E-Book, Deutsch, 372 Seiten
Gurt MENSCHENDÄMMERUNG
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86479-437-7
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 372 Seiten
ISBN: 978-3-86479-437-7
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die letzten Tage - das Ende der Welt! Daan Rosenberg erwacht um 04:35 Uhr und stellt fest, dass seine Frau und seine siebenjährige Tochter spurlos verschwunden sind. Was zuerst wie eine Sinnestäuschung aussieht, entwickelt sich zu einer weltweiten Katastrophe. Der bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag immer wieder unter Psychosen leidende Daan wird zur zentralen Figur zwischen Gut und Böse, in einem Vexierspiel zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen seiner geglaubten Vergangenheit und der allgegenwärtigen Hölle. In einer dämmrigen Welt wird sein Leben zum tragischen, endlos scheinenden Überlebenskampf auf der ihm aufgezwungenen Suche nach der verlorenen Liebe, der Wahrheit, dem Verstehen von Schmerz und dem Sinn des Lebens.
Autoren/Hrsg.
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15 Jahre zuvor
St. Moritz in der Schweiz.
Daan irrte in Todesangst durch die vielen endlosen Gänge des Grandhotels Excelsior, des teuersten Luxushotels der Welt.
Es war das Grandhotel seiner Eltern, in welchem der amerikanische Präsident gastierte und mit ihm die weltweit bedeutendsten Persönlichkeiten ein- und ausgingen, ihre Ferien verbrachten und dabei entscheidende Gespräche in entspannter Atmosphäre führten. In legeren Lacoste-Pullovern oder locker zugeknöpften Hemden mit nach hinten gekrempelten Ärmeln standen sie in der Lobby oder im weitläufigen Park zusammen, redeten und lachten miteinander; eine Hand dabei lässig in der Hosentasche vergraben.
Es war Nacht! Oder doch Tag?
Stunden-, tagelang hatte Daan zuvor die vielen Hundert Zimmer und Gänge nach ihm vertrauten Menschen durchkämmt. Hatte deren Namen geflüstert oder laut gerufen, während er – wie im Fieber – durch die vereinsamten Gebäude hetzte.
Niemand war mehr da!
Alle waren sie einfach weg. Verschwunden! Von einem Moment auf den anderen!
Bis auf das böse Dunkle, das er fand, obwohl er es nicht gesucht hatte, und das ihn jetzt erbarmungslos jagte.
Seine Lungen brannten.
Er keuchte lautstark durch das vierte Untergeschoss, entlang den mannshohen Industriewaschautomaten, durch die Lingerie bis zu den Versorgungstunneln, welche die vielen Vorratsräume mit den Stockwerken darüber verbanden; überall Rohre und Leitungen in den hohen, roh betonierten Gängen.
Seit Tagen hatte er niemanden mehr gesehen.
Nur das Böse, das ihn nie ruhen liess, fühlte er nur allzu nahe. Immer wieder versuchte es, ihn zu greifen. Kaum hatte er sich irgendwo versteckt, spürte es ihn wieder auf und er musste weiter, immer weiter. Nie fühlte er sich sicher, nie fand er seine Ruhe. Niemals durfte er zurückschauen – das wusste er, seit es das erste Mal geschehen war. Damals war er noch ein kleiner Junge.
Dieses Mal hatte es kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag begonnen.
Gemeinsam mit Linda, Freunden und Bekannten, rund zweihundert geladenen Gästen, hatte er im kleinsten Saal des Grandhotels ausgelassen gefeiert.
Am nächsten Tag hatte er Linda im Wagen seiner Mutter nach Chur zu ihrer Wohngemeinschaft in der Altstadt gefahren. Er hatte mit ihr noch den Nachmittag verbracht, bevor am Abend das Konzert mit dem Graubündner Philharmonie Orchester in der St. Martinskirche in Chur begann.
