E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Grünfelder Flügelschlag des Schmetterlings
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30107-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tibeter erzählen
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-30107-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zum ersten Mal versammelt dieser Band vielfältige und kontroverse Texte von tibetischen Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation aus Tibet und dem Exil.
Der Protagonist in Alais Erzählung Blutsbande hat einen chinesischen Großvater und einen tibetischen Vater; als er mit chinesischem und tibetischem Namen gerufen wird, zerreißt es ihm fast das Herz. In Ralo von Tsering Döndrub begegnen wir einem haltlosen jungen Mann, der seine Umwelt nicht versteht. Während in Tibet lebende Schriftsteller Kritik subtil oder verfremdet in ihre Texte einfließen lassen, artikuliert der Exil-Tibeter Palden Gyal ganz unverblümt die Ungerechtigkeiten, die während der Kulturrevolution geschahen. Umso mehr erstaunen die persönlichen Eingeständnisse von Exilanten, die wieder die Annäherung an Tibet suchen.
Mit Texten von Alai, Jamyang Norbu, Tsering Öser, Tenzin Tsundue und vielen anderen.
Weitere Infos & Material
Jamyang Norbu Der Wirbel eines Schmetterlingsflügels
Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich einmal als Schriftsteller enden würde – und das auch noch reichlich spät in meinem Leben. In meiner Jugend dachte ich eine ganze Weile, ich sei vor allem ein Mann der Tat. Doch als ich 1971 zu den tibetischen Guerillas in Mustang stieß, wurde ich von diesem Dünkel befreit. Ein Gewehr hinter mir herziehend, Hunderte von Patronen, ein paar Handgranaten, eine Pistole und einen unglaublich schweren Rucksack schleppend, noch dazu in Höhen, wo ich mir nach jedem siebten, achten Schritt hundertprozentig sicher war, gleich sterben zu müssen – bald war mir klar, dass ich keineswegs ein hemingwayscher Held war, was ich mir bis dahin eingebildet hatte. Am Ende meiner Schulzeit hatte dieser literarische Übervater den größten Einfluss auf mich, und all das Zeugs von wegen »selbst in der Not Haltung bewahren« hatte ich ziemlich ernst genommen. Ich war ein unersättlicher Leser ohne sonderliche Vorlieben. Von Alistair McLean bis zu Tolstoj, von Robert Heinlein bis Herman Melville verschlang ich alles, was mir in die Finger geriet, im Schnitt drei bis vier Bücher pro Woche. Nach der Lektüre von Robert Graves’ Belisar der Ruhmreiche und Marguerite Yourcenars Ich zähmte die Wölfin. Erinnerungen des Kaisers Hadrian zogen mich historische Ereignisse regelrecht an, insbesondere die römische und byzantinische Geschichte. Ich fing bei Procopius an, ging Schritt für Schritt zurück zu Josephus, Suetonius, Tacitus, Titus, Livius und gelangte schließlich so zu den griechischen Historikern. Ein bisschen Talent fürs Geschichtenerzählen hatte ich schon auch. Die Organisatoren des ersten Tibetischen Jugendkongresses baten mich, für diesen Anlass ein Stück zu schreiben und es selbst zu inszenieren. Mit dem Theaterstück Das chinesische Pferd feierte ich einen kleinen Erfolg in der begrenzten Welt der tibetischen Flüchtlinge, was aber nicht an dessen durchaus diskussionswürdigem literarischem Wert lag, sondern eher an der Tatsache, dass es das erste moderne tibetische Drama überhaupt war. Der Dalai Lama bekam eine Sondervorstellung, und es schien ihm gefallen zu haben. Wann immer sich seither die Möglichkeit bot, Stücke nicht nur zu schreiben, sondern sie auch aufzuführen, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf. Mein letztes Stück war sogar eine Komödie: Titanic II. Drama über die Liebe, Immigration und den Kampf um Freiheit. Politische Literatur aber, die immerhin einen Großteil meines Schaffens ausmacht, entstand zunächst aus einer Frustration heraus, vielleicht sogar aus Wut, weil ich nicht in der Lage war, mich anders auszudrücken. Alles, was es in den späten Sechziger-, frühen Siebzigerjahren in der sogenannten internationalen Presse über Tibet zu lesen gab, war negativ, feindlich und unglaublich verdreht. Nicht nur einzelne Journalisten und Autoren wie Felix Green, Han Suyin, T. D. Allman, Neville Maxwell, Chris Mullin und Audrey Topping käuten glücklich die chinesische Propaganda wieder, sondern auch die Medien selbst: Die New York Times, Le Monde, The Guardian, Newsweek, insbesondere Asahi Shimbun und The Far Eastern Economic Review erweckten den Anschein, Außenstellen des chinesischen Propagandaministeriums zu sein. Und einige tun dies bis heute. Es war offensichtlich, dass sie nach Strich und Faden logen. Oder zumindest ließen sie sich täuschen wegen einer ganzen Reihe von Gründen, die ihnen zum eigenen Vorteil gereichten. Als ich Han Suyins diskriminierend rassistischen Bericht über die Dummheit der Tibeter las – dass wir beispielsweise den Pflug am Hintern der Yaks befestigten, bis uns kluge und unendlich geduldige kommunistische Kader erklärten, dass der Yak vor dem Pflug zu gehen hat –, bebte ich vor Zorn. Aber was konnte ich schon ausrichten? Selbst die paar Hippies, die vom Manali-Hasch und den tibetischen Esoterika nach Dharamsala gelockt worden waren, glaubten eher der chinesischen Propaganda eines Mao als