E-Book, Deutsch, Band 5, 280 Seiten
Reihe: Deutsche Ausgabe
Guénon / Steinke Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7583-7762-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Deutsche Ausgabe Band 5
E-Book, Deutsch, Band 5, 280 Seiten
Reihe: Deutsche Ausgabe
ISBN: 978-3-7583-7762-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bevor sich unsere westlich geprägte Gedankenwelt so weit öffnen kann, dass sich die Vorstellungen der hinduistischen Lehre erfassen lassen, muss man sich zuerst grundsätzlich vor Augen führen, was unter wahrer Tradition zu verstehen ist. Die vielen Hindernisse und Vorurteile müssen beiseite geräumt werden, die die moderne westliche Denkweise beschränken. Erst nach dieser Vorarbeit kann tatsächlich mit einer "Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre" begonnen werden. Und genau dies tut René Guénon, indem er in Teil 1 der vorliegenden Studie fest verankerte Vorstellungen der westlichen Wissenschaft und Geisteshaltung in Frage stellt und in Teil 2 grundlegende Ausführungen zur traditionellen Lehre und der östlichen Denkweise darlegt. Erst Teil 3 beschäftigt sich dann mit der hinduistischen Lehre im Detail und in Teil 4 geht Guénon zum Abschluss noch auf die erfolglosen Auslegungsversuche dieser Lehre durch die westlich geprägten Orientalisten ein. Die vorliegende Studie ist daher nicht nur als ein Einstieg in den Hinduismus zu sehen, sondern auch in die traditionelle Lehre allgemein und ihre Wirkungen auf den verschiedenen Ebenen. Durch das Studium der weiteren Veröffentlichungen Guénons kann dieser Einblick vertieft und erweitert werden und dem unvoreingenommenen Leser in vielerlei Hinsicht die Augen öffnen. In den Bänden "Einführung in das Studium der hinduistischen Lehre", "Der Mensch und sein Werden nach der Vedanta" und "Studien über den Hinduismus" sind die tiefen Kenntnisse René Guénons über die traditionelle hinduistische Lehre zusammengefasst. Zum besseren Verständnis sollten diese Werke in der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden. Nach über 20 Jahren der Vorbereitung macht die 14-bändige deutsche Ausgabe die meisten Veröffentlichungen René Guénons erstmals in deutscher Sprache zugänglich und ermöglicht es, dem interessierten deutschsprachigen Leser tiefer in die traditionelle Denkweise und die Lehre der metaphysischen Prinzipien vorzudringen.
René Guénon (1886-1951) sah sich als Übermittler und Botschafter einer traditionellen Lehre, die seit Anfang der Menschheitsgeschichte unverändert wirkt. Die in ihr enthaltenen Wahrheiten zeigen sich als metaphysische oder göttliche Prinzipien, die je nach Zeit und Ort in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten. Sie bilden die Grundlage dessen, was man in den einzelnen Traditionsformen wie dem Hinduismus, Taoismus, Islam oder Christentum heute noch finden kann. Seit 1909 veröffentlichte er eine Vielzahl an Artikeln und Bücher und unterhielt bis zu seinem Tod einen regen Briefverkehr mit seinen Lesern. Seine Werke hatten nie einen großen Leserkreis, führten aber dennoch dazu, dass die traditionelle Sichtweise im modernen Westen wiederentdeckt wurde und sich verbreiten konnte.
