Gurt | Katharina | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

Gurt Katharina

Die Tochter des Scharfrichters
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7152-7008-1
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Tochter des Scharfrichters

E-Book, Deutsch, 288 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

ISBN: 978-3-7152-7008-1
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es ist der Jahrhundertsommer 2003, eine Hitzewelle hält Europa in Atem. Silvana Casura, eine junge Frau aus Chur, verliert zusehends die Kontrolle über ihr Leben, während sie Nachforschungen über das Mittelalter anstellt. Eine Zeit, in der Chur nicht nur reiche Kaufleute anzog, sondern auch allerlei Gesindel und zwielichtige Gestalten. Auf sonderbare Weise verbindet sich Silvanas Leben mit dem der zehnjährigen Katharina, Tochter des Scharfrichters zu Chur, die im Jahre 1510 in die Mühlen der Inquisition gerät. Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen, sicher Geglaubtes hat keinen Bestand mehr, für Silvana gibt es kein Entrinnen. Sie und Katharina eint ein starker Wille: Sie wollen überleben - und allen Hindernissen zum Trotz ihr Glück finden.

Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
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1


Im Jahr des Herrn 1499

Chur, Freistaat Drei Bünde

Die Glocken der Kathedrale Sankt Mariä Himmelfahrt riefen vom Bischöflichen Hof über Chur die Gläubigen zur heiligen Messe. Es war der erste Sonntag im Mai, der Frühling war endlich ins Land gezogen und hatte den letzten Schnee auf die schroffen Berggipfel rund ums Tal vertrieben. Ein Meer von Krokussen übergoss die erwachenden Alpweiden, ein warmer Südwind strich durchs Rheintal über die sattbunten Blumenwiesen, die sich vor den Toren der Stadt bis hinunter zu den Rheinauen erstreckten. Der Winter war endlich vorbei.

Als sich der erste blasse Streifen des neuen Tages über den schwarzen Bergkämmen zeigte und den Himmel zartrosa färbte, eilte Mertli durch die dunklen Gassen zum Brunnen vor der Sankt Martinskirche, um Wasser zu holen. Das Gotteshaus, das sich hinter ihr in die Dunkelheit erhob, trug wie einige der Häuser noch immer Spuren vom großen Stadtbrand im Jahre 1464. Die Magd ergriff den nun gefüllten Eimer unter einem der vier Hähne des Brunnens. Sie war von der Hüfte aufwärts schief nach links gewachsen. Wie ein knorriger Baum sah sie aus, der aus dem abgeschlagenen Hauptstamm gesprossen war.

Vor siebzehn Jahren war sie in einer Januarnacht 1482 auf den Stufen des Sankt Nikolaiklosters in Chur von einem Dominikanerpater gefunden worden, ein blutiges Bündel, nur mit einem stinkenden Lumpen bedeckt. Erst glaubte der Gottesmann, der Säugling sei tot, doch plötzlich hatte das Kindlein die Äugelein aufgeschlagen, so unverhofft, dass er darüber erschrak und sich eilends bekreuzigte. Er wickelte das Kind in seinen Mantel. Der Wind war eisig schneidend, Schnee wehte ihm ins Gesicht, während er gebeugt über den Kornplatz Richtung Rathausgasse schritt.

Im Heilig-Geist-Spital angekommen, übergab er das Kind der Stadtmagd zur Obhut, da keiner der Hospitaliter zugegen war. Die Frau legte das krumme Mädchen auf einen Holztisch und bekreuzigte sich gleich zwei Mal. Sie war sich sicher, dass das Kind nicht überleben würde, denn in den Wintermonaten starben viele Säuglinge in den ersten Wochen. Dennoch bettete sie das Kind in einen Weidenkorb auf ein Schaffell und deckte es ordentlich zu, damit es die ersten und letzten Stunden in seinem Leben nicht frieren musste.

Wie durch Gottes Fügung klopfte am nächsten Morgen ein erschöpftes, durchgefrorenes Weib an die Pforte. Mit einer Wehe Schneegestöber betrat sie das Spital. Die Frau hieß Marie und war eine Wanderhure, die aus der Freigrafschaft Burgund geflohen war und sich nun als Pilgerin ausgab. Vor wenigen Tagen hatte sie am Ufer des Rheins eine Totgeburt gehabt. Für eine Unterkunft und eine warme Mahlzeit am Tag willigte sie ein, das krumme Kind zu stillen.

