Grosse | Ein Leben lang | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Grosse Ein Leben lang

Was wir von unseren Großeltern über die Liebe lernen können
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-455-00280-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Was wir von unseren Großeltern über die Liebe lernen können

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-455-00280-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mehr als siebzig Jahre lang waren Julia Grosses Großeltern ein Paar. Ihre Liebe erschien ihr als das Maß aller Dinge. An ihnen hat sie jede ihrer Beziehungen gemessen und sich immer wieder gefragt: Wie hält man eine so tiefe Verbundenheit über ein ganzes Leben aufrecht? Besonders in einer Zeit, in der es zahlreiche Beziehungsmodelle gibt, die längst nicht alle einen Ewigkeitsanspruch haben. Und was für Wege gab es neben dem ihrer Großeltern? Um diese Fragen zu beantworten, ist Julia Grosse quer durch Deutschland und bis nach New York gereist. Sie hat Liebespaare getroffen, die auch nach vielen Jahren, tiefen Einschnitten und gemeisterten Krisen in der Gewissheit leben, ihren Seelenverwandten gefunden zu haben. Herausgekommen sind hinreißende Porträts die zeigen, dass die Liebe zwar nicht immer wie im Märchen verläuft, dass man aber trotz allem gemeinsam glücklich bis ans Lebensende sein kann.

Julia Grosse, 1976 in Mainz geboren, studierte Kunstgeschichte, Film- und Literaturwissenschaft in Bochum. Sie arbeitete als Kulturkorrespondentin in London, u.a. für FAS, SZ Magazin und Merian. Mittlerweile leitet sie das Onlinemagazin Contemporary And (C&). Julia Grosse lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Berlin.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Cover
Titelseite
Widmung
Einleitung
1 Das machtvolle Herz
2 Zeit für einen Rollenwechsel
3 Die Romantischen
4 Mit offenen Herzen und erhobener Faust
5 Ein seltener Glücksfall
6 Der Maler und seine Malerin
7 Denken, diskutieren, glauben
8 Die Liebe schert sich nicht um Schwüre
9 Zwei pragmatische Optimisten
10 Ziemlich beste Freunde
Nachwort
Dank
Nachweise
Anmerkungen
Über Julia Grosse
Impressum


Meine Großeltern

1 Das machtvolle Herz


You need more than Gerhard Richter hangin’ on your wall

A chauffeur-driven limousine on call

To drive your wife and lover to a white tie ball

you need love

I believe that we can achieve the love that we need

I believe, call me naive

Love is for free

Pet Shop Boys, »Love Etc.«

Wie aus einem spätromantischen Gesellschaftsgemälde von Carl Spitzweg kamen mir meine Großeltern immer vor. Der Mann aus Germering war technisch brillant gewesen, doch wollte ihn die damalige Kunstwelt nie wirklich in ihre Ränge aufnehmen. Porträts wie die des armen, erfolglosen Poeten, der in seinen Kleidern im Bett liegt, hängen bis heute in Wartezimmern deutscher Allgemeinärzte. Mein Vater fand das Bild immer pfiffig. Ich fand es altbacken und trivial. Und obwohl das Leben meiner Großeltern im Grunde wenig mit diesen weltabgewandten Darstellungen gemein hatte, kamen mir stets diese verträumten Spitzweg-Szenen in den Sinn, wenn ich die beiden zusammen sah. Wie Spitzweg war Paul und Irmel alles Derbe fremd. Fast hundertjährig sitzen sie an ihrem kleinen Wohnzimmertisch, an dem sie täglich ihren Friesentee trinken, die Oberkörper gerade nach vorn gebeugt. Sie lächeln einander an. Es herrscht dieselbe herzerwärmende Stimmung wie in diesen unterschätzten Gemälden, die das beschauliche Leben der Bürger ihrer Zeit einfangen. Meine Oma legt ihre dünn gewordenen Hände auf die noch dünneren meines Opas und sagt ihm mit ihrer weichen Stimme, wie lieb sie ihn habe. Mein Opa nickt und fügt hinzu, er liebe sie wie am ersten Tag. Woraufhin meine Oma ihre Hand noch etwas fester auf die meines Großvaters drückt. Ich sitze mit meiner Mutter und meinem Bruder auf der Couch in der anderen Ecke des Zimmers und unterhalte mich. Wir beachten die beiden, deren Anblick Außenstehende wohl spontan zu Tränen rühren würde, gar nicht mehr. Derartige Szenen gehörten für uns zur Tagesordnung, außerdem war Publikum ohnehin unerwünscht.

