E-Book, Deutsch, Band 3, 336 Seiten
Gurt Graubündner Schreie (ehemals: Der Puppenmacher)
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70266-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Landjäger Caminada und der Puppenmacher
E-Book, Deutsch, Band 3, 336 Seiten
Reihe: Ein Fall für Landjäger Caminada
ISBN: 978-3-311-70266-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Donnerstag, 25. September 1952
Chur, Untere Au
Toni, der Knecht, war wütend, und das zu Recht, wie er fand. Er schimpfte über den alten Bauern Prevost, denn dieser verreckte Khaib hatte ihn in der Dunkelheit losgeschickt, und zwar genau in dem Moment, als er sich in der Kammer hingelegt hatte. Nur deswegen lief er nun Richtung Untere Au. Die verlotterte kleine Rheinsäge, die er soeben hinter sich gelassen hatte, stand ebenso einsam inmitten von Wiesen und Äckern wie der alte Hof im Gebiet Riet-Bettlerküche, von dem er gekommen war. In der Ferne, zu seiner Linken, schimmerten die Lichter des Städtchens, das friedlich im dunklen Kranz von Bergen ruhte.
Am späten Vormittag hatte er in der prallen Herbstsonne das steile Bord beim Rheindamm gemäht, damit er am nächsten Tag den letzten Schnitt des Jahres einfahren konnte. Das karge Grün, durchzogen von harten, bitteren Stängeln, gab zwar kein Futter fürs Vieh, aber als Einstreu im Winter taugte es allemal. Nach der Mittagspause, in der er reichlich Brot und Speck gegessen und den sauren Most aus der bauchigen Bastflasche getrunken hatte, streckte er die müden Glieder im warmen Gras von sich und schlief ein.
Der Schrecken war groß, als er eine Stunde später erwachte. Die verlorene Zeit konnte er nur mit Müh und Not aufholen. Als er fertig war, packte er seinen speckigen Lederrucksack, verstaute die leere Mostflasche darin und eilte über die Felder. Beim Hof angekommen, bemerkte er, dass er die verreckte Sense vergessen hatte – ausgerechnet die neue, die er eigentlich nicht hätte nehmen dürfen. Vielleicht würde der Prevost ja bis zum nächsten Tag nichts merken, hoffte er. Vergebens. Der Bauer, sturer als sein griesgrämiger alter Muni, hätte ihm mit dem Rechenstecken den Scheitel neu gezogen, wäre er nicht sofort aus dem Näscht gestiegen und losmarschiert.
»Wär kai Grind hät, soll gefälligst laufen, du blöder Galöri, du!«, hatte der Prevost ihm hinterhergewettert, bevor er die Haustüre derart zuschlug, als dürfte sie nie mehr aufgehen.
»Elender Geizkragen!«, hatte Toni vor sich hin gefaucht. »Als hätt ich heute nicht mehr als genug geschafft für den himmeltraurigen Lohn und die karge Kammer, die im Winter so kalt ist wie das Herz deiner Frau selbst im heißesten Sommer. Die Sackratten sollen dich auffressen, bei lebendigem Leib.«
Zwanzig Minuten ging er nun schon auf dem Feldweg. Der Zorn in seinem Ranzen war nicht weniger geworden, als er endlich das Bord erreichte. Die Kühle der sternenklaren Herbstnacht hatte das Gras bereits feucht werden lassen. Eine so tiefe Stille lag über dem Churer Rheintal, als hätten sich alle Geräusche des Tages mitsamt dem Vieh zur Ruhe gelegt.
Der Knecht war sich sicher, irgendwo vor ihm, am Ende des gemähten Abschnitts, musste die Sense liegen.
»Am Tüfel as Ohr ab«, schimpfte er, als er sie nicht gleich entdeckte. Er zog die Militärtaschenlampe aus dem Hosensack und wollte sie gerade anknipsen, als vom Rheindamm der gellende Schrei einer Frau ertönte.
