Gunesekera | Sandglas | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 260 Seiten

Gunesekera Sandglas

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30670-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 260 Seiten

ISBN: 978-3-293-30670-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was geschah zwischen den verfeindeten Clans der Vatunas und der Ducal? Als Sri Lanka unabhängig wird, kommt für beide die große Stunde. Ihr Konkurrenzkampf um Industrien und Hotelketten ist so gnadenlos wie ihr Stolz, und ihre benachbarten Villen am Strand werden zu Festungen. Als die Macht beider Familien schließlich zerbricht, versuchen die Söhne, Licht in die geheimen Tragödien, Intrigen und Liebschaften zu bringen, durch die die Patriarchen aneinander gekettet waren.

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II
Zehn Uhr Ich begegnete Pearl zum ersten Mal, als ich im Herbst 1975 nach London kam. Ich hatte Sri Lanka schon ein paar Jahre zuvor verlassen, hatte aber immer noch keine feste Bleibe gefunden. Und weil ich keinen Job hatte, borgte ich etwas Geld und fuhr nach London, fest entschlossen, ein Leben nach meiner eigenen Vorstellung zu leben, was vielleicht ein unausgegorener jugendlicher Traum war. Bei Pearl in der Almeida Avenue 52b zu wohnen ermöglichte es mir. Sie hatte ein freies Zimmer, weil Prins, ihr ältester Sohn, nach Oldham gegangen war, um in einem zehnmonatigen Schulungskurs zu lernen, wie man Wollgarn verkauft. Sein jüngerer Bruder Ravi lebte bei Pearl, allerdings zog er es meistens vor, sich im dunkelsten Schlafzimmer der Wohnung einzuschließen. In jenen ersten kalten Jahren saß ich viele Abende in einem braunen Kunstledersessel Pearl gegenüber, nippte an einem Glas Sherry und hörte ihren Geschichten zu, während sie auf dem Sofa vor dem Fernseher, zwischen alten Schwarzweißfilmen und Kojak-Folgen, Halstücher oder Westen strickte. Selbst damals suchte ich noch nach einem Weg, mein Leben in ihrem sprudelnden Kielwasser zu formen. Pearl, dann Prins wurden die Kardinalpunkte meiner verschwommenen Identität. »Die Schwierigkeiten fingen an, als er sich die verrückte Idee in den Kopf setzte, ein eigenes Haus zu besitzen.« Pearl legte ihre Stricknadeln nieder und tippte sich leicht an die Lippen, als kokettiere sie mit einem ihrer schalkhaften Sätze, mit denen sie sich über das gezierte Englisch ihrer Kindheit lustig machte. »Wozu einen inchy-pinchy Friedhof besitzen, frage ich dich. Aber der Mann war ganz verrückt nach einem eigenen Misthaufen, daß er an nichts anderes mehr dachte.« »Er«, das war ihr Mann Jason Ducal. Pearl erzählte die Geschichte ihrer ersten Ehejahre mit einer solchen Offenheit, daß ich das Gefühl hatte, sie miterlebt zu haben: ein unsichtbarer Lauscher im Zwielicht einer eingemotteten Zeit. Pearl war sozusagen in Quarantäne aufgewachsen: in Häusern mit unendlich viel leerem Raum, aber es waren nie Häuser, die ihren Eltern gehörten. Ihr Vater, ein Arzt, war von Ort zu Ort gezogen und hatte versucht zu helfen, wo Hilfe gebraucht wurde. Er starb während der Malaria-Epidemie von 1935. Ihre Mutter war der Krankheit früher zum Opfer gefallen, doch Pearl sprach nie von ihr. Sie nannte mir bloß ihren Namen, Sikata, und sagte, ihr Tod sei der Grund gewesen, warum ihr Vater für sein einziges Kind immer ein Haus in sauberer Meeres- oder Bergluft gesucht habe. Pearl wuchs heran, ergötzte sich an Father Browns Rätseln und an englischen Liebesgeschichten unter Mangobäumen in abgeschiedenen Gärten. Andere Menschen betraten ihre Welt nur durch die Praxistür: hilflose, verletzte Menschen, die in ihrem Kampf, von einem Tag