Nachdem er am Abend des übernächsten Tages nach St. Moritz zurückgekommen war und sich die schweren Tore der Tiefgarage des Grandhotels surrend hinter ihm geschlossen hatten, begann das Grauen. Seit diesem Moment hetzte er in den Katakomben des Hotels von Versteck zu Versteck auf der Suche nach dem Ausgang und den Menschen.
Daan kroch in einen der quadratischen Wäschewagen aus Aluminium und vergrub sich unter einem Berg schmutziger Bettlaken.
Sein Herz pochte laut, seinen Atem hielt er gepresst, um so leise wie möglich die dringend benötigte Luft zu bekommen.
Dunkel war es und still.
Totenstill!
Angestrengt lauschte er aus seinem Versteck nach Geräuschen in diesem Koloss aus Mauern, Gängen, Aufzügen, Räumen, Rohren, Kameras, Lichtern, Schiebetüren und Teppichen ...
»Bitte, Gott, lass ihn mich nicht finden«, flehte er mit lautloser Stimme. »Lass ihn diesmal vorüberziehen, bitte, nur dieses eine Mal, bitte ... – ich brauche eine Pause!«
Bis heute war dies sein letztes unerhörtes Gebet gewesen, denn niemals wieder hatte er ein solches gesprochen.
Daan hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Irgendwann wurde der Wäschewagen angestossen. Von Todesangst gepeinigt, sprang er nach wenigen Metern hinaus, rannte los, um verzweifelt im tiefen, vom kraftlosen Schein der Nachtlichter beleuchteten Untergrund weiter nach einem Ausgang zu suchen.
Daan hörte nichts mehr, nicht einmal das Böse, das ihn lautstark zu holen versuchte, während er weiterhetzte. Er stolperte, raffte sich wieder auf, rannte noch schneller. Nach Luft ringend, stützte er sich für einige Sekunden an einer Mauer ab und spürte es wieder – das Böse – genau hinter sich!
Im Nacken fühlte er dessen heissen Atem. Genau wie in der Geschichte des Höllenhundes Ronulus, welche ihm seine Nanny Arul vorgelesen hatte, als er zehn war. Damals hatte er sich davor gefürchtet, das Buch selbst zu lesen: Das Titelbild erschien ihm angsteinflössend – hatte aber auch eine grosse Neugier auf die Geschichte geweckt. Lange hatte er Arul gedrängt, bis diese nachgab. Dann endlich, angespannt, die Bettdecke bis übers Kinn hochgezogen, hatte er gebannt zugehört. Ronulus verfolgte ihn danach bis in seine Träume und bescherte ihm einige unruhige Nächte.
Der gelbe, müde Schein der Neonröhren zog unter seinen gehetzten Schritten vorbei.
Daan war zu erschöpft.
Es schien ihm, als wolle ihn das Böse wie die Maus jagende Katze vor dem finalen Schlag noch quälen, ihm immer die Fluchtmöglichkeit noch offen lassend, die er nutzen musste, bis ihm all seine Kraft und sein Wille geraubt waren und es schliesslich über ihn, den schon lange Besiegten, herfallen konnte!
Der Durst zwang ihn, in einer Personaltoilette seinen Mund unter den Wasserhahn zu halten. Es war ein Durst, wie er ihn noch nie verspürt hatte: tief, lechzend und unstillbar. Gierig trank er in hastigen Schlucken, denn das dunkle Böse konnte nicht mehr weit sein.
Wohin nun?
Sein Orientierungssinn drehte wie ein Kompass, von Tausenden von Polen umgeben, völlig im Leeren.
Seit seinem vierten Lebensjahr, als seine Eltern aus Israel hierhergezogen waren, war das Grandhotel Excelsior, neben der Jugendstilvilla unten am See, sein Zuhause gewesen. Er kannte bald jeden Winkel, jeden Raum und war mit allen Fahrstühlen unzählige Male gefahren – in jede Ecke hatte er seine Nase gesteckt, ausser in das sechste Untergeschoss mit den vielen Katakomben für den Kriegs- oder Katastrophenfall: Es war nur mit einem geheimen Zutrittscode zu betreten. Niemals ging er freiwillig dort hinunter!
