Guthörl | Abhärtungen und Freuden | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Reihe: Frieling - Erinnerungen

Guthörl Abhärtungen und Freuden

Reminiszenzen aus den letzten 100 Jahren
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8280-3808-0
Verlag: Frieling & Huffmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reminiszenzen aus den letzten 100 Jahren

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Reihe: Frieling - Erinnerungen

ISBN: 978-3-8280-3808-0
Verlag: Frieling & Huffmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jammern die Menschen von heute auf hohem Niveau? Dieser Frage wird unter anderem in den Episoden aus dem Leben von Ursula Guthörl und ihrem Umfeld nachgegangen.
Wie war es damals und wie ist es heute? Der Konsum und die Ansprüche der Menschen sind gewachsen. Hat der Mensch dadurch auch in seinem Menschsein Fortschritte gemacht?
Informativ und kritisch hinterfragend beleuchtet Guthörl die harten Lebensverhältnisse der Nachkriegszeit, beschreibt die komplizierten Lebensumstände für die Frauen jener Tage und veranschaulicht die mühsame "Annäherung der Geschlechter".
Dass jede junge Generation im Laufe der letzten Jahrzehnte mit Herausforderungen zu kämpfen hatte, dokumentiert die Autorin mit spannenden Zeitzeugnissen in Form von Originalbriefen.