Im Universum meiner Großeltern war das Glück zu zweit so innig und eng, dass kein Blatt Papier mehr zwischen sie passte. Wir alle, der Rest der Familie, hatten uns über die Jahre an diese intensive Verbundenheit gewöhnt, waren verdammt zu Statisten auf Lebenszeit, die an dieser Liebesszene immer und immer wieder teilhaben durften. Und manchmal auch mussten, denn es gab sicher auch Momente, in denen einer von uns es gehasst hat, diesen Anblick der perfekten Liebe, während zu Hause die Ehe den Bach hinunterging oder zumindest der Haussegen gehörig schief hing. So etwas konnte an schlechten Tagen das Unbehagen an den eigenen Lebensumständen noch verstärken. An anderen Tagen war es wiederum gerade dieses ewige Turteln meiner Großeltern, ihre Wärme, die den Raum erfüllte und uns allen das Gefühl, ja, sogar die Hoffnung, gab, dass die Welt am Ende doch ein ziemlich schöner Ort war.

Die beiden lernten sich 1938 auf dem Fest einer gemeinsamen Freundin kennen, die bei meiner Geburt schon lange nicht mehr lebte und von der ich immer phantastische Geschichten gehört hatte. Gretel Sauvage. Schon der Name klang geheimnisvoll. »Eine echte Bohemienne!«, sagte meine Mutter stets andächtig. Gretel war Malerin, und ich hatte jahrelang ein düsteres Ölbild von ihr im Flur meiner Studentenwohnung hängen, ohne zu ahnen, dass es von der großen Unbekannten stammte. Sie war freier als viele andere Nachkriegsspießer. Cooler. Kreativer. Und eben auch eine Freundin meiner Großeltern. Für meinen Opa war am Abend des Festes schon alles klar: Diese junge Zahnarzthelferin aus Mühlheim mit den großen braunen Locken und wasserblauen Augen, meine Oma, sollte seine Frau werden. Mit ihrer Fröhlichkeit, diesen bezaubernden Grübchen und dem runden, gut durchbluteten Gesicht war sie ihm schon aufgefallen, als er zur Tür eintrat. Und meine Oma, nun, die war auch interessiert – aber zu der Zeit nicht nur vergeben, sondern noch verheiratet. Mit einem Mann, den ich mir immer wie einen weißblonden großen Schauspieler in den frühen Ufa-Studios vorstellte. Irgendwie verwegen.

Herr B., wie wir ihn in meiner Familie mit höflicher Zurückhaltung nannten, war bereits vor Jahren aus Deutschland ausgewandert und wollte unbedingt, dass meine Oma mit ihm auf einer Plantage irgendwo in der Südsee lebte. Doch sie wollte nicht. Und traf, dank Gretel, an jenem Abend im Jahre 1938 nun Paul, eher Typ Heinz Rühmann, klein, mit rötlichem, lichter werdendem Haar, dicker Brille und seit Jahren als Prokurist in derselben Süßwarenfirma tätig. Doch eben auch blitzgescheit, zum Fürchten gebildet und mit perfekten Manieren, die Adolph Knigge leuchtende Augen beschert hätten. So hätte er sich wohl lieber die hilfsbereiten Hände abgehackt, als einer Frau nicht in den Mantel zu helfen oder ihr die Tür aufzuhalten. Dass meine Tochter heute weiß, wie man das Besteck legt, wenn man einen Nachschlag wünscht, ist das Benimmerbe meines Großvaters.

Dieser kluge, zuvorkommende Mann hatte aber auch etwas Glück, denn der braungebrannte Plantagenbesitzer war weit weg und mehr ein Phantom als ein echter Partner an der Seite meiner Oma. Mein Großvater dagegen war real. Ein perfekter Gentleman, der bereit war, für die Frau seines Lebens zu kämpfen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, meine Oma so lange zu umwerben, bis er sie überzeugt hatte, und wich ihr ab da nicht mehr von der Seite. Selbst der Zweite Weltkrieg konnte seiner privaten Offensive nichts anhaben: Die Familienlegende besagt, dass er sich der Wehrpflicht entzog, indem er vor der Musterung Zigarre rauchte, Espresso trank und wie der Teufel mit dem Fahrrad fuhr, um wenig später mit bedenklichem Herzrasen vor dem Arzt zu sitzen. Seitdem hatte mein Opa jedenfalls einen amtlich diagnostizierten Herzfehler – mit dem er 99 Jahre lang bei bester Gesundheit lebte.

