E-Book, Deutsch, Band 3, 250 Seiten
Reihe: Die Hygge-Morde
Grue Der Schlüssel zum Mord
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98690-826-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Hygge-Krimi | Die Hygge-Morde 3
E-Book, Deutsch, Band 3, 250 Seiten
Reihe: Die Hygge-Morde
ISBN: 978-3-98690-826-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Anna Grue ist eine der meistgelesenen dänischen Krimiautorinnen und hat unter anderem die Buchvorlage zur ZDF-Fernsehserie »Dan Sommerdahl - Tödliche Idylle« geschrieben. »Tod im Trödelladen« ist der erste Roman ihrer neuen Cosy-Crime-Reihe mit der eigenwilligen Ermittlerin Anne-Maj Mortensen. Die Website der Autorin: annagrue.dk Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre dänische Cozy-Crime-Serie um die Rentner-Detektivin Anne-Maj Mortensen mit den Einzeltiteln »Tod im Trödelladen«, »Mord im Kurhotel« und »Der Schlüssel zum Mord« - alle drei Bücher sind auch als Taschenbuch- und Hörbuchausgabe bei Saga erschienen.
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Kapitel 1
Dienstag, 15. Juni
Wenn Anne-Maj Mortensen besorgt ist, reagiert sie mit Zorn. Und da jede Verspätung einen Grund zur Besorgnis darstellt, ist sie leider in regelmäßigen Abständen zornig. Kommt jemand mehr als eine Viertelstunde später als vereinbart, sieht sie sofort ein schreckliches Unglück vor sich, kann Krankenwagen, Sirenen und Rettungshubschrauber beinahe schon hören. Ihre allzu lebhafte Fantasie lässt sie das Schlimmste befürchten. Wenn diejenigen, auf die sie wartet, dann schließlich auftauchen, sollte ihre Angst im Handumdrehen verdampfen und Anne-Maj mit tiefer Erleichterung und offenen Armen dazu bringen, deren Erscheinen noch mehr zu schätzen. Stattdessen wird sie zornig, weil sie ihr Grund zur Besorgnis gegeben haben.
Im Augenblick befindet sich Anne-Maj ganz oben im roten Bereich. Nicht genug, dass sie besorgt ist, sie ist auch erschrocken, und diese beiden Dinge machen sie ziemlich wütend. Per, ihr Scheißkerl von einem Exmann, begeht – behauptet er – genau in diesem Moment Selbstmord, und das hat der wehleidige Idiot Anne-Maj natürlich am Telefon mitgeteilt.
Seine Wohnung liegt nur einen Kilometer von ihrer entfernt, also legt sie ihrem Dackel, Mortensen dem Dritten, die Leine an und macht sich zu Fuß auf den Weg. Während sie gereizt den Havnevej hinunterstapft, überlegt sie, wie wahrscheinlich es eigentlich ist, dass der selbstsüchtige Schlappschwanz aus seinen Selbstmorddrohungen Ernst macht. In Wirklichkeit ist es wohl eine reelle Möglichkeit, denkt sie. Per ist gerade zum dritten Mal geschieden worden, er hat keine Freunde, trinkt ein bisschen zu viel, ist einsam und verbittert. Soweit sie weiß, ist er in seiner – nach eigener Aussage – bahnbrechenden Forschung, der er sich nach seiner Pensionierung vor ein paar Jahren gewidmet hat, in eine Sackgasse geraten. Vielleicht fühlte es sich wie eine Niederlage an, das Projekt aufgeben zu müssen, auch wenn er dies nie wirklich hat diskutieren wollen.
Letztes Jahr ist Per nach Nykøbing gezogen, und eine eigenartige und nicht ganz unkomplizierte Freundschaft hat sich zwischen ihm und seiner ersten Ehefrau entwickelt. Anne-Maj hat in gewisser Weise nach wie vor eine Art von Sympathie für ihren Exmann, und sie kann es nicht lassen, ein gewisses Mitleid mit ihm zu empfinden. Der Gedanke, dass Per vielleicht dabei ist, ein Glas Tabletten zu leeren, ist alarmierend.