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Das Berufsleben einer Sekretärin Mangels finanzieller Unabhängigkeit und eines gut situierten Ehemannes hielt ich es notgedrungen bis zum Alter von 29 Jahren im Elternhaus aus. Mit meiner Mutter hatte ich immer ein liebevolles Verhältnis. Wir waren mehr wie Schwestern. Sie war großzügig und hörte mir geduldig zu oder klagte mir ihr Leid, wenn sie frustriert war. Manchmal sagte sie: „Wenn du doch nur einen netten jungen Mann heiraten würdest. Ich hätte so gern Enkelkinder von dir. Ihr könntet bei uns im Haus wohnen.“ Doch das war für mich absolut undenkbar. Ich sehnte mich nach ferneren Gefilden. Langsam wurde ich jedoch immer deprimierter und lethargischer. Ich sah schon meine Tage bei der Völklinger Hütte enden. Dort wäre ich auf die Dauer eingegangen wie eine Primel ohne Wasser. Wenn ich morgens aus dem Zug stieg, suchte ich mir meinen Weg fast blind bis zum Betriebsbüro. Die Hochöfen bliesen völlig filterfrei den Dreck in die Luft und der ekelhafte graue feine Sand setzte sich in den Augen, Haaren und allen Poren fest. Ich litt sehr unter Akne. Man konnte kaum atmen. Abends, wenn ich nach Hause zurückkehrte, sagte meine Mutter: „Du stinkst ja fürchterlich!“ In meinem Kohlenwertstoffbetrieb wurden aus Kohle alle möglichen ungesunden, übel riechenden Produkte hergestellt. Dazu gehörten Pech, Teer, Benzol, Naphthalin und so weiter. Gleich neben dem Bürofenster stand ein großer Benzoltank, sodass man nicht einmal lüften konnte. Ein wenig Sauerstoff kam lediglich durch die Tür zum Flur herein. In den ersten Jahren musste ich das Büro mit vier oder fünf Männern teilen, die fast alle auch noch rauchten. Der Betriebschef hatte einen großen Raum für sich allein. Wenn er mir diktierte, durfte ich mich ihm gegenüber niederlassen und an seinen Lippen hängen, damit ich alles in Steno aufnehmen und nachher wieder lesen konnte. Später wurde dann ein neues Betriebsgebäude gebaut, wo ich ein Vorzimmer bekam, dazu eine eigene Damentoilette, was sehr angenehm war! (Vorher musste ich sie nämlich mit den Männern teilen.) Einer nahm immer die Zeitung mit und saß ewig. Angeblich waren und sind gemeinsame Toiletten doch in den Betrieben verboten. Röchling hatte einen besonderen Nimbus und brauchte, wie es schien, es nicht so genau zu nehmen mit solchen Vorschriften. Niemand kontrollierte solche Dinge. Man war sogar stolz, bei Röchling schuften zu dürfen. In meinem neuen Büro stellte ich einige Topfpflanzen auf die Fensterbank. Sie überlebten nicht lange. Die giftige Luft machte ihnen bald den Garaus. Auch ich fühlte mich oft sehr schlecht. Zum Tippen hatte ich eine uralte mechanische Schreibmaschine. Meist waren acht Durchschläge per Pauspapier erforderlich. Das war Schwerstarbeit, und niemand scherte sich um meine zarten Handgelenke. Ich hatte ständig Sehnenscheidenentzündungen und arbeitete trotzdem klaglos weiter. Mir kam zu Ohren, dass die Sekretärinnen bei der Hauptverwaltung elektrische Schreibmaschinen hatten. Ich ging also zum ersten Mal zum Arzt, ließ mich krankschreiben und verfasste einen Beschwerdebrief an den Betriebsarzt. Daraufhin genehmigte man mir ebenfalls eine elektrische Schreibmaschine älteren Baujahres. Wenn man nicht höllisch aufpasste und seine Finger nicht im Zaum hielt, machte sie Bocksprünge, sodass leere Zeilen zwischen den Buchstaben erschienen. Irgendwie meisterte ich auch dieses Problem und war halbwegs glücklich mit meiner neuen Schreibmaschine. Außer für den Chef musste ich noch für drei Ingenieure arbeiten, die mir lange technische Texte diktierten, und für das Betriebslabor. Außerdem war ich für Französisch und Englisch zuständig, obwohl ich dafür gar nicht bezahlt wurde. Der Betriebschef war ein Herr von Hinke. Zunächst war ich beeindruckt, doch dann kam ich dahinter, wie unfähig er in seiner Arbeit war und daher „hinkte“. Ohne die Ingenieure – und vor allem den Meister – wäre er völlig aufgeschmissen gewesen. Nach seiner Pensionierung wollte er noch studieren, ist dann aber ziemlich schnell gestorben. Einer der Ingenieure mit Namen Dr. Krummacher rückte zum Betriebsleiter auf und veränderte sich auf unangenehme Weise. Als ich einmal ein paar Tage – mit ärztlichem Attest (!) – krank war, schickte er mir gleich einen Kontrolleur. Zurück zu dem adeligen Herrn. Eines Tages fragte er mich, ob ich während seines Familienurlaubs in seiner Villa wohnen möchte. Ich dumme Kuh fühlte mich gebauchpinselt und freute mich, für zwei Wochen meinem primitiven gemieteten Zimmer zu entkommen. Während der ersten drei Monate nahm ich mir nämlich ein billiges, spärlich möbliertes Zimmer, weil ich die Stelle nur unter dieser Bedingung bekam. Im Saarland waren gute Sekretärinnenjobs damals noch dünn gesät. Allerdings vermied man das