E-Book, Deutsch, 360 Seiten
Günder / Nowacki Praxis und Methoden der Heimerziehung
6. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7841-3304-1
Verlag: Lambertus-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-7841-3304-1
Verlag: Lambertus-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Richard Günder war Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Jugendhilfe an der Fachhochschule Dortmund. Er war früher Leiter der Sozialpädagogischen Heime beim Jugendamt der Stadt Stuttgart.
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Kapitel 1
Entwicklungen und Veränderungen der Heimerziehung
Das Negativimage der Heimerziehung
Heimerziehung und die sozialpädagogische Betreuung in sonstigen Wohnformen haben die zentrale Aufgabe, positive Lebensorte für Kinder und Jugendliche zu bilden, wenn diese vorübergehend oder auf Dauer nicht in ihrer Familie leben können. Die sehr differenzierten Institutionen der stationären Erziehungshilfe sollen lebensweltorientiert ausgerichtet sein. Dies impliziert in der Regel eine ortsnahe oder zumindest regionale Unterbringung sowie die Unterstützung von Kontakten zum früheren sozialen Umfeld, vor allem aber zu der Herkunftsfamilie, wenn nicht im Einzelfall Gründe, die das Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährden könnten, dem gegenüberstehen. Das Heim als positiver Lebensort soll frühere oftmals negative oder traumatische Lebenserfahrungen verarbeiten helfen, für günstige Entwicklungsbedingungen sorgen, Ressourcen erkennen und auf ihnen aufbauen, den einzelnen jungen Menschen als Person annehmen und wertschätzen, eine vorübergehende oder auf einen längeren Zeitraum angelegte Beheimatung fördern und die Entwicklung neuer Lebensperspektiven unterstützen.
Die Entwicklung der Heimerziehung in ihrem historischen Kontext
Heimerziehung wird heute mitunter noch in Verbindung gebracht mit der anstaltsmäßigen Unterbringung von armen und verwaisten Kindern. Diese Vorstellung trifft für frühere Zeiten durchaus zu. Denken wir beispielsweise an die Situation elternloser Kinder in Findelhäusern, Klosterschulen, Hospitälern und Armenhäusern des Mittelalters, so fällt außerdem auf, dass erzieherische Gesichtspunkte damals kaum vorlagen, es ging vor allem darum, diese Kinder am Leben zu erhalten und sie zu Arbeitsamkeit, Gottesfurcht und Demut hinzuführen. In Deutschland entstanden die ersten Waisenanstalten im Jahrhundert in den Reichsstädten. Vorher war es üblich gewesen, verwaiste Kinder zu Familien zu geben. Die Lage solcher Kinder wurde jedoch vielfach als sehr schlecht beurteilt, häufig wurden sie als billige Arbeitskräfte für Haus und Hof eingesetzt, für ihre Erziehung oder gar Bildung wurde kaum etwas getan. Die ersten Waisenhäuser wurden 1546 in Lübeck, 1567 in Hamburg und 1572 in Augsburg eröffnet (Schips 1917, S. 702). Sehr bekannt wurden die im Jahre 1698 von August Herrmann Francke gegründeten Hallischen Anstalten. Durch eine strenge, pietistisch geprägte Erziehung sollten die Kinder in diesem Waisenhaus ihre innere Haltung ganz auf Gott hin ausrichten. Neben der übergeordneten religiösen Unterweisung fand erstmals auch ein auf lebenspraktische Inhalte orientierter Unterricht für die Waisenkinder statt. Anzustrebende Tugenden waren auf Gott bezogene Wahrheit, Gehorsam und Fleiß. Die Kinder wurden ständig zu häuslichen Arbeiten angehalten, welches durch genaue Dienstanweisungen und Reglementierungen zu erreichen versucht wurde (Sauer 1979, S. 18 ff.). Einengende Strenge und Disziplin waren alltäglich. Die Gruppen im Waisenhaus in Halle sollten ursprünglich möglichst klein sein, um eine individuelle pädagogische Vorgehensweise zu garantieren. Diese Absicht konnte jedoch nicht realisiert werden, denn wegen der jahrzehntelang andauernden Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges (Verwüstung von Städten und Ländereien, Verarmung der Bevölkerung, Zwangsabgaben zur Beseitigung der Kriegsschäden etc.) wurden die Anstalten von Kindern geradezu überflutet.
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Die weitverbreitete Massenunterbringung von Kindern, ihre hohe Sterblichkeit sowie der Vorwurf, sie würden in den damaligen Waisenhäusern nur zur Arbeit angetrieben, führte zu einem erbitterten und lang andauernden Streit.
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Aber es waren nicht nur die schlimmen Zustände in den Anstalten, die zur Sorge Anlass gaben, sondern auch solche ökonomischen Gründe wurden angeführt, die uns an die gegenwärtige Diskussion über die hohen Kosten der Heimerziehung erinnern. Der Aufenthalt in einem Waisenhaus war beispielsweise im Jahre 1862 in Berlin dreimal so teuer wie in der Familienpflege.
Die „hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe“ schrieb im Jahre 1779 eine Preisaufgabe aus, in welcher geklärt werden sollte, ob die Erziehung der Waisenkinder vorteilhafter in Familienpflege oder in Waisenhäusern durchzuführen sei.
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Es wurde gleichzeitig gefordert, die Pflegeeltern „gehörig auszuwählen“ und diese „immer unter eine genaue Aufsicht“ zu stellen. In mehreren Orten wurden .
Dennoch konnte dieser „Waisenhausstreit“, in dem es neben pädagogischen auch immer um finanzielle Gesichtspunkte ging, keineswegs eindeutig gelöst werden.
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Doch obwohl die „Segnungen des Familienlebens“ in den Waisenhäusern ohnehin als „verloren“ galten, eine „individuelle Behandlung“ als „erschwert, wenn nicht unmöglich“ angesehen wurde, konnte der Streit nicht einfach zugunsten der Familienpflege entschieden werden. Auch die damals vorgetragenen Gründe lassen Parallelen zur heutigen Situation erkennen, denn man hätte sich wohl für die Familienpflege entschieden, „wenn nur die entsprechende Anzahl tauglicher Familien gefunden würde, denen die Kinder anvertraut werden könnten“ (Real-Encyclopädie 1874, S. 766). Nach der im Jahre 1840 vorgetragenen Auffassung des Vorstehers des Waisenhauses in Hamburg könnten jedoch „gut organisierte Waisenhäuser die besten Erziehungsanstalten für Waisen“ sein, wenn unter anderem die folgenden Voraussetzungen erfüllt wären: „Unterordnung der Oeconomie und des Rechnungswesens unter den höheren Erziehungszweck, statt jene als erste und letzte Rücksicht zu betrachten und sich dadurch leiten zu lassen“ und außerdem,




