E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Gurian Glimmernächte
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-401-80575-7
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-401-80575-7
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Dreizehn Tage zuvor …
Die Liebe war schuld. Wie immer, wenn alles in ihrem Leben schieflief. Pippa starrte aus dem Fenster der weißen Stretchlimousine in die öde Landschaft und konnte nicht glauben, dass sie wirklich in diesem Auto saß und dem Ende ihres bisherigen Lebens entgegenraste.
Manchmal war die Liebe noch schlimmer als der Tod. Der Tod heuchelte wenigstens nicht. Die Liebe dagegen verwandelte völlig normale Menschen zuerst in unerträgliche Glückslächler und dann in weinende Verlierer, die verzweifelt nach dem streng geheimen Code, dem Zauberwort suchten, das ihre Liebe in die einzig ewige verwandeln würde.
So ein Zauberwort, das hätte sie auch gern, um das Ganze noch zu stoppen, aber Pippa wusste keines und deshalb wurde sie immer schneller durch die kupferrote Abenddämmerung zum Ende des gottverlassenen Horizonts gefahren, dorthin, wo sie nicht sein wollte.
Die Geschwindigkeit in die falsche Richtung hatte sich verdoppelt, nein vervierfacht, seit ihre Mutter sie mit der Hochzeit überrumpelt hatte. Und jetzt saß sie in dieser Luxuskarosse in the middle of nowhere und übermorgen war schon der Polterabend.
»Das kann nicht dein Ernst sein!«, hatte Pippa ihre Mutter noch vor einigen Wochen verzweifelt angebrüllt.
Doch ihre Mutter hatte nur genickt und ihr diesen gefährlichen »Die Liebe kann alles und darf alles«-Blick zugeworfen. Den kannte Pippa bis dahin nur von ihren Freundinnen, die sich so oft verliebten, wie Pippa Schnupfen bekam. Meist war es dann auch genauso schnell wieder vorbei, aber natürlich nur mit schrecklichen Herzschmerzen und jeder Menge Tränen. Offensichtlich war es aber noch sehr viel schlimmer, wenn Ältere infiziert wurden, denn bei ihrer Mutter blieb es nicht bei einem Liebesschnupfen, ganz im Gegenteil, dieses gewisse Lächeln durchglühte jetzt ständig ihr Gesicht und ihre Augen leuchteten, als würden Glücksfeen dahinter brennende Wunderkerzen schwenken. Der Blick der Eingeweihten. Der Liebenden, die ihre rosa Brille trugen wie einen Orden.
»Aber … nach Dänemark? Im Ernst? In eine Ruine am anderen Ende der Welt?«
Daraufhin stahl sich ein sanftes Lächeln auf die Lippen ihrer Mutter, so als wäre Pippa ein neugeborenes Fohlen, das nur einen freundlichen Schubs brauchte, um aufzustehen und laufen zu lernen.
»Mein Schatz, du übertreibst, es ist keine Ruine, sondern ein Schloss«, hatte sie ihre Tochter sanft korrigiert. »Und es wäre schön, wenn du ein wenig offener für Veränderungen sein könntest. Nimm dir ein Beispiel an Matteo: Er findet unseren Umzug aufregend und freut sich schon auf seine neue Familie!«
Na klar, ihr Bruder war fünf Jahre alt und freute sich auch über Würstchen im Schlafrock, Grashüpfer und Furzkissen.
»Ich bin definitiv zu erwachsen, um über einen Stiefvater zu jubeln, der direkt von der trostlosen Hölle am kalten Ende der Welt kommt.«
Ihre Worte löschten diesen seltsamen »Wunderkerzen Pferdemutter die Welt ist Liebe«-Blick im Gesicht ihrer Mutter schlagartig aus, ließen aber keinen Triumph, sondern nur ein schales Gefühl in Pippas Magen zurück. Zugegeben, das war nicht sehr nett gewesen. Manchmal gingen die Worte einfach mit ihr durch.
»Niemand erwartet, dass du Frederik als deinen Vater akzeptierst, aber ein wenig mehr Respekt hielte ich doch für angebracht. Wir wohnen keineswegs in der Hölle, sondern auf Ravensholm, einem wunderbar renovierten Schloss mit jedem erdenklichen Luxus.«
»Als ob ein Schloss das Tollste auf der Welt wäre!«
Ihre Mom hatte den Kopf geschüttelt. »Pippa, mein Schatz, es ist doch eine wundervolle Chance für uns alle! Die meisten Menschen träumen davon, ohne Sorgen leben zu können. Und noch dazu an einem so magischen Ort, an dem die Ostsee und die Nordsee ineinanderfließen.«
Pippa seufzte. Der einzige Ort, den sie magisch fand, war Berlin.
»Darf ich noch einen Film?«, unterbrach Matteo ihre Gedanken und nahm die Mickymaus-Kopfhörer runter, mit denen er sich »Die Eiskönigin« auf dem großen Monitor angeschaut hatte. Mit glasigen Augen und roten Wangen strahlte er sie an, griff sich den fünften der unzähligen Schokoriegel, die zusammen mit Chips, Gummibärchen und Erdnüssen in einem Körbchen auf dem Minikühlschrank standen. Sogar dort prangte das Wappen der Familie von Raben, genauso wie auf den Gläsern, Servietten und den weißen Samtkissen, die neben ihnen auf der Bank aus weißem Leder lagen: Ein Rabe stand mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Ritterhelm, der durch Dornenranken mit einem Schild verbunden war, auf dem man rechts und links je zwei silberne Eichenblätter erkennen konnte. Sie flankierten ein F in der Mitte, dessen Querbalken herunterhingen, als ob sie müde wären. Offensichtlich war Graf Frederik sehr stolz auf seine Herkunft. Pippa fand, das einzig Gute daran war, dass er und seine Familie zur deutschen Minderheit in Dänemark gehörten, denn so mussten sie nicht auch noch Dänisch lernen.