Wort Arbeitslosigkeit, obwohl ich nach meinem Englandaufenthalt drei Monate ohne Unterstützung arbeitslos war, weil ich keine passende Stelle fand. Bei einer Bank wäre ich wieder eingestellt worden, sogar bei der Dresdner Bank. Dort kannte ich einen Abteilungsleiter, der bis zum Wiederanschluss des Saarlandes an Deutschland auch bei der BNCI gearbeitet hatte und mein Chef war. Er war ein sehr netter älterer Herr und hätte mich gern wieder als seine Sekretärin gehabt. Leider rauchte er eine Zigarrenmarke, die Übelkeit und Kopfweh bei mir auslöste. Deshalb lehnte ich sein Angebot ab, ließ mir aber durch ihn die Stelle bei Röchling vermitteln. Zu ihm sagte ich, dass ich nach vier Jahren Banktätigkeit nun neue Erfahrungen sammeln möchte. Hätte ich damals gewusst, was mich in Völklingen erwartete, hätte ich vielleicht lieber den Zigarrenqualm in Kauf genommen. Damals galt man als intolerant, wenn man Tabakrauch monierte. Im Nachhinein erscheint es mir so, dass alles so kommen musste, wie es kam, um letztendlich den Weg zu finden, der vom Schicksal für mich vorgesehen war. Trotz all der Leiden war alles irgendwie perfekt. Das Haus des Herrn von Hinke entpuppte sich als alter, beschwerlicher Kasten. Man trug mir auf, morgens alle Rollläden hochzuziehen, damit keine Einbrecher „eingeladen“ wurden (Gelegenheit macht bekanntlich Diebe!), und abends das Umgekehrte. Nur mit größter Kraftanstrengung gelang es mir, die Biester zu bewegen. Natürlich mussten auch die Pflanzen gegossen werden. Ich tat also gehorsam meine Pflicht. Meine Bleibe war das Jungmädchenzimmer der Tochter, die schon seit Jahren aus dem Haus war. Seitdem hatte anscheinend nie mehr jemand dort Staub gewischt oder das Bett frisch bezogen. Der Staub lag millimeterdick. Auch das nahm ich ergeben hin. In den Wohnzimmern waren alle Sessel und Couchen mit Laken abgedeckt. Nicht einmal dort konnte ich es mir also gemütlich machen. Nachts war mir ziemlich unheimlich, als es einmal lange an der Haustür klingelte. In aller Naivität dachte ich: Vielleicht bringt mir der noble Herr ja ein schönes Geschenk aus dem Urlaub mit. Als die Herrschaften zurückkehrten, würdigte mich die Dame des Hauses kaum eines Blickes, und er drückte mir eine Tafel Schokolade in die Hand. Ich hätte sie ihm am liebsten vor die Füße geschmissen. Doch das ging ja leider nicht, weil ich dann auch meine Stelle geschmissen hätte. Heute verstehe ich allerdings kaum, warum ich nicht lächelnd gesagt habe: Danke, aber ich mag keine Schokolade. Aber so schlagfertig war ich damals leider nicht. Stattdessen schluckte ich tapfer meinen Ärger herunter und bedankte mich artig. Er fuhr mich danach gleich mit dem Auto zu meinem Zimmer und wirkte dabei so, als täte er mir einen Gefallen. Außerdem schlug er vor, mich ins Zimmer zu begleiten, was ich aber dankend ablehnte! Vielleicht ist es ja verzeihlich, dass sein früher Tod mich nicht allzu sehr betrübte. Im letzten fünften Jahr hatte ich Unannehmlichkeiten mit dem jüngsten Ingenieur Dr. Ditscher. Er hatte es auf mich abgesehen. Wahrscheinlich langweilte er sich mit seiner Frau. Während der Herr Doktor mir diktierte, würzte er seine Texte mit anzüglichen Reden. Dummerweise hatte ich mich einmal breitschlagen lassen, mit ihm auszugehen, und einige Intimitäten zugelassen. Das bereute ich hinterher und wollte die Sache beenden. Er war jedoch hartnäckig und ließ nicht locker. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen und hatte seine Anzüglichkeiten dermaßen satt, dass ich die Initiative ergriff und mich auf ein Stellenangebot einer Schweizer Holding in Luxemburg bewarb. Meine Mutter hatte diese Annonce in der Saarbrücker Zeitung entdeckt und meinte: „Das wäre doch vielleicht was für dich.“ Ich schickte also meine Unterlagen an die Firma, wurde zur Vorstellung eingeladen und prompt eingestellt. Immerhin verdiente ich nun so viel, dass ich mir eine eigene Wohnung leisten konnte. Außerdem war ich inzwischen viel selbstbewusster geworden und verstand es perfekt, mich aus der Affäre zu ziehen. Auf die Erfahrung, die ich mit dem dortigen Direktor aus der Schweiz gemacht habe, komme ich später zurück. Es war ein recht amüsantes Erlebnis. Der aufdringliche Ingenieur hat mir also – ungewollt – geholfen, den Absprung von Röchling zu...


Guthörl, Ursula
Die gebürtige Saarländerin Ursula Guthörl arbeitet nach ihrem Handelsschulabschluss zunächst als Fremdsprachen-Sekretärin. 1965 erfolgt der Umzug nach Luxemburg, wo sie bis 1998 bei der Europäischen Kommission tätig ist. In der Zeit von 1981 bis 1984 gewährt sie sich eine Erholungspause, die sie im Umfeld des Sri Aurobindo Ashrams in Pondicherry (Auroville/Südindien) verbringt. Heute lebt und schreibt die Autorin in Berlin.



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