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2. Die Abweichung
Wenn wir das, was normalerweise als das klassische Altertum angesehen wird, mit den östlichen Zivilisationen vergleichen, wird man zumindest in mancher Hinsicht leicht erkennen, dass dieses mehr mit den östlichen Zivilisationen gemeinsam hatte als es das moderne Europa heute hat. Die Unterschiede zwischen Ost und West scheinen also immer größer zu werden. Diese zunehmende Abweichung voneinander kann in dem Sinne als einseitig verursacht bezeichnet werden, dass es nur der Westen ist, der sich verändert, während der Osten in allgemeiner Hinsicht in etwa so geblieben ist wie in Zeiten, die wir gewohnt sind als altertümlich zu bezeichnen, die aber nichtsdestotrotz vergleichsweise jung sind. Stabilität, vielleicht sogar Unveränderbarkeit, ist eine Qualität, die man im Allgemeinen den östlichen Zivilisationen und besonders der chinesischen Zivilisation zugesteht, aber es ist wohl nicht ganz so einfach, deren Wert übereinstimmend zu beurteilen. Die Europäer sehen seit jener Zeit, als sie damit begonnen haben, an „Fortschritt“ und „Evolution“ zu glauben, also seit etwa Anfang des 19. Jahrhunderts, in dem Fehlen von Veränderungen ein Zeichen der Unterlegenheit. Wir für unseren Teil bewerten dies als einen ausgeglichenen Zustand, den der Westen nicht erreicht hat. Diese Stabilität zeigt sich sowohl im Kleinen wie im Großen. Ein auffälliges Beispiel dafür kann man in der Tatsache finden, dass „Mode“ mit ihren andauernden Änderungen nur im Westen zu finden ist. Kurz gesagt scheinen insbesondere die Menschen des modernen Westens mit einer schnell änderbaren und inkonstanten Natur ausgestattet zu sein, die nach Bewegung und Anregung verlangt, wogegen die östliche Natur annähernd die gegenteiligen Merkmale aufweist. Wenn man diese Abweichung, die wir gerade besprechen, in einem Diagramm darstellen wollte, wäre es falsch, zwei Linien zu zeichnen, die von einer Achse weg in gegensätzlicher Richtung gezogen werden. Der Osten müsste als die Achse selbst dargestellt werden, während der Westen eine Linie wäre, die ausgehend von dieser Achse sich immer weiter und weiter entfernen würde, ähnlich wie der bereits erwähnte Vergleich des aus einem Stamm herauswachsenden Zweiges dies versinnbildlicht hat. Die Verwendung dieser Symbolik ist umso gerechtfertigter als der Westen zumindest vom Beginn der Epoche, die als die historische bezeichnet werden kann, davon gelebt hat, entweder direkt oder indirekt seine Ideen vom Osten zu entleihen, soweit man überhaupt davon ausgehen kann, dass der Westen ein eigenes geistiges Leben hatte. Die griechische Zivilisation war weit davon entfernt, jene Ursprünglichkeit zu besitzen, die ihr von Menschen mit eingeschränkter Vorstellungskraft zugeschrieben wird – Menschen, die auch bereit wären zu behaupten, dass sich die Griechen selbst verleumdet haben, als sie ihre Schuld gegenüber den Ägyptern, Phöniziern, Chaldäern, Persern und sogar gegenüber Indien anerkannt haben. All diese Zivilisationen sind unvergleichlich älter als die der Griechen, was aber einige Leute, die von einer Art „klassischem Vorurteil“ geblendet sind, nicht davon abhält, fortwährend die Theorie zu vertreten, dass gerade jene Zivilisationen in der Schuld der Griechen stünden und sich unter deren Einfluss weiterentwickelt hätten, obwohl dies im Gegensatz zu jeglichem Beweis steht. Es ist äußerst schwer, mit solchen Menschen eine Diskussion zu führen, da ihre Ansichten auf tief verwurzelten und vorgefassten Meinungen beruhen. Wir werden aber auf dieses Thema noch später zurückkommen, um es ausführlicher zu behandeln. Trotz allem ist es auch richtig zu sagen, dass die Griechen ein gewisses Maß an Ursprünglichkeit besaßen – wenn auch nicht von der Art, die im Allgemeinen angenommen wird. Diese Ursprünglichkeit beschränkt sich hauptsächlich darauf, Formen zu finden, über die die von anderen Zivilisationen entliehenen Vorstellungen dargestellt werden konnten. Dabei wurden diese Vorstellungen mehr oder weniger gelungen an ihre eigene Mentalität anpasste, die sehr verschieden von der der Menschen aus dem Osten war und die in vieler Hinsicht zu ihr sogar direkt im Gegensatz stand. Bevor wir nun weitergehen, möchten wir klarstellen, dass wir kein Verlangen danach haben, die Ursprünglichkeit der hellenischen Zivilisation hinsichtlich für uns als zweitrangig anzusehende Gesichtspunkte zu erörtern, wie zum Beispiel bezüglich der Kunst. Wir bestreiten ihre Ursprünglichkeit aus Sicht des rein