Toni riss die Schultern hoch. Angstvoll blickte er sich um. Die Wiesen und Äcker bildeten ein dunkles Mosaik. Einzig bei der zehn Fußminuten entfernten alten Gasfabrik sah er einen schwachen Lichtschein. Der Wald auf dem Rheindamm über ihm war zappenduster. Hinter dem Fluss erhob sich der mächtige Calanda, dessen Gipfelregionen beinahe dreitausend Meter erreichten und auf dessen höchster Alp er von Kindesbeinen an im Sommer als Hirte arbeitete.
Der Knecht hätte nicht behaupten können, dass er in seinen dreißig Lenzen bereits viele Schreie gehört hätte. Doch in dem hier lag Todesangst, da war er sich sicher. Liebend gerne hätte er deshalb Fersengeld gegeben, wie immer, wenn es auch nur etwas brenzlig wurde. Aber vielleicht war der Angreifer, falls es denn einen gab, ja bloß ein schwächlicher Städter, den er mit der scharfen Sägaza verscheuchen konnte? Dann, ja dann hätte er endlich was in den Beizen zu erzählen.
Er leuchtete das Bord vor sich aus, fand die Sense, nahm sie in seine kräftige Rechte und fühlte sich schon etwas sicherer.
Der Schrei musste vom schmalen Weg der Rheinpromenade gekommen sein. Toni sammelte all seinen Mut, stieg hoch und lief dann am Waldrand entlang, bis er eine lichte Stelle im Unterholz entdeckte, durch die hindurch er sich zum Weg zwängen konnte – sein Herz hämmerte, sein Mund war trocken.
Zaghaft leuchtete er den karrenbreiten Weg in beide Richtungen aus. Außer seinem stockenden Atem war nur das leise Rauschen des Rheins zu hören. Kaum zu glauben, dass sich in den warmen Monaten Liebespaare im Rheinwäldchen tummelten wie die Frösche im Teich bei der Bettlerküche, dachte Toni. Im schwankenden Schein der Taschenlampe wirkte das Dickicht bedrohlich lebendig. Trotzdem ging er in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war, immer darauf gefasst, dass ihn jemand aus dem Hinterhalt angreifen könnte.
Er war weiß Gott nicht der Mutigste. Der alte Prevost hatte deswegen schon manches Mal gewettert: »Herrgottsakrament, Knecht, wo bleibt bloß dein Schneid? Aber eine so große Schnorra wie ein Krokodil …«
Und es stimmte ja. Toni fürchtete sich noch immer vor den Hunden auf dem Hof und vor dem großen muskelbepackten Muni ebenso. Am letzten Stierenmarkt vor der Markthalle hatten einige Churer und Trimmiser Bauern ihn mit ihren Sprüchen angezündet, dass er den größten Stier geschenkt bekäme, wenn er sich trauen würde, an dessen Sack zu ziehen. Noch heute sah er die Runde vor sich, hörte, wie sie dreckig lachten, ihn verhöhnten. Jetzt war es an der Zeit, jetzt wollte er sich und vor allem allen anderen beweisen, dass er kein Hosenscheißer war.
Nach fünfzig Metern sah er etwas Weißes vor einem dicken Baumstamm liegen und ging vorsichtig näher, den Lichtkegel darauf gerichtet.
»Gott sei Dank, bloß ein Fetzen Stoff«, flüsterte er. »Wahrscheinlich liegen geblieben nach einem Picknick im Sommer«, und ging in einigem Abstand am Baum vorbei. Seltsamerweise roch es dabei intensiv nach Flieder.
Als er mit der Taschenlampe zurückschwenkte, gefror ihm der Atem.
Da saß ein junges Fräulein, an den Stamm gelehnt. Der wache und doch milde Blick aus ihren geschminkten Augen war zum Rhein hin gerichtet, der als schwarzes Band in seinem steinernen Bett vorüberfloss. Im Schoß hielt sie ein Sträußlein Herbstzeitlose.
