E-Book, Deutsch, Band 2/2018, 52 Seiten, Format (B × H): 210 mm x 297 mm
Reihe: Polizei.Wissen
Grutzpalk Polizei.Wissen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86676-699-0
Verlag: Verlag für Polizeiwissenschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Polizei und Tod
E-Book, Deutsch, Band 2/2018, 52 Seiten, Format (B × H): 210 mm x 297 mm
Reihe: Polizei.Wissen
ISBN: 978-3-86676-699-0
Verlag: Verlag für Polizeiwissenschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Herausgegeben durch Prof. Dr. Jonas Grutzpalk
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Zum aktuellen Themenheft: Polizei und Tod
(M. Frey und J. Grutzpalk)
Die erste Leiche vergisst man nicht
(H. Wiersich)
Das Opfer des eigenen Lebens
(T. Trappe)
Seelsorgerliche und psychologische Aspekte bei der Betreuung nach Selbsttötungen in der Polizei
(R. Voigt)
Der Einsatz kriminaltechnischer Mittel zur Rekonstruktion von Geschehensabläufen im Rahmen von Todesermittlungen
(C.F. Matzdorf)
Die Liebe zu den Toten. Eine multidisziplinäre Sicht auf Nekrophilie
(V. Leuschner)
Der (zu) spät erkannte Mord
(M. Frey)
Reformbedürftigkeit des § 211 StGB - ein verfassungsrechtlicher Blick
(S. Schönrock)
Der Umgang mit dem Tod im Islam und seine Auswirkungen auf die Polizeiarbeit
(A. Temirow)
„Wir reden lieber von ‚Verstorbenen’" Der polizeiliche Umgang mit dem Tod aus Perspektive eines Bestattungsunternehmers (
J. Grutzpalk)
Der Tod als Bestandteil der rechtsmedizinischen Ausbildung im Bachelorstudiengang gehobener Polizeivollzugsdienst der HWR Berlin (
T. Hollmann)
Überbringen von Todesnachrichten im Training sozialer Kompetenzen
(B. Thinnes)
Die erste Leiche vergisst man nicht
von Holger Wiersich*
Jede Polizistin und jeder Polizist auf der Welt blickt auf Erfahrungen mit dem Tod während ihrer und seiner Dienstausübung zurück. Viele nehmen das hin, weil es ja schließlich der Job verlangt, anderen gelingt es wahrscheinlich, eine gesunde Distanz aufzubauen. Und längst nicht alle machen sich Gedanken darüber.
Aber wie ist das, wenn man sein Dienstleben lang immer wieder per fachlicher Zuständigkeit mit dem Tod und entsprechenden Ermittlungen als Kriminalbeamter zu tun hat? Wenn man bis zum Anschlag in Familientragödien eintaucht, eng mit trauernden Angehörigen verwächst, grausam zugerichtete Tote sehen und untersuchen muss und überlebenden Opfern als Ansprechpartner und Beistand dient, immer und immer wieder. Verändert es uns? Schleicht es sich ein in unser Denken oder erzeugt sogar Probleme? Zunächst unbemerkt, später merklich, und irgendwann nicht mehr ignorierbar? Und können wir es überhaupt zulassen, über solche Prozesse nachzudenken und sie innerlich anzunehmen?
Ich habe 1986 mein Studium für den gehobenen Dienst der Berliner Kriminalpolizei aufgenommen. Schon während meiner Probezeit war ich mit der Bearbeitung von Todesermittlungsverfahren beschäftigt. Danach zehn Jahre lang als Sachbearbeiter und Teamführer beim Kriminaldauerdienst (KDD), nach vierjähriger Unterbrechung wieder beim KDD als stellvertretender Schichtleiter, dann als Schichtleiter und schließlich als Kommissariatsleiter im Fachkommissariat für Todesermittlungen und als Leiter einer Mordkommission. Nahezu jeden Tag ist mir der Tod in meinem Dienst begegnet. Und ich bin dankbar dafür, dass dieses Thema aufgegriffen wird, weil es wichtig ist. Weil es endlich etablierte Strukturen geben muss, damit umzugehen, die wir ausbauen müssen. Weil es an Verständnis fehlt bei vielen Mitarbeitenden und sogar Vorgesetzen, wenn deswegen einmal soziale oder psychische Probleme bei Kollegen auftreten.