, , . Schon allein diese Verben! Nicht nur, dass sie heute völlig aus der Zeit gefallen klingen. Man tut diese Dinge auch einfach gar nicht mehr. Damals warteten Paare, getrennt durch Kriege oder die Suche nach Arbeit, manchmal Monate, nicht selten Jahre aufeinander. »Ich werde auf dich warten«, schnürt heute noch jedem die Brust im Kinosessel zusammen. Weil es diesen Glauben an das Absolute damals anscheinend noch gab. Vielleicht gehörten meine Großeltern einer immer weiter verblassenden Zeit an. Mein Opa warb und wartete. Nach zwei Jahren ließ meine Oma sich von Herrn B. scheiden, um zu ihrer neuen Liebe zu stehen. Der Moment, in dem er sie und ihr Herz gewonnen hatte, inmitten des Zweiten Weltkriegs, blieb für meinen Opa wohl das Wertvollste, was er besaß.

Bald siebzig Jahre waren sie verheiratet und haben in der Zeit nicht viele Tage ohne einander verbracht (ich habe den einen tatsächlich nie ohne den anderen gesehen – nur einmal, als ich mit meiner Oma allein im Skiurlaub war) und haben sich in all der Zeit im Grunde auch kein einziges Mal ernsthaft gestritten. Angeblich. Nur einmal, als meine vergnügte Oma aus dem feinen Restaurant, in das sie manchmal gingen, einen Aschenbecher mitgehen ließ. Da hat sich mein akkurater westfälischer Großvater fürchterlich aufgeregt und darauf bestanden, dass sie ihn zurückbrachte. Aber das war eine derartige Ausnahme, dass meine Mutter sie mir heute immer noch als unglaubliche Anekdote erzählt.

Was mich an den beiden immer fasziniert hat, ist die Tatsache, dass ihnen selbst nach siebzig Jahren Ehe nie die Themen ausgegangen sind. Manchmal saßen sie da und wanderten gemeinsam in Gedanken ihre Reisen nach, die sie in den vergangenen vierzig Jahren quer über den Globus gemacht hatten. Mit dem Kreuzfahrtschiff in die Karibik, nach Spanien oder ganz zu Anfang mit den beiden Töchtern im Käfer nach Italien. In den Dutzenden von Fotoalben, voller Sorgfalt angelegt, sieht man den Käfer mit Münsteraner Kennzeichen 1959 am Gotthardpass. Meine Großmutter mit Sonnenbrille, im Hintergrund schimmern die Hügel weiß. Auf den Fotos rennen meine Mutter und ihre Zwillingsschwester durch den Schnee und werfen Schneebälle, in Blusen zu gebräunter Haut, gerade noch hatten die vier unter Mailands Glasarkaden Espresso getrunken. Meine Oma trägt auf den Fotos gestreifte Röcke und ihr Kopftuch in Grace-Kelly-Manier, mein Opa sieht in seinem leichten, hellen Leinenanzug neben den schicken Italienern mitnichten aus wie ein kleinkarierter Deutscher.

Diese alten Fotos vermochten mir als Enkelin eine Ahnung davon zu geben, mit welcher Herzenslust die beiden in den Urlaub fuhren. Als seien es kleine Fluchten, um sich endlich einmal ungeniert in Schale werfen zu können. Zwar taten sie das in Münster auch, doch wirkte ihr Glamour in den Metropolen viel natürlicher. Auf ihren Kreuzfahrten, Jahrzehnte bevor man auf Aidas in Jeans zum Dinner gehen konnte, liebten sie es, ihre Abendgarderobe auszuführen, den Smoking und das Cocktailkleid mit Perlenkette. Ein gerahmtes Foto der beiden in ihren frühen Achtzigern, strahlend und die Wangen rot vom Tanzen und Champagner, habe ich immer bewundert. Sollte ich jemals ein Kreuzfahrtschiff betreten, dann ausschließlich ihnen zu Ehren!

Tatsächlich habe ich meinen Großvater nie in Jeans, Shorts, in Hausschlappen oder einem normalen Pullover gesehen. Ich hatte immer den Eindruck, der Anzug war für ihn mehr als eine Uniform aus seinen Berufsjahren. Er zog ihn an und schob sich das Einstecktuch in die...


Grosse, Julia
Julia Grosse, 1976 in Mainz geboren, studierte Kunstgeschichte, Film- und Literaturwissenschaft in Bochum. Sie arbeitete als Kulturkorrespondentin in London, u.a. für FAS, SZ Magazin und Merian. Mittlerweile leitet sie das Onlinemagazin Contemporary And (C&). Julia Grosse lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Berlin.

Julia Grosse, 1976 in Mainz geboren, studierte Kunstgeschichte, Film- und Literaturwissenschaft in Bochum. Sie arbeitete als Kulturkorrespondentin in London, u.a. für FAS, SZ Magazin und Merian. Mittlerweile leitet sie das Onlinemagazin Contemporary And (C&). Julia Grosse lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Berlin.



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