Anne-Maj ist gezwungen, stehen zu bleiben, als sich die Schranken schließen und der Lokalzug von Holbæk vorbeidonnert. Sie steht ungeduldig trippelnd da, bis sich der Schlagbaum wieder in senkrechte Position erhebt, und forciert ihr Tempo noch ein wenig mehr. Mortensen blickt sie verwundert an. Es sieht seinem Frauchen in keiner Weise ähnlich, sich in so raschem Tempo zu bewegen – und er ist es wirklich nicht gewohnt, daran gehindert zu werden, an all seinen festen Grasbüscheln zu schnüffeln. Anne-Majs Unruhe wächst, je näher sie der Hafenfront kommen, an der ein Grüppchen besonders fotogener Häuser Schulter an Schulter steht. Sie sind Neubauten im Stil altmodischer Fischerdörfer, einige der Häuserreihen haben rote Holzfassaden, andere schwarze.
Anne-Maj drückt auf den Klingelknopf im Eingangsbereich, der zum Parkplatz auf der Ostseite der Häuserreihe geht. Einmal, zweimal. Drückt dann die Türklinke nach unten, aber die Eingangstür ist natürlich abgeschlossen. Beim dritten Mal hält sie den Klingelknopf lange Zeit gedrückt. Keine Reaktion. Sie holt ihr Mobiltelefon heraus und ruft Pers Nummer an. Von irgendwo hinter dem weiß gestrichenen Bretterzaun, der die private Terrasse der Erdgeschosswohnung umgibt, kann sie ein Klingeln hören. Wieder und wieder, bis sich der Anrufbeantworter einschaltet und sie die tiefe, ruhige Stimme ihres Exmannes hört, die sie auffordert, nach dem Signalton eine Nachricht zu hinterlassen. Anne-Maj rüttelt an dem Gartentor, doch auch das ist abgeschlossen. Sie kann über dem mannshohen Zaun den obersten Teil einer offenen Terrassentür erspähen. Sie versucht es mit einem »Hallo?«, gefolgt von einem etwas lauteren »Per? Hallo?«, aber es kommt keine Antwort.
Die Unruhe ist jetzt zu Angst angewachsen. Wenn ein Mensch mit Selbstmord droht und man dann zwanzig, fünfundzwanzig Minuten später mit dem Betreffenden nicht in Kontakt kommen kann … dann darf man es eigentlich sehr wohl mit der Angst zu tun bekommen, denkt Anne-Maj. Sie drückt auf sämtliche Klingelknöpfe in der Hoffnung, zumindest ins Haus zu gelangen, aber auch dieses Manöver führt zu nichts anderem als einem Schwall von Angstschweiß.
Anne-Maj läuft eilig um das Haus herum, während sie den höheren Mächten dafür dankt, dass sie vor neun Monaten ein neues Knie bekommen hat. Zuvor hätte sie sich niemals auf diese Weise fortbewegen können. Mortensens kurze Beine wirbeln wie Trommelstöcke. Auf der nach Westen gewandten Seite gibt es anstelle von geschlossenen Terrassen ein langes, offenes Holzdeck über die ganze Länge der Häuserreihe. Etliche der Bewohner im Erdgeschoss haben Gartenstühle herausgestellt, um in Mußestunden die Aussicht auf die schaukelnden Masten des Jachthafens genießen zu können. Hinter dem Wald aus Masten kann man an Land einen richtigen Wald erahnen, den Grønnehave, in dem Anne-Maj und Mortensen gern ihre Spaziergänge in einem etwas gemesseneren Tempo machen.
Zwei der Glastüren in Pers Wohnung gehen in diese Richtung. Anne-Maj klopft an die eine, schirmt die Augen mit den Händen ab und blickt in ein ziemlich großes Wohnzimmer mit offener Küche. Nichts. Ein benutztes Glas und eine Fernbedienung auf dem Sofatisch; im Fernsehen laufen TV 2 News. Eine Frau bewegt ihre Lippen, während unten am Bildschirm ein Textband von rechts nach links läuft. Die Stimme ist durch das Thermoglas der Tür ganz schwach zu hören. Ansonsten kein Laut.
Wieder drückt Anne-Maj eine Türklinke nach unten, und diesmal hat sie zu ihrer Überraschung Erfolg: Die Tür geht auf.
»Per?«
Kein Laut. Sie schaltet die News-Dame aus.
