E-Book, Deutsch, 540 Seiten
Gross / Davis / Byers Arkham Horror: Dunkle Ursprünge 1
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96658-952-9
Verlag: Cross Cult Entertainment
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die gesammelten Novellen Band 1
E-Book, Deutsch, 540 Seiten
ISBN: 978-3-96658-952-9
Verlag: Cross Cult Entertainment
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Alten Götter kommen, um unsere Welt zu verschlingen, und nur die mutigen Ermittler von Arkham Horror stellen sich ihnen in dieser schaurigen Novellensammlung entgegen. Die Suche nach ihrer Schwester führt Jenny Barnes in die dunkelsten Ecken von Arkham. Bundesagent Roland Banks wird in einem bizarren Fall mit den übernatürlichen Schrecken Arkhams konfrontiert. Bei einem sonderbaren Experiment erregt Astronom Professor Norman Withers die Aufmerksamkeit einer seltsamen Kreatur. Und Seemann Silas Marsh muss sich in Innsmouth seinen schlimmsten Albträumen stellen, nachdem ein altes Buch ihm das Ende der Welt prophezeit hat.
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KAPITEL 1
Der schrille Ton der Pfeife riss sie aus einem Albtraum von einer Irrenanstalt. Zugleich drohte ein Rütteln sie zu Boden zu werfen, bevor sie die Armlehne zu fassen bekam. Für einen endlosen Augenblick war sie sich nicht sicher, ob sie Izzie war, gefangen in einem unfreiwilligen Dampfbad, oder Jenny, eine Passagierin in einem langsamer werdenden Zug. »Endstation!«, rief der Schaffner. »Arkham, Massachusetts.« Jenny setzte sich auf. Ihr Herz raste und sie bemühte sich, ihre Atmung zu beruhigen. »Halt durch, Izzie«, murmelte sie. »Ich komme.« Dampf waberte an den Waggonfenstern vorüber. Die Bremsen quietschten und die Lokomotive hörte auf zu schnaufen. Die anderen Passagiere, allesamt Männer, hatten sich bereits von ihren Sitzen erhoben. Mit ihren braunen Anzügen und Drahtgestellbrillen sahen sie aus wie Bankangestellte, die von Terminen aus Boston zurückkehrten. Keiner hatte während der Fahrt versucht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Unter diesen Umständen empfand Jenny das als Erleichterung. Dennoch ließ es die Frage in ihr aufkommen, wie zerzaust sie wohl aussehen musste. Als einzige Frau im Waggon hatte sie zumindest mit etwas Aufmerksamkeit gerechnet. In Paris hatte Jenny kaum von ihrer Wohnung zum Café laufen können, ohne drei Annäherungsversuche und einen Antrag abwehren zu müssen. Izzies Briefe waren aus der Literaturzeitschrift herausgefallen, während Jenny gedöst hatte. Das Magazin lag auf ihrem Schoß, aufgeschlagen auf der letzten Seite von Hemingways »Berge wie weiße Elefanten«. Am Tag, als sie Paris verlassen hatte, hatte sie ein halbes Dutzend Geschäfte abgeklappert, um zu erfahren, was der Herausgeber mit Ernests jüngster Schöpfung gemacht hatte. Schließlich hatte sie ein Exemplar bei Shakespeare and Company erstanden, zusammen mit ein paar Packungen Gauloises. Als Jenny die heruntergefallenen Seiten von Izzies Briefen aufsammelte, fiel ihr Blick auf einen beunruhigenden Abschnitt: …abdrücke in den Wäldern. Ich meine, es war ein Mann in einem dunklen Umhang! Er stand einfach da und sah mich an, während diese entsetzlichen Schreie immer weiter und weiter und … Jenny faltete den Brief zusammen. Es war verrückt. Natürlich hatten die Ärzte das Gleiche über Izzie gesagt, als sie sie eingewiesen hatten. Nachdem sie ihre Schwester über Monate hinweg im Sanatorium besucht hatte, war Jenny ihrem Familiendrama entflohen, um bei ihrer Tante in Paris zu leben. Izzie hatte ihre eigene Flucht wesentlich später unternommen, nachdem ihr Psychiater sie unter Vorbehalten entlassen hatte. Trotz ihrer Schuldgefühle darüber, Izzie zurückgelassen zu haben, hatte Jenny ihr geschrieben. Nach Monaten des gekränkten Schweigens hatte Izzie dann schließlich angefangen, ihr zu antworten. Allmählich waren sie wieder zu Vertrauten geworden, wie sie es als Kinder gewesen waren. Doch gerade als Jenny angefangen hatte zu glauben, das Schlimmste wäre überstanden, hatten die seltsamen Ereignisse, die Izzie in ihren letzten Briefen beschrieben hatte, Jennys Hoffnungen zerschlagen. Der Zug kam zum Stehen. Jenny verstaute die letzte Seite bei den restlichen Briefen und steckte das Magazin zurück in ihre Handtasche. Als der Bahnhofsvorsteher die Tür öffnete, eilten die Männer hinaus. Jenny rief ihnen hinterher: »Ihr Jungs wisst wirklich, wie man das Selbstvertrauen eines Mädchens erschüttert!« Keiner blickte zurück. Das war gut so. Wenn Jenny sich niedergeschlagen fühlte, munterte eine freche Bemerkung sie stets auf, auch wenn diese unbeachtet blieb. Die Männer hetzten über den Bahnsteig, um sich am Taxistand gegenseitig beiseitezudrängen. Die Sonne war untergegangen und das elektrische Licht des Bahnhofs verlieh ihren angespannten Gesichtern eine kränkliche Blässe. »Was ist denn in die gefahren?