur das Geräusch meiner eigenen Flügel. Spät erst wurde ich Knabe und Mädchen. Waldläufer. Das erinnere ich gut. Ich baute einen Anlegesteg mit einem Palmendach. Kurze Zeit bestellte ich Acker. Das habe ich fast schon wieder vergessen. Die Schlacken. Die Messer. Der Rest ist flüchtig. Ich lerne ihn immer wieder. Lerne, ihn aufzuschreiben. Ich vergesse ihn immer wieder. Einmal stürzte ich mich in den Ätna zurück. Selbstbefragung und Erkenntnis bleiben in diesem Roman, den Fichte letztendlich Forschungsbericht nennt, seltsam in Schwebe, vielleicht in Trance, in der ein afrokaribischer Schamane dem Schriftsteller seinen Weltzugang vorführt. Die eigene kulturelle Matrix zu überschreiten, bedeutet denn auch, eine universelle Gesetzmäßigkeit zu erahnen und doch keine Totalität einzufordern; Fichte begnügt sich trotz Kritik des Eurozentrismus nicht mit der Erkenntnis, alles sei relativ. Vielmehr zeigt er den Umschlag zwischen den Geschlechtern, wenn er homosexuelle Praktiken beschreibt; den Umschlag zwischen den Generationen, wenn er von Subkulturen, und zwischen den Kulturen, wenn er von Schamanismen berichtet; den Umschlag zwischen den Orten, wenn er die Folgen des Kolonialismus benennt, und zwischen den Zeiten, wenn er Synkretismen in religiösen Riten dokumentiert. Sein niederschmetternder Befund am Ende des Forschungsberichts bezeichnet ein so umfassendes Scheitern des Universalismus, wie er den Anspruch auf ein umfassendes Programm aufrechterhält. Mit seiner Geschichte der Empfindlichkeit gelang Hubert Fichte nicht nur ein gewaltiger Speicher von kulturellem Gedächtnis, sondern auch ein Modell einer Praxis, die zeigt, wie Sprache im technischen Zeitalter zwar beschädigt, aber doch weiterhin handlungsfähig bleibt. Gescheitert sind viele Phantasmen des europäischen Geistesmenschen, stellt Fichte fest, und so spricht er bedachtsam von Empfindlichkeit und nicht von Empfindsamkeit, verwehrt sich die künstlerische Emphase, die er als kolonialistische Vereinnahmung von...


Walter Grond geboren 1957, lebt in Melk/Wachau. War unter anderem Herausgeber der Literaturreihe "Essay" und der Zeitschriften Nebelhorn, ABSOLUT und Liqueur. Autor der Romane "Landnahme", "Labrys", "Das Feld", "Stimmen" und "ABSOLUT GROND". Autor und Organisator von "GROND ABSOLUT HOMER". Im Frühjahr 2002 Arbeit am Projekt "Schreiben am Netz" am Collegium Helveticum der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit der Neuen Zürcher Zeitung. Seit 2004 Projektleiter von readme.cc, ab 2005 Herausgeber (mit Beat Mazenauer) der Reihe "Lesen am Netz. Bücher, Websites" im Studienverlag/Haymon Verlag, lesenamnetz.org. Bei Haymon: "Der Soldat und das Schöne". Roman (1998), "Der Erzähler und der Cyberspace". Essays (1999), "Old Danube House". Roman (2001), "Almasy". Roman (2002), "Schreiben am Netz". Literatur im digitalen Zeitalter (gem. mit Johannes Fehr, 2003), "Drei Männer". Novelle (2004), "Der gelbe Diwan". Roman (2009) sowie zwei Bände der Reihe "Draußen in der Wachau". Der etwas andere Reisebegleiter (2011 und 2012). Zuletzt erschien sein Roman "Mein Tagtraum Triest" (2012).



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