Sie war schön, ihr schwarzes schulterlanges Haar in modische Wellen gelegt, das weiße Kleid mit den Puffärmeln zu leicht für die Jahreszeit. Sie war es, die nach Flieder duftete. Der Lack ihrer knallroten Schuhe mit den flachen Absätzen glänzte im Licht von Tonis Lampe.
Zaghaft streckte er seine Hand nach ihr aus, als müsste er einen streunenden Hund einfangen. Sie behielt ihr Lächeln bei, den sanften, weichen Ausdruck, auch als er ihre Wange mit zitternden Fingern berührte. Nichts rührte sich in ihrem Gesicht. War sie tot? Wie eine Puppe sah sie aus. Und dann, ein Blinzeln!
Hals über Kopf stürmte er durch das Gehölz davon, dabei verlor er nach wenigen Metern seine Taschenlampe, die auf einen Stein fiel und zersprang. Im ersten Moment sah er nicht mal mehr die eigene Hand vor Augen. Die Sichel der Sägaza blieb im Gestrüpp hängen, so als hätten Hände danach gegriffen. Scharf spürte er plötzlich die kalte Schneide in seinem Gesicht. Warm rann ihm das Blut über die Wange den Hals hinab. Aber er hetzte weiter. Seine Augen ahnten endlich eine Lücke im Dickicht, dann das Licht der Gasfabrik, wie ein Engelsfeuer.
Seine Lunge brannte, er konnte nicht mehr, doch als er sich umdrehte, sah er eine große, kräftige Gestalt, dreißig Meter hinter sich. Er floh in großen Schritten, weiter über die weiche Scholle eines Ackers. Aber er schaffte es nicht, den Abstand zu seinem Verfolger zu vergrößern. Im Gegenteil! Die Gestalt kam näher und näher. Mit allerletzter Kraft flüchtete er sich in den Obsthain vor der Gasfabrik, wo die Äpfel- und Birnenbäume dicht im Schwarz der Nacht beieinander standen.
Er presste sich hinter einen Birnenbaum. Der Schnitt in seinem Gesicht pulsierte, während er seinen Verfolger beäugte, der Baum um Baum abschritt, als plötzlich ein zweiter Frauenschrei die nächtliche Stille zerriss.
Der andere blieb abrupt stehen, dann rannte er fort, als würde er selber verfolgt. Schließlich verschluckte ihn die Nacht.
Toni der Knecht hätte nicht sagen können, wie lange er dort stand. Der zweite Schrei musste von den Plessurgütern her gekommen sein, einer Ansammlung heruntergekommener Gebäude, in denen seltsame Gestalten hausten.
Irgendwann wagte er sich schließlich aus der Deckung und schlich zum Tor der Gasfabrik, die von einem drei Meter hohen Gitterzaun umschlossen war. Der Geruch von Ammoniak, Schwefel und Teer lag schwer über dem Gelände.
Dann schrie er plötzlich los, als müsste die ganze Angst auf einmal raus. »Aufmachen! Aufmachen! Polizei! Polizei!«
Endlich ging in der alten Werkstatt eine Türe auf, ein heller Schein fiel auf den gekiesten Platz.
Der Nachtwächter trat mit einer großen Lampe in der Hand erstaunt ans Gatter. »Gopferdeckel, was ist denn passiert?« Er hielt die Lampe hoch. »Was willst du, du huara Schreihals?«, fragte er unwirsch, ehe er sah, dass der Knecht verletzt war. »Ja, Sternewetter, schau einer mal deinen Grind an.«
Toni stammelte etwas von einem Schrei und einem schönen totlebendigen Puppenfräulein und einem weiteren Schrei und von Händen, die im Wald nach ihm gegriffen hätten, und dass die Landjäger sofort anrücken sollten.
Seraphin Zablonier, der sechzigjährige...