«, fragte Jenny sich. Wenn jemand Grund zur Eile hatte, dann sie. Unglücklicherweise hatte sie keine klare Vorstellung davon, wo das Hotel zu finden war, in dem sie von Boston aus ein Zimmer reserviert hatte. Schlimmer noch, sie hatte keine Ahnung, wo in Arkham Izzie untergekommen war. Der Absender hatte lediglich »postlagernd« besagt. Jenny stieg aus dem Zug. Der grauhaarige Bahnhofsvorsteher bot ihr seine Hand an. Mit der anderen berührte er den Rand seiner Schirmmütze und verbeugte sich, wobei er auf seinen Rücken achtgab. »Miss.« Jenny schenkte ihm ein Lächeln. Trotz ihrer Mitreisenden schien Zuvorkommenheit in Arkham nicht ganz ausgestorben zu sein. Eine Brise verstreute Blätter über den Bahnsteig. Rotahorn und Gelbe Eiche schwirrten um ihre Füße herum, zusammen mit einem zerknitterten orangen Handzettel. Jenny schnappte sich das Flugblatt und hielt es ins Licht. ARKHAMS ERNTEDANKFEST
22.–30. Oktober
Independence Square
Parade & Festzug
Erntedankkönig & -königin
Formeller Ball
Heuwagenfahrten
Erntedank-Festessen
Ein Spaß für die ganze Familie
Freiwillige können die Vorsitzende kontaktieren,
Mrs. Winthrop Olmstead Der Text war keineswegs ungewöhnlich, doch Jenny schluckte bei dem dazugehörigen Bild. Es war eine vereinfachte Zeichnung vom Gesicht eines Mannes, die so grob war, als wäre sie vor langer Zeit in einen längst erodierten Stein gemeißelt worden. Die Haare und der Bart des Mannes schienen geflochten zu sein, doch Jenny wusste, dass das, was in diesem schlechten Druck wie Zöpfe anmutete, Weidenblätter waren. Sie kannte das Bild von einem Medaillon, das sie besaß, eines, das sie von einem Marseiller Juwelier für Izzie hatte duplizieren lassen. Es gab zwei davon – und soweit Jenny wusste –, nur zwei. Jennys Hand wanderte zu ihrem Hals, ertastete dort jedoch lediglich ihren Reiseschmuck. Bevor sie in Panik ausbrechen konnte, erinnerte sie sich daran, dass sie das Medaillon in ihrem Gepäck eingeschlossen hatte. In einem ihrer Briefe hatte Izzie gefragt, ob sie es noch immer trug, also hatte Jenny es als Glücksbringer eingepackt. Womöglich hatte es ihr Glück gebracht, denn sein Auftauchen auf dem Flugblatt bestätigte, dass Izzie sich in Arkham befand. »Ich sagte, sind Sie wegen des Fests hier, Miss?«, fragte der betagte Bahnhofsvorsteher. »Oh!« Jenny verlor das Flugblatt bei einem Windstoß. »Nein, ich bin hier, um, äh, meine Schwester zu besuchen.« Sie verkniff es sich, »meine Schwester zu finden« zu sagen. Hinter dem Bahnhofsvorsteher entfernte sich ein Lastwagen vom Taxistand, auf der Ladefläche türmte sich Gepäck. Jenny erkannte ihren mit dem Monogramm »gBe« versehenen Koffer, auf dem Aufkleber aus ganz Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika klebten. »Ist das …?«, sagte Jenny. »Keine Sorge, Miss. Bill Washington bringt sie ins Hotel. Sie brauchen nur noch ein …« Es warteten keine Taxis mehr in der Schlange. Der Bahnhofsvorsteher sah auf seine Uhr und runzelte die Stirn. »Ich bin mir sicher, dass gleich wieder eins da sein wird.« Er schlurfte zurück zu seinem Schalter. Der zweifelnde Ton des Mannes trug nicht gerade dazu bei, Jenny zu beruhigen. Sie fragte sich, wie lange sie würde warten müssen. Die einzige andere übrig gebliebene Person auf dem Bahnsteig war ein stämmiger junger Bursche in einem ölverschmierten Overall. Er hatte einen Beiwagen aus dem Zug ausgeladen und befestigte diesen an einem roten Motorrad. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er hatte Schultern, die einen Rugby-Spieler neidisch gemacht hätten. Eine blaue Rauchwolke stieg über seiner Ballonmütze auf. Ein neuerlicher Windstoß wehte über den Bahnsteig. Jenny rieb sich die Arme und wünschte sich, einen Pullover angezogen zu haben. Von irgendwoher aus der Dunkelheit, die sie umgab, vernahm sie einen herzzerreißenden Schrei. Zunächst klang er menschlich, doch als er erneut ertönte, entschied sie, es müsse ein Tier sein, womöglich ein Lamm. Jenny dachte darüber nach, was das Erntedankfest für das Vieh bedeutete. »Viel Glück, dem Esstisch zu entkommen, Kleiner.« Als die Lok ihr langsames Tuckern begann, um loszufahren, bewegte sich der Mechaniker auf die andere Seite des Motorrads. Jenny erhaschte einen Blick auf einen großen Schraubenschlüssel im Klammergriff einer Faust, die nur aus Knochen und Sehnen bestand. Das Licht am Schalter des Bahnhofsvorstehers erlosch. Einen Moment später taten dies auch die Lichter auf dem Bahnsteig. »Hey, Charley!«, brüllte der Mechaniker mit hoher Stimme. »Ich arbeite hier!« »Entschuldige, Lonnie.« Die Bahnsteigbeleuchtung ging wieder an. Einen Moment später kam Charley aus dem Schalter heraus, schloss die Tür ab und wollte...