Doch von der grossen Werkstatthalle, in der die Fahrzeuge für die riesige Gartenanlage mit Teichen und Springbrunnen sowie für den Golfplatz gewartet wurden, bis hin zur Dekorationsabteilung des Hotels war ihm alles vertraut. Als Kind war ihm das Grandhotel viel riesiger vorgekommen, als es eigentlich war.
Er bewunderte damals die vielen teuren, verdunkelten Limousinen, die vom Flugplatz Samedan die vornehmen Gäste aus aller Welt ins Excelsior brachten, und bestaunte die Hubschrauber, die auf dem hoteleigenen Landeplatz Gäste ausspuckten: Er lachte über die in kostspieligen Pelz gehüllten Damen, wenn sie beim Aussteigen ihre Hüte im abnehmenden Rotorwind festhalten mussten.
Wenn jeweils der Präsident der Vereinigten Staaten mit Frau und Hund anreiste, um seinen Winterurlaub in St. Moritz zu verbringen, war stets Tage vor dessen Ankunft eine fieberhafte Geschäftigkeit im gesamten Grandhotel zu spüren. Als kleiner Junge sass er damals neben seinen Eltern am Tisch und starrte unentwegt den hohen Besuch an, sodass alle lachten. Er hatte nie verstanden, warum.
Nun wusste er nur noch, dass er in diesem Koloss gefangen war und – ausser ihm – keine Menschenseele mehr hier war.
Alle waren einfach verschwunden!
Aber warum nur? Warum hatte man ihn alleine zurückgelassen?
Wie ein Blinder tastete er sich durch die vielen Gänge und Räume. Irgendwann fand er sich im sechsten Obergeschoss eines mächtigen Nebentraktes wieder und starrte, nach Luft ringend, durch das grosse Fenster nach draussen.
Wie er hinaufgekommen war, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Angestrengt schaute er in den diesigen Wintertag hinaus und sah – nichts.
Weder erblickte er St. Moritz noch den See. Nur eine weisse Wand baute sich im Nichts vor ihm auf.
Nur er und das dunkle Böse waren noch hier.
Die Tage gingen zeitverzerrt dahin. Er schlief, vom Bösen gehetzt, an den verrücktesten Orten, um nicht gefunden zu werden. Dick in Decken eingehüllt, im zimmergrossen, verchromten Kühlschrank der Hauptküche, auf dem weissen mit Kacheln ausgelegten Boden. Oder in der grossen Trommel einer Waschmaschine, in der er mit einem Stück Stoff die Türe blockierte, um sich nicht aus Versehen selbst einzusperren.
So sehr er in den nächsten Tagen auch suchte, er fand die Hotellobby oder sonstige Ausgänge einfach nicht wieder: Immer, wenn er glaubte, fast am Ziel zu sein, befand er sich in einem der obersten Stockwerke, wo er unmöglich aus einem der Fenster klettern konnte, oder irrte im nun plötzlich fensterlosen Erdgeschoss umher.
Zu fliehen schien unmöglich zu sein.
Bis er eines Tages – gejagt von seinem dunklen Peiniger, durchtränkt von Angst, geistig und körperlich ausgezehrt von den Wochen der Flucht – plötzlich den rettenden Ausgang vor sich sah.
Der schwarze Häscher, das Böse selbst, hatte ihn in den Wochen zuvor Hunderte von Malen verfehlt und doch nicht von ihm abgelassen. Sollte es nun wirklich zu Ende sein oder war es wieder eine Art Fata Morgana, die sich fatalerweise im Hoffnungslosen auflösen würde?
Keine Hoffnung war allemal besser als eine...