Marie mochte das Mädchen. Man hörte die Amme in den nächsten Wochen, mit einem Lächeln im Gesicht, Lieder aus fremden Landen summen, während Mertli sie mit ihren hellblauen Augen anstrahlte. Marie, die Französisch sprach und nur wenige Brocken Deutsch, aber kein Romanisch, kümmerte sich liebevoll um das Mädchen, half im Spital mit und in den Gärten und ging der Stadtmagd eifrig zur Hand.

Zum großen Erstaunen aller dauerte es nicht länger als bei anderen Kindern, bis Mertli laufen konnte. Sie fiel zwar manchmal hin, vor allem wenn sie schnell lief, doch ihr frohes Gemüt und ihr unbändiger Wille ließen sie immer wieder aufstehen. Spielkameraden aber hatte sie keine. Als Tochter einer Unreinen mieden die anderen Kinder sie aus Angst, weil ihre Mutter Marie als Hilfsmagd die Kranken im Siechenhaus Masans pflegte, die mit Lepra, Pocken, der Ruhr oder der Cholera darniederlagen.

Mertli war zweifelsohne krumm, doch ihr Gesicht war schön und ihre Augen so enzianblau, wie sie noch nie jemand zuvor in Chur gesehen hatte.

Das Mädchen schlief auf ihrem Laubsack im Heilig-Geist-Spital nah neben ihrer Mutter, die ihr die französische Sprache beibrachte. Mit sechs Jahren war Mertli alt genug, ihr zur Hand zu gehen: Sie leerte Nachttöpfe, wischte Erbrochenes von den Böden und arbeitete in den Gärten der Planaterra, ohne je zu murren, obwohl ihr der Rücken arg schmerzte.

Als Mertli neun Jahre alt war, erkrankte ihre Mutter im Herbst 1491 am Antoniusfeuer. Innert weniger Tage wurden ihre Gliedmaßen erst blass, dann die Fingerkuppen schwarz. Mit Mertlis Hilfe schleppte sich Marie ins Siechenhaus, da aus Angst kein Fuhrwerk sie mitnehmen wollte.

Fünf lange Tage dauerte es, ehe der Herrgott Marie von ihrem Leid erlöste. Mertli war nicht von ihrer Seite gewichen, hatte sie liebevoll umsorgt, so wie sie es von ihr gelernt hatte. Bevor ihre Mutter starb, flüsterte sie ihr ins Ohr: »Maman, merci pour tout. Je vous aime«, und umarmte sie lange. Dann sang sie mit heller Stimme leise das französische Kinderlied, das ihre Mutter ihr so oft vorgesungen hatte, wenn es Mertli schlecht ging. Die Kleine sah, wie die Augen ihrer Mutter beim Gesang ein letztes Mal freudig schimmerten, ehe sie sich für immer schlossen.

Als Mertli danach vor die Türen des Siechenhauses trat, fühlte sie sich verlassen. Die Sonne hing tief über den Berggipfeln im Südwesten. Dunst lag in der Luft, und es roch nach Herbst. Mit tränenverhangenen Augen lief sie zurück ins Städtchen und legte sich in der folgenden Nacht auf den Strohsack ihrer Mutter.

Der Präzeptor fand bereits am nächsten Tag, es sei nun Zeit, dass Mertli auf den Weiden vor den Toren der Stadt das Geißenhüten lerne, um eine gute Hirtin zu werden. Später, so versprach er ihr, könne sie unter Umständen die Arbeit ihrer Mutter als städtische Hilfsmagd fortführen. Doch bis dahin müsse sie erst einmal vierzehnjährig werden.

Noch gleichentags brachte er sie auf die andere Seite der Plessur zu einem alten Gehöft unterhalb des Galgenhügels. Der alte Bauer war ebenso geizig wie grimmig und behandelte die Kleine schlechter als die Tiere, bei denen sie im Stall schlief. Doch sie war zäh.

Sie arbeitete fleißig auf dem Feld und im Garten und versorgte die Tiere, so gut es ihr Rücken zuließ. Jeden Morgen nach dem Melken trieb sie die kleine Herde ins Gebiet Kalkhofen und vor Sonnenuntergang wieder zurück in den Stall.