auf den anderen zu überleben, etwas Anteilnahme suchten. Das war es gewesen, was ihr an Jason so faszinierend vorgekommen war, als er bei ihnen auftauchte. Er hatte keine erkennbaren Leiden oder Verletzungen. »Er sah nicht krank aus«, sagte sie, und in ihrer Stimme lag echtes Staunen. Er fuhr auf einem Fahrrad und war wie aus einem russischen Stück. Er kam auf seinem Fahrrad daher, hielt mit einem Finger die Lenkstange und in der anderen Hand eine Blume. Während sich seine Altersgenossen Tag und Nacht für ihre zukünftige Stellung in einem maroden Empire abrackerten, redete Jason bezaubernd über das Bedürfnis nach Schönheit und über die Reinkarnation. »Aber es war nie etwas von einem boru an ihm. Das muß ich zugeben.« Pearl schüttelte den Kopf. Selbst nach so langer Zeit klang Bewunderung in ihrer Stimme. »Nein, nicht in den ersten Jahren. Nie, denke ich. Er war aufrichtig. Er nahm den Mund nie voll wie all die anderen«, seufzte sie. Sie war jung, damals. Sie hatte an Jason und sein funkelndes Fahrrad geglaubt, an seine liebevoll gepflückte Blume, an seine entzückenden, berauschenden Worte. Sie habe ihn aus Schwärmerei geheiratet, sagte sie; doch Jason hatte offenbar schon bald das Gefühl gehabt, er müsse ihre Welt mit den Annehmlichkeiten vervollständigen, die sie im Hause ihres verstorbenen Vaters gehabt hatte – Geschirrschrank, Bücherregale, einem Garten –, statt schlicht mit dem Flair eines guten Arztes. In den Monaten ihrer jungen Liebe war er äußerst zuvorkommend gewesen. »Er rezitierte Gedichte. Richtige Gedichte! Und manchmal spazierten wir abends am Meer, und er erzählte mir von den Sternen und der Venus: das Auge der Liebe am Himmel.« Sie war beeindruckt gewesen von seiner Art, die Sorgen der Welt beiseite zu schieben, sie einfach anzuschauen, durch ihre Augen fast in sie einzudringen – wie ein Lächeln, das sich irgendwo zwischen ihrem Hals und ihrem Herzen festsetzte. Doch diese Fähigkeit, in ihr zu sein, ohne sie überhaupt zu berühren, verschwand nach der Hochzeit, als ob das physische Eindringen in der ersten Nacht es ihm verunmöglichte, sie auf eine andere Weise zu erreichen. Pearl war besorgt, weil sie nicht gleich schwanger wurde, denn sie glaubte aufgrund der abgekürzten biologischen Unterweisungen ihres Vaters, daß dies so sein müsse. »Es war mein Fehler, ich spürte genau, daß es nicht auf Anhieb passiert war«, kicherte sie, »irgendeine instinktive Technik, die ich noch nicht ganz beherrschte und die beim Herausspritzen seines Spermas, in der exakt gleichen Sekunde – ping! –, ein Ei hätte herausspringen lassen.« Jason schien enttäuscht gewesen zu sein. Kein Tag verging nach der Hochzeit, an dem er sich nicht den Kopf zerbrochen hätte, um etwas zu finden, was ihr Leben in eine luxuriösere Umlaufbahn geschossen hätte. Mit der Zeit wurde es zu einer Besessenheit. Er spottete über die Zulassungsprüfungen zu öffentlichen Ämtern und klagte über seine verpaßte Chance, einen Beruf zu erlernen. Er war fest entschlossen, den Schimmel wegzukratzen und eine Bresche in Colombos Außenhandelssektor zu schlagen. Alle Zeichen von Leichtsinn verflüchtigten sich. »Man hätte glauben können, unsere Heirat habe einen missionarischen Eifer in ihm ausgelöst.« Sie konnte diese Verwandlung nicht verstehen. »Woher kommt dieser Drang, fragte ich mich. Dieser Drang, ständig wegzugehen? Warum war er nicht die ganze Zeit bei mir, wo ich doch noch nicht über den Tod meines Vaters hinweggekommen war?