einem tibetischen Flüchtling, wenn dieser vom tragischen Schicksal seines Landes und seines Volkes erzählte. Ich bin sicher, es war nicht nur die moralische Empörung, die mich an den Schreibtisch zwang, angesichts der Gewalt und der Ungerechtigkeit, die Tibeter ertragen müssen. Es war auch die unverhohlene Bewunderung westlicher Beobachter für Mao, die dessen Besetzung Tibets als förderlich, humanitär und fortschrittlich darzustellen versuchten. Ich begann mit Leserbriefen, von denen nur ein einziger veröffentlicht wurde (im Time Magazine irgendwann im Jahr°1973, wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stich lässt). Und Artikel schrieb ich, aber zugegeben ziemlich miserable. Ich versuchte mich auch an Kurzgeschichten und schickte sie zuversichtlich an den Playboy (ein amerikanischer Bekannter hatte mir erzählt, die würden 5000 Dollar für eine Geschichte bezahlen), an Harper’s und Reader’s Digest. Damals erhielt ich auch meine ersten Ablehnungsschreiben. Nichtsdestotrotz war ich ungeheuer stolz und dankbar, als diese Geschichten dann in Illustrated Weekly of India, The Hindustan Times und im Tibet Journal erschienen. Aber mit meinen politischen Schriften hatte ich einfach keinen Erfolg. Je mehr ich mich anstrengte, desto schlechter wurde mein Schreiben: eine einzige Gefühlsduselei und Phrasendrescherei. Kurz nach dem Tod Maos 1976 schrieb ich für die Zeitschrift Rangzen des Tibetischen Jugendkongresses einen Artikel, in dem ich streng formalistisch – in Anlehnung an Zolas berühmten Brief Ich klage an – jeden Absatz begann mit »Mao ist tot.«. Obwohl der Text recht schauderhaft war und der Stil gekünstelt, hatte meine Anklage durchaus Gehalt: dass nämlich die tibetische Regierung wesentliche Entwicklungen in Tibet und China wie beispielsweise den Tod Mao Zedongs verschlafe und sich stattdessen auf Bagatellen in der Exilpolitik konzentriere, auf Flüchtlingslager, religiöse Rituale und Ähnliches. Der Artikel erzürnte das Kabinett, und ich geriet in meine erste heftige Auseinandersetzung mit dem Establishment. Doch das ist eine andere Geschichte. Und eines Tages – ich glaube, es war im Sommer 1976 – nahm ich einen schmalen Essayband von George Orwell in die Hand. Ich hatte zuvor auch seine Romane gelesen, doch nur Farm der Tiere und 1984 hatten mich beeindruckt. Ich nahm mir den ersten Essay vor mit dem seltsam anmutenden, gar provokanten Titel The Decline of English Murder, und mir ging es wie einer Comicfigur, über deren Kopf eine Glühbirne aufleuchtet: Auf einen Schlag war mir alles klar. Oder, ein wenig eleganter formuliert: Auf diesen Moment ist meine Wandlung von Saulus zu Paulus zurückzuführen. Aha, so stellte man es also an. Man nehme ein ernstes Thema – es konnte ruhig auch ein wenig langweilig sein – und schreibe darüber möglichst interessant, humorvoll, gescheit und, was noch wichtiger war, überzeugend. In seinem Essay Politics and the English Language offenbarte mir Orwell, wie der Verfall der Sprache ganz wesentlich zur Politik der Unterdrückung beitrug und sie gar noch verteidigte. Noch im selben Jahr gelang es mir, Orwells Collected Essays, Journalism and Letters aufzutreiben, einen Schuber mit vier Penguin-Taschenbüchern, die mich von all seinen Werken am meisten beeindruckten. Mein eigenes Schreiben verbesserte sich selbstverständlich nicht über Nacht, aber das war mir gleichgültig. Immerhin hatte ich jetzt eine Ahnung, wie ich vorzugehen hatte. Ich schrieb nun Artikel fast ausschließlich für die Tibetan Review. Das war in jener Zeit, als die tibetische Regierung einen Untersuchungsausschuss nach Tibet schickte und sich um Formulierungen wie »Autonomie« und »Assoziiertenstatus« Gedanken machte, um die chinesische Regierung zu Verhandlungen zu überreden. Ich begann mit meiner selbst ernannten Mission, kaltes Wasser auf die Hoffnungen vieler Meinungsträger in der tibetischen Regierung, in der tibetischen Öffentlichkeit und westlicher Tibet-Unterstützer zu schütten, die glaubten, dass China auf dem Weg zur Demokratie sei und es zu einem gegenseitigen Verständnis und zu Vereinbarungen mit dem Dalai Lama kommen könnte. Ich gebe unumwunden zu, dass ich mit diesen Artikeln nicht sonderlich erfolgreich war. Da sie auf Englisch geschrieben waren, erreichte ich mit meinen Essays keine große tibetische Leserschaft. Und als ob das nicht schon anspruchsvoll genug gewesen wäre, konnte ich einfach nicht der Versuchung widerstehen, hier und da ein paar lateinische Zitate einzuflechten, die mir von meiner Schulzeit geblieben waren. Doch so unzulänglich diese Essays auch waren, sie machten auf die Hauptakteure einen gewissen Eindruck. Die tibetische Regierung war ungeheuerlich verärgert, und Seine Heiligkeit hielt mir eine strenge Standpauke – ich wage zu behaupten, dass ich sie verdient habe. Aber es waren die Chinesen, die mir meinen wirklichen Einfluss als Autor vor Augen führten. Tsultrim Tersey, einer der ersten Exiltibeter, der Tibet bereiste und heute in der Schweiz lebt, schrieb in der Tibetan Review, dass man ihm bei einem offiziellen Treffen in Lhasa mitgeteilt habe, meine Artikel und die Aktionen des Tibetischen Jugendkongresses würden den chinesisch-tibetischen Beziehungen schaden. Einige Jahre später erhielt ich über das Tibetan...