Zwei Jahre lang schuftete sie für den hartherzigen Bauern. Dann, im Frühsommer 1493, schien sich ihr Leben zum Besseren zu wandeln.

Eines Abends, als Mertli die Herde zum Gehöft getrieben hatte, stellte sie mit Schrecken fest, dass eine Geiß fehlte. Sie suchte mit den Augen die Umgebung ab, die Weiden waren von Buschreihen und Bäumen durchsetzt, doch sie konnte das Tier nirgends entdecken. Als der Bauer davon erfuhr, trieb er Mertli mit einer Rute vor den Stall, stieß sie zu Boden und drosch wie von Sinnen auf sie ein.

Da ertönte eine tiefe Stimme. Vor ihnen stand der junge Maurus Stratschapetta, der Scharfrichter von Chur, mit seinem zwanzigjährigen Weib Klea. Die beiden waren auf dem Weg zum Galgenhügel.

Der Scharfrichter packte den Bauern am Grind und sperrte ihn eigenhändig kurzerhand in den Schelmenturm, bevor er am nächsten Tag beim Stadtvogt vorstellig wurde. Klea kümmerte sich derweil um das Mädchen. Sie nahm es mit nach Hause in die Scharfrichtergasse und versorgte seine Wunden.

Mertli wurde nach einigem Hin und Her den Stratschapettas zugesprochen, als Gehilfin, denn niemand Rechtes wollte eine schiefe Magd.

Von diesem Tag an kümmerte sie sich um die Tiere des Scharfrichters und half in der Fettsiederei, sie versorgte die Gefangenen im Schelmen- und im Hexenturm und säuberte die zum Himmel stinkenden Stadtkloaken. Ihr schien das alles nichts anzuhaben, wie damals, als sie im Siechenhaus die Todgeweihten gepflegt hatte.

Klea hatte Mertli wie eine jüngere Schwester aufgenommen. Sie gab ihr sogar eine Kammer im Haus.

Auch deshalb eilte die nunmehr siebzehnjährige Magd durch die Morgendämmerung. Mit dem überschwappenden Kessel in der Rechten und dem Vaterunser auf den Lippen zwängte sie sich in der Scharfrichtergasse die schmale Holztreppe hinauf in die Kammer von Klea Stratschapetta, die seit Stunden in den Wehen lag.

Ein Kienspan erhellte spärlich den fensterlosen Raum, in dem eine hölzerne Bettstatt stand. Vier Säcke mit gehäckseltem Stroh formten die kurze Liegefläche, darüber lagen Schaffelle ausgebreitet, auf denen die Eheleute halb sitzend nächtigten, so wie jedermann es tat.

Mertli legte ihrer sechsundzwanzigjährigen Herrin einen kalten Lumpen auf das ermattete Gesicht. Die Adern an ihrem Hals schwollen bei jedem Pressen bläulich an, während ihre Augen hinter zugekniffenen Lidern verschwanden. Ihr leises Stöhnen war in der letzten Stunde bedrohlich matt geworden.

Die Zeit verstrich. Die Sonnenstrahlen hatten längst den schneebedeckten Gipfelgrat des mächtigen Calanda rötlich aufleuchten lassen, waren, wie die Viehherden im Herbst, von den Alpweiden talwärts zu den seichten Ufern des silbrig glitzernden Rheins gezogen und erhellten vor den Toren der Stadt den Erlenwald und die Felder, auf denen ein überschaubares Heer Söldner lagerte. Doch der Zustand von Mertlis Herrin hatte sich nicht gebessert.

In der engen Stube, die in den kalten Monaten von einem grünen Kachelofen gewärmt wurde, stand zu dieser Stunde der Scharfrichter vor dem kleinen und einzigen Fenster, mit Blick auf die Scharfrichtergasse. Der große schwarzhaarige Mann mit kurzem Kinnbart und Schnäuzer hing schweren Gedanken nach.

Vor zwei Tagen erst war er aus dem Schwabenkrieg zurückgekehrt, nach grausamen Scharmützeln auf dem Gebiet der Habsburger in der Nähe des Bodensees, und schon morgen musste er wieder in den Krieg ziehen.

An der Seite von wackeren...


Gurt, Philipp
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.



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