„Wie ist das, wenn man bis zum Anschlag in Familientragödien eintaucht, eng mit trauernden Angehörigen verwächst, grausam zugerichtete Tote sehen und untersuchen muss und überlebenden Opfern als Ansprechpartner und Beistand dient, immer und immer wieder.“
Eine gute Nachricht vorweg: Selbst wenn wir die ewigen und unumkehrbar Gestrigen dabei außer Betracht lassen müssen – es hat sich da schon viel verändert und das ist großartig.
Der erste tote Mensch, den ich in meinem Leben zu Gesicht bekam, befand sich im Obduktionssaal des gerichtsmedizinischen Instituts der Freien Universität zu Berlin. Ich, 19-jährig, war frisch gebackener und stolzer Student. Aus Furcht vor einer plötzlichen Ohnmacht hatte ich mich sorgfältig vorbreitet: Meine damalige Medizin studierende Freundin empfahl mir, vorsorglich meine Muskelpumpe zu aktivieren, nämlich im Stehen am Sektionstisch meine Oberschenkelmuskeln rhythmisch zu kontrahieren, um meinen mit Absacken drohenden Kreislauf auszutricksen. Das hat geklappt, ich fiel nicht um - im Gegensatz zu einigen meiner bedauernswerten Kommilitonen.
Offensichtlich hat die Muskelpumpe meine ganze Aufmerksamkeit konsumiert. Sonstige Erinnerungen an die für mich wahrscheinlich spektakuläre Schauobduktion, die das fachliche Fundament für jahrzehntelange Todesermittlungen legen sollte, habe ich nicht behalten Bei vielen nachfolgenden Obduktionen, die ich bislang begleitet habe, musste ich oft an meine gelungene Strategie denken, die ich vielen Berufsanfängern zur praktischen Anwendung weiterempfehle. Alle anderen fallen halt um.
„Selbst wenn wir die ewigen Gestrigen außer Betracht lassen müssen – es hat sich schon viel verändert und das ist großartig.“
Danach ging es ganz gut mit der Bearbeitung von Leichensachen. Während meiner Probezeit war ich ein Jahr lang beim KDD im Berliner Norden eingesetzt, danach weitere zehn Jahre in sachbearbeitender Tätigkeit. Einsatz um Einsatz hatte ich Todesermittlungen im Ersten Angriff zu führen. Die anfängliche etwas beklemmende Furcht löste sich rasch. Ich entwickelte früh ein kriminalistisches Interesse und verlor Berührungsängste. Bloß der Umgang mit trauernden Angehörigen wurde nicht leichter erträglich und machte mir zu schaffen. Das hat sich bis heute kaum verändert.
Kaum verändert hat sich auch mein Ekelempfinden, was den Umgang mit länger herumliegenden und mithin bis zur Unkenntlichkeit verfaulten Leichnamen angeht. Nicht vergessen werde ich etwa einen Einsatz, bei dem uns die Funkwagenbesatzung mit ausdrücklichem Bedauern empfing. Sie hätten sich bereits gerade in die im Hof stehenden Mülltonnen hinein übergeben und wir könnten keinesfalls ohne Gasmasken hinauf in die Wohnung, in der der Verstorbene lag. Freilich lag er schon länger dort. Man ist ja nicht so oft neidisch auf die Schutzpolizei – an diesem Tag aber wäre ich gerne mit Ihnen weggefahren in ihrem schönen sauberen Einsatzwagen, ohne die übel riechende Leichenschau zu absolvieren.