Matteo riss den Riegel auf und verschlang ihn, als wäre er am Verhungern.
»Wenn wir jetzt auf einem Schloss wohnen, bin ich dann auch ein Prinz?«, fragte er Pippa mit vollem Mund.
Gegen ihren Willen musste sie lachen. Ihr Bruder hatte gerade wenig von einem Prinzen, er sah viel eher wie ein klebriges Schmuddelkind aus.
»Vielleicht, wenn du dir das Gesicht waschen würdest!«, sagte sie und reichte ihm eine wappengeschmückte Serviette.
»Echt?« Matteo klang sehr enttäuscht. »Glaubst du, ein Prinz muss sich jeden Tag waschen?« Er griff sich eine Packung Chips und riss sie mit einem lauten Knistern auf.
»Na klar, das weiß doch jeder! Prinzen müssen immer eins a aussehen, schöne Kleider tragen und wie geleckt sein. Da musst du jeden Tag duschen und Haare waschen!« Pippa versuchte, ernst zu bleiben, und überlegte, ob sie etwas gegen die Chipskrümel tun musste, die er überall auf den weißen Polstern verteilte, und entschied sich dagegen.
»Das ist ja total blöd«, überlegte Matteo finster, dann hellte sich seine Miene plötzlich wieder auf. »Denkst du, wenn ich alle zwei Tage dusche, kann ich wenigstens ein halber Prinz sein?«
»Klar.« Pippa brachte es nicht übers Herz, seine Begeisterung zu dämpfen. »Dann bist du der Halbprinz Matteo!«
»Pipps …« So nannte er sie, seit er angefangen hatte zu sprechen. Es war sein zweites Wort gleich nach Mama gewesen. »Müssen wir Mamas neuen Mann mit Herr Graf Frederik anreden? Oder sagen wir Papa zu ihm?«
Pippa schluckte ein paar Mal. Sie würde niemanden Papa nennen, ihr Vater war zwar seit fünf Jahren tot, aber sie vermisste ihn immer noch jeden Tag.
»Also ich glaub, ich sage Freddy zu ihm.« Matteo nickte und zerknüllte die leere Chipstüte.
Sie verbiss sich das Lachen, um ihn nicht zu kränken. Doch der Gedanke, dass irgendjemand auf der Welt zu diesem Edelgrafen »Freddy« sagen würde, war schon komisch. Der unnahbare Graf Frederik von Raben war nicht nur groß und blond, Pippa fand, er wirkte einschüchternd wie eine Kampfwikingerversion von Mads Mikkelsen in Hannibal. Dafür war sie ihm sogar dankbar, denn so sah er wenigstens kein bisschen aus wie ihr Vater.
»Freddy hört sich gut an.«
»Pipps, mir ist schlecht.« Matteo war tatsächlich ein bisschen blass um die Nase und das erinnerte Pippa daran, dass ihr Bruder noch keine einzige längere Autofahrt ohne eine Kotzattacke überstanden hatte. Mist, sie hätte ihn daran hindern sollen, sich mit all dem Knabberzeug vollzustopfen.
Sie suchte den Knopf für die Fenster, fuhr die Scheiben der Limousine hinunter, um frische Luft für Matteo hereinzulassen.
»Besser?«, fragte sie ihn.
Er nickte stumm, dann starrten sie beide nach draußen.
Von wegen ein magischer Ort! Immer noch nur plattes Land mit einem unendlich weiten blauroten Himmel über den monströse schwarzgraue Wolkenformationen jagten.
»Glaubst du«, fing ihr Bruder an und klang viel matter als eben noch, »dass es wirklich solche teuflischen Spiegelsplitter gibt, wie in ›Die Eiskönigin‹? Und dass man, wenn man die ins Auge kriegt, dann alles nur verzerrt und böse sieht?«
Pippa fühlte sich irgendwie ertappt. Vielleicht sollte sie dieser Hochzeit und Dänemark eine Chance geben und aufhören, innerlich zu maulen und überall nur Übles zu wittern.
»Das ist totaler Quatsch«, sagte sie voller Überzeugung. »Das ist doch nur ein Märchen.«
Sie drückte seine Hand und Matteo seufzte erleichtert.
Aber Pippa war nicht ganz ehrlich zu ihm. Auch wenn sie nicht an die Spiegel des Teufels glaubte, so waren ihr die Heiratspläne ihrer Mutter manchmal schon wie Teufelswerk vorgekommen und sie hatte heimlich alles recherchiert, was sie über die Familie von Raben finden konnte.
Es war ihr einfach merkwürdig erschienen, dass ihre Mutter sich so plötzlich in einer einzigen Nacht so rettungslos verliebt hatte, dass sie wieder heiraten wollte. Deshalb hatte Pippa zuerst gedacht, der...