« Pearl blickte mich an, als ob die Antwort in meinem Kopf säße. Aber sie war es doch, die die ganze Geschichte kannte, nicht ich. Jason Ducal war kein vermögender Mann. Zwar hatte Pearls Vater für sie vorgesorgt, bevor er den Rest seines bescheidenen Vermögens einem Hospiz vermachte; Jason selber besaß jedoch kein eigenes Geld. Und das mußte ihn nach seiner Heirat sehr beschäftigt haben. Ihr erstes Ehejahr war noch nicht um, und Jason hatte sich – 1936 war das gewesen – bereits eine führende Stellung bei Sanderson Bros. gesichert, einer relativ jungen britischen Firma in Colombo, die mit Tee, Überseetransporten und den üblichen Waren handelte, die das Leben in einem in die Jahre gekommenen Empire angenehm machen. Es war eine Sensation. Kein Ceylonese hatte bisher in diese letzte Bastion des britischen Kolonialkonservativismus eindringen können, nicht auf diese Stufe zumindest. »Die einzigen brownskins vor ihm waren Botenjungen und Bürogehilfen.« Pearl rümpfte die Nase. Die Firma war damals sehr weitblickend; sie hatte erkannt, daß man auf der die Insel überflutenden Nationalismuswelle segeln und lokale Manager ausbilden mußte. Daß man eine einheimische Elite entwickeln und sich vor der unabwendbaren Machtübergabe in ein echtes ceylonesisches Unternehmen verwandeln mußte. Während andere englische Firmen das ganze Gerede von Ceylonisation als Unsinn abtaten, hatten Sanderson Bros. den Gedanken vorsichtig aufgegriffen; sie waren auf das Experiment vorbereitet. Jason überzeugte die Seniorchefs davon, daß er der Mann war, der ihnen den Weg in die Zukunft öffnen würde, und sie beriefen ihn in eine geschäftsführende Position, die die Redaktoren der lokalen jährlichen Firmenverzeichnisse verblüffte. »Wer ist überhaupt diese Großschnauze? Die Plantagenbesitzer im Hill Club waren zutiefst empört«, fügte Pearl glucksend hinzu. Doch weder Jason noch Pearl waren sich wirklich bewußt gewesen, wie sehr diese Ernennung zu einem Wendepunkt in ihrem Leben würde. »Er grinste übers ganze Gesicht an dem Tag, als er den Job bekam. Ich weiß nicht, wie er es anstellte, ihn zu bekommen, doch er konnte damals jede Menge Charme versprühen, wenn er etwas erreichen wollte.« Pearl sog nachdenklich die Lippen ein. »Ich war glücklich, ihn so glücklich zu sehen, doch als ich ihn küssen wollte, wich er zurück. Er wollte reden. Es war das letzte Mal, daß er wirklich reden wollte. Er war noch nicht einmal ins Büro gegangen, und schon träumte er von seinem Haus. ›Ein hübsches eigenes Haus mit einem Garten.‹« »Stellten sie ihren Angestellten ein Haus zur Verfügung?« »Nein, das nicht. Er war ja der erste kaluwa. In diesen Firmen bekamen nur die Briten Häuser. Doch er sah voraus, daß es eines Tages Leuten wie uns möglich sein würde, ein Haus zu kaufen. Sein Gesicht strahlte vor Hoffnung. Er war fest entschlossen, es aus eigener Kraft zu schaffen im Gegensatz zu den anderen dusseligen Knallköpfen in Colombo mit ihren speichelleckerischen Vorfahren und ihrem zwielichtigen Geld.« Jason bewies, daß er für die Firma ein unschätzbarer Gewinn war. Er stieg schnell in eine Position auf, in der er oft die Insel...


Gunesekera, Romesh
Romesh Gunesekera, geboren 1954 in Colombo, wuchs in Sri Lanka und auf den Philippinen auf, ehe er sich 1971 in London niederließ, wo er seitdem lebt. Riff, sein erster Roman, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und stand auf der Shortlist des Booker Prize. Sandglas war sein zweiter Roman und wurde mit dem BBC Asia Award for Achievement in Writing & Literature ausgezeichnet.

Waeckerlin Induni, Giò
Giò Waeckerlin Induni, in einer italienischsprachigen Familie in Zürich aufgewachsen, war Lektorin und Übersetzerin vorwiegend aus dem Italienischen, Spanischen und Englischen.



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