metaphysischen Standpunktes, der überdies bei den Griechen um ein Vielfaches eingeschränkter war als bei den Menschen aus dem Osten. Diese Beschränkung, zu der man auch „Verengung der Geistigkeit“ sagen könnte, tritt ganz offensichtlich zu tage, wenn wir die Hellenen mit den östlichen Zivilisationen vergleichen, die bis heute überdauert haben und über die wir direkte Erkenntnisse besitzen. Und das Gleiche würde auch bei einem Vergleich mit den untergegangenen Zivilisationen des Ostens zutreffen, nach allem, was über diese bekannt ist und hinsichtlich der Merkmale, die diese mit den anderen östlichen Zivilisationen sowohl des Altertums als auch der Neuzeit gemeinsam haben. Das Studium des Ostens, wie wir ihn heute kennen, wäre tatsächlich eine große Hilfe, um das Altertum besser verstehen zu können, insbesondere hinsichtlich der Qualität der Unveränderbarkeit und Stabilität, auf die wir uns bereits bezogen haben. Auch das Verständnis für die griechische Antike würde dadurch gefördert werden. Hierzu können wir ja nicht auf direkte Zeugnisse zurückgreifen, da es sich auch hier um eine Zivilisation handelt, die erloschen ist. Die Griechen unserer Zeit können kaum für sich beanspruchen, die Vertreter der antiken Hellenen zu sein, von denen sie vielleicht nicht einmal die direkten Nachfahren sind. Man sollte nicht vergessen, dass die griechische Gedankenwelt in ihrem Wesen bereits westlich war, und dass sie neben ihren anderen Merkmalen den Ursprung und den Keim der meisten jener Neigungen in sich trug, die sich später bei den modernen Menschen des Westens entwickelt haben. Wir dürfen daher den Vergleich zwischen der griechischen und den östlichen Zivilisationen nicht zu weit führen. Wenn er jedoch im rechten Verhältnis bleibt, kann er eine beträchtliche Hilfe für jene bieten, die ein echtes Verlagen danach verspüren, die Antike zu verstehen und daran Interesse haben, sie unter Zuhilfenahme von möglichst wenigen Mutmaßungen auslegen zu können. Wenn wir nur das berücksichtigen, was mit Sicherheit über den Charakter der griechischen Geisteshaltung bekannt ist, laufen wir letztlich nicht Gefahr, uns in Mutmaßungen zu verlieren. Alle neueren Neigungen, auf die wir in der griechisch-römischen Welt treffen, sind fast ausschließlich von einer einschränkenden und begrenzenden Natur. Daher sind die Vorbehalte, die bei einem Vergleich mit dem Osten entstehen, allein aus der Befürchtung abgeleitet, den Gedanken der Menschen des antiken Westens eine Qualität zuzuschreiben, die sie in Wahrheit niemals besessen haben. Sobald man etwas findet, das diese vom Osten übernommen haben, darf man sich jedoch nicht vorstellen, dass sie dies völlig aufgenommen hätten, noch ist es gerechtfertigt, aus dieser Anleihe zu schließen, dass es sich dabei um die gleichen Gedanken handeln würden. Man kann viele Ähnlichkeiten finden, zu denen es im modernen Westen keine Parallele mehr gibt. Dennoch ist es eine Tatsache, dass sich das Wesen der östlichen Gedankenwelt deutlich vom dem des Westens – selbst von dem der Antike – unterscheidet. Daher wird man, solange man seinen Geist nicht von den westlichen Weltanschauungen befreit – was auch die des Altertums einschließt, – unweigerlich jene Aspekte der östlichen Gedankenwelt übersehen oder falsch beurteilen, die am wichtigsten und charakteristischsten sind. Da es klar ist, dass das „Höhere“ nicht aus dem „Geringen“ hervorgegangen sein kann, sollte es nachvollziehbar sein, welcher Kategorie eine Zivilisation angehört, die von anderen ihre wesentlichen Merkmale entliehen hat. Zu dem Bild, das wir vorhin benutzt haben, bleibt noch anzumerken, dass sein größtes Defizit wie bei allen schematischen Darstellungen darin liegt, dass es die zugrundeliegenden Themen zu sehr vereinfacht, in dem es die Abweichung als sich kontinuierlich vergrößernd von den Zeiten der Antike bis in die Gegenwart darstellt. Tatsächlich aber gab es Stillstände in dieser Zunahme und sogar Zeiten der Annäherung, als der Westen wieder unter dem direkten Einfluss des Ostens gelangt war: Wir weisen hier hauptsächlich auf die Periode Alexanders des Großen hin sowie zu den Beiträgen, die die Araber während des Mittelalters zur europäischen Gedankenwelt geleistet haben, von denen einige ihre eigenen waren, während sie den Rest aus indischem Wissen abgeleitet hatten. Ihr Einfluss auf die Entwicklung der Mathematik ist bekannt, aber bei weitem nicht auf dieses spezielle Gebiet beschränkt gewesen. Die Abweichung wurde in der Renaissance wieder größer und der...