»Hallo? Per?«
Anne-Maj geht an der Küchenzeile vorbei zu den beiden Zimmern, die jeweils eine Glastür zu der geschlossenen Terrasse haben. In dem einen steht ein Doppelbett, ungemacht. Die Bettdecke liegt zusammengeknüllt am Fußende, und auf dem Nachtkästchen erblickt sie einen vollen Aschenbecher. Der Geruch nach altem Nikotin ist beißend, auch wenn die Tür nur angelehnt ist. Auf einem unordentlichen Haufen von Kleidung liegt ein Mobiltelefon. Anne-Maj nimmt es in die Hand, berührt leicht den gesperrten Bildschirm, worauf eine Meldung erscheint: Ehefrau 1. Unbeantworteter Anruf. Es vergehen ein paar Sekunden, ehe ihr klar wird, dass damit sie selbst gemeint sein muss. Ehefrau 1. Was bildet dieser Idiot sich ein? Anne-Maj wirft gereizt das Mobiltelefon hin und geht in das nächste Zimmer. Abgesehen von einem Stapel Umzugskartons und einem Einzelbett ist es leer; das Gästezimmer ist noch nicht fertig eingerichtet.
Sie geht zu der einzigen Tür, an der sie es noch nicht versucht hat, die einzige, die geschlossen ist. Sie führt ins Badezimmer, in dem sich, wie sie weiß, ein grotesk großer Whirlpool und eine winzig kleine Sauna befinden. Anne-Maj kann kaum Luft holen, hat das starke Gefühl, zu wissen, was sie erwartet. Das ist nur Einbildung, versucht sie sich selbst zu überzeugen, sie ist bloß hysterisch, weil … all das Ekelhafte, das im Kurhotel Høve passiert ist.
Im Zusammenhang mit ihrer Knieoperation im Herbst war Anne-Maj zur Reha in einem luxuriösen Wellnesshotel, wo sie in einer Badewanne voll heilkräftigem Schlamm eine Leiche fand. Die graubraune Masse hatte in diesem Fall nicht besonders zur Heilung beigetragen. Die Tote war ganz einfach in der schleimigen Masse ertrunken. Anne-Maj hat nie psychologische Hilfe in Anspruch genommen, die ihr angeboten worden war, und so steckt der Schock irgendwie noch immer in ihrem Körper, und allein der Anblick einer Badewanne oder der Geruch von Chlor lösen bei ihr Flashbacks an den fürchterlichen Tag aus. Sie steht da, die Hand an der Türklinke, versucht sich zusammenzureißen und die Klinke nach unten zu drücken. Da draußen ist niemand, sagt sie zu sich selbst. Und falls da jemand ist und falls er am Leben ist … dann muss ich wirklich versuchen, nicht allzu jähzornig darüber zu werden, dass er mir einen Schrecken eingejagt hat. Zwar ist Per ein Scheißkerl, aber er ist auch ein armseliger Schlucker. Ist er am Leben, sollte ich empathisch und verständnisvoll sein. Das darf ich nicht vergessen. Natürlich gibt es da draußen keine Leiche; natürlich liegt Per nicht tot in seinem lächerlichen Whirlpool.
Doch es gibt eine. Und er tut es.
Der Whirlpool ist voll mit hellrotem Wasser. An den Seiten der Wanne fließt das Blut in schmalen Bächen hinunter; an der Wand über der Wanne haben sich tiefrote Bögen wie riesige Engelsflügel abgezeichnet, deren lange, elegante Schwungfedern aus konzentrischen Blutspritzern bestehen. Blut befindet sich auch in einer Pfütze auf dem Boden, und vereinzelte Tropfen von Blut finden sich drüben am Waschbecken fast einen Meter entfernt. Es gibt sogar an der Decke Blutflecken; so frisch, dass sie noch immer auf den toten Körper in der Riesenwanne hinuntertropfen. Per hat einen tiefen Schnitt quer über das Handgelenk gemacht. Sein Arm hängt über den Rand der Wanne, und auf dem Boden liegt eine leere Whiskyflasche sowie ein altmodisches Rasiermesser. Wenn da nicht so viel Blut wäre, hätte man sehen können, dass der Schaft des Messers aus hübsch patiniertem Kuhhorn besteht. Per hat sich das Messer für sein bisschen BAföG irgendwann in den Siebzigern gekauft, als er und Anne-Maj immer noch zusammen waren, und er ist anscheinend...