„In einem Fall sägte der leibliche Sohn in einem überfallartigen Gewaltexzess seiner Mutter mit einem Brotmesser den Kopf ab, nachdem er ihr zuvor mit mehreren Stichen die Bauchaorta zerrissen hatte.“
Oder die Sache im Berliner Wedding, Altbau, ganz oben. Nach dem Abrücken der Funkwagenbesatzung waren wir als KDD-Team allein in der Wohnung. Mit dem Leichnam, versteht sich, und in bester Gesellschaft mehrerer Stadttauben, die sie im Verlaufe der letzten drei Monate als vorzüglichen Nistplatz ausgemacht und in Beschlag genommen hatten. Tausende Fliegen und ebenso viele Maden aller Altersstadien leisteten uns vitale Gesellschaft und der bestialische Gestank war kaum zu ertragen. Noch heute zweifle ich daran, dass es bloßes Vergessen war - der Kripo wischt man doch immer gerne eins aus: Die ersteingesetzten Kollegen der Schutzpolizei verschwiegen uns, dass es innen an der Wohnungstür keine Klinke gab, auch keinen Schlüssel. Einen Luftzug später fiel die Tür zu, es war stockfinster, es gab natürlich keinen Strom mehr in der Bude und einziger schwacher Trost war mir meine glimmende Mentholzigarette, die ich - als Nichtraucher - in vergleichbaren Situationen immer gebrauchte, um meinen Geruchssinn zu betäuben. Spurenschützend natürlich. Auf den üblen Geruch im Hause angesprochen berichteten die Nachbarn damals übrigens, sie hätten halt gedacht, dass auf dem Dachboden mal wieder Obdachlose hausen würden.
„Ganz ehrlich: Es ist ja nicht so, dass ich nicht gerne mit Todesermittlungen zu tun hätte.“
Obwohl dieser Einsatz vermutlich über zwanzig Jahre zurückliegt, weiß ich den Familiennamen des Verstorbenen noch heute. Mein Teampartner und ich überlegten, benommen vom Ekelgefühl ernsthaft, nach Abschluss unserer Maßnahmen und Verlassen der Wohnung in der unten gelegenen Eckkneipe „Spritzenhaus“ einen sehr ordentlichen Schnaps zu bestellen. Aus dienstrechtlichen Gründen war dieser eigentlich sehr gelungene Gedanke aber natürlich zu verwerfen.
Es folgten wahrscheinlich mehrere hundert anderer Leichensachen, viele davon aus polizeilicher Sicht banal. Aber auch tragische Krankheitsgeschichten, Suizide, Mord und Totschlag. Von U- und S-Bahnen zerschnittene menschliche Körper, nach Stürzen aus großer Höhe zerschmettert, übel zugerichtet von Tätern. Ein Arbeiter einer Schokoladenfabrik wurde in einer riesigen Cuttermaschine bei lebendigem Leib in tausend Stücke zerschnitten, als sie sich beim Reinigen unerwartet automatisch einschaltete. Die Maschine zerschneidet normalerweise gewaltige Mengen von Kakaomasse und hatte den Füllstand des Reinigungsmittels damit verwechselt. Die Todesnachricht wurde der Witwe und Mutter seiner Kinder übrigens von skrupellosen Boulevardreportern überbracht, die wahrscheinlich den Polizeifunk mithörten. So schnell konnten wir eine sorgsame Übermittlung nicht vorbereiten - auch so etwas macht betroffen und hilflos.
In einem anderen Fall sägte der leibliche Sohn in einem überfallartigen Gewaltexzess seiner Mutter mit einem Brotmesser den Kopf ab, nachdem er ihr zuvor mit mehreren Stichen die Bauchaorta zerrissen hatte. Danach versuchte er, seinen Stiefvater mit Stichen in den Rücken zu töten. Er sah in den beiden Opfern biblische Gestalten, die nach ihm trachteten - der Gutachter bescheinigte ihm eine cannabisinduzierte paranoide Schizophrenie. In einem weiteren quälten vier dauerbetrunkene Männer einen Zechkumpan, den sie vorher böswillig und hinterhältig in ihre Wohnung gelockt hatten, um Grausamkeiten an ihm zu begehen. Ich habe bei der Obduktion fast ausschließlich serienfrakturierte Knochen gesehen. Der Mann starb noch in der Tatnacht qualvoll an einem...




