E-Book, Deutsch, 270 Seiten
Guthörl Tanz um den Göttelborn
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99131-675-6
Verlag: novum pro Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unterm Förderturm - Eine Kindheit und Jugend im Bergmannsdorf Göttelborn
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-99131-675-6
Verlag: novum pro Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im saarländischen Ort Göttelborn gibt es noch ein Kohlekraftwerk. Die Kohlegrube wurde 2000 geschlossen. Leider verpestet das Kraftwerk die Luft mehr als die frühere Grube. Ursula wächst hier auf als Tochter eines Vermessungssteigers und seiner Ehefrau. Sie bewohnen eine Dienstwohnung mit großem Garten. Kurz vor Kriegsbeginn 1939 meldet sich ihr Vater freiwillig zum Kriegsdienst. Er kehrt 1945 unverletzt nach Hause zurück. Ursula geht vor diesem Hintergrund ihren durchaus sehr abwechslungsreichen Weg nach dem Besuch der Höheren Handelsschule und besucht ihre Familie immer wieder gern. Leider stirbt Mutter schon mit 59 Jahren. Ursula findet ihr Glück außerhalb ihres Heimatdorfes, das sie in späteren Jahren ab und zu besucht, um das Grab ihrer Mutter zu pflegen.
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2 DAS WUNSCHKIND UND MUTTIS OPFER Als ich meiner jungen einundzwanzigjährigen Mutter nach der Entbindung in die Arme gelegt wurde und sie überglücklich war, nun einen Menschen zum Lieben zu haben, fand sie mich so hübsch, wie kein anderes Baby je sein könnte. Als Kleinkind zweifelte auch ich nicht an meinem Aussehen, doch je älter ich wurde, desto mehr Mängel entdeckte ich an mir. Vor allem war ich nicht mit meiner Kopfform zufrieden. Immer musste ich mich bemühen, den Haaren Volumen und Stand zu geben, damit ich einigermaßen nach etwas aussah. Kosmetik war vonnöten, um meinem Gesicht mehr Ausdruck zu verleihen. Mund, Nase und Augen gefielen mir auch nicht mehr, als ich in die Pubertät kam. Ich war zu klein (1,60) und fand meine Beine zu kurz. (Wenn ich jetzt lese, dass zum Beispiel Madonna kaum 1,60 m und Kylie Minogue nur 1,53 m groß sind, staune ich, dass sie trotzdem im Showbusiness so erfolgreich waren und sind.) Als ich ab 15/16 Akne bekam, drückte ich ständig an den Pickeln herum und kleisterte sie mit Puder zu. Ich machte mir Sorgen, wie ich sie verbergen könnte, wenn ich mit einem Mann zum ersten Mal ins Bett ginge und mich abends vorher abschminken müsste. Trotzdem sagten Leute oft, dass ich hübsch wäre, und die Männer sahen mir auf der Straße nach. Einmal nannte mich sogar einer Brigitte Bardot, was mich wunderte. Ihre sinnlichen Lippen hätte ich gern gehabt. Deshalb half ich mit der Zunge durch Druck von innen nach. Mein vier Jahre jüngerer Bruder meinte allerdings, das sähe komisch aus. Schon in den Fünfziger-Jahren war es wichtig, möglichst sexy zu wirken. In allen Zeitschriften hob man den Sexappeal hervor. Ich wäre gern morgens aus dem Bett gesprungen, ohne an mein Äußeres zu denken, bevor ich den Menschen unter die Augen trat. Doch leider bin ich keine Naturschönheit, wie meine Mutter es war, die nur Wasser und Seife für Ihr Gesicht brauchte. Erst in späteren Jahren benutzte sie, auf meinen Rat hin, eine leichte Feuchtigkeitsemulsion. Ich war ein echtes Wunschkind. Mutti Wilhelmine hatte ihre eigene Mutter, die auch Wilhelmine hieß, bereits mit sieben Jahren an die jenseitige Welt verloren. Ihr Vater, selbst krank, stand in einer Großstadt alleine da mit fünf Kindern zwischen drei und vierzehn Jahren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich eine Stiefmutter für seine Kinder zu finden. Eine entfernte ältliche Kusine aus seiner Heimat, dem Siegerland, wurde ihm von seinen Verwandten vermittelt. Diese fand ihn trotz seines Lungenleidens anziehend als Mann. Daher stimmte sie der Heirat zu und nahm die Kinder in Kauf. Später sagte sie einmal zu ihnen: „Ich habe euern Vater nicht wegen euch geheiratet; er hat mir gefallen.“ Außerdem verlangte sie, dass Opa weiter in ihre persönliche Rentenkasse einzahlte. Das Geld fehlte natürlich der Familie, da er, wenn es gesundheitlich überhaupt ging, nur als angelernter Arbeiter bei der Bahn beschäftigt war. Sein Traum, Lokomotivführer zu werden, ging ohne Lehrausbildung nicht in Erfüllung. Seinen ursprünglichen Beruf, Gutsverwalter in Ostpreußen, gab er auf, nachdem er seine erste Frau geheiratet hatte. In der Landwirtschaft wurde so wenig bezahlt, dass er keine Familie davon hätte ernähren können. Liebe konnte die Stiefmutter den Kindern natürlich nur wenig geben, aber sie war eine professionelle Schneiderin und nähte hübsche Kleider für die Töchter. Dafür mussten diese, vor allem meine Mutter, die Wohnung putzen. Opa und Stiefoma hatten ein gemeinsames Hobby: Schachspielen. Es half ihnen wahrscheinlich, ihr schweres Leben zu ertragen. Mutti sehnte sich nach Liebe. Trotzdem heiratete sie bereits mit zwanzig Jahren aus Vernunft. Sie konnte es sich nicht leisten, auf die wahre Liebe zu setzen, da sie als Weißnäherin kein Auskommen fand. Zu Hause war auch auf Dauer kein Platz für sie. Später erzählte sie mir, dass sie den Bruder ihrer besten Freundin Mia, Franz Kirchhoff, liebte, ihn aber, ebenfalls aus Vernunftgründen, nicht heiraten konnte, weil es in seiner Familie eine erbliche Hautkrankheit gab. Ihre Freundin war von diesem Leiden betroffen, wodurch ihr Liebesleben ruiniert wurde. Meine Mutter wollte ihren noch ungeborenen Kindern ein solches Los ersparen und verzichtete auf Franz. Ich fand ihre Entscheidung sehr nobel und rechnete es ihr hoch an, dass sie so selbstlos an ihre zukünftigen Kinder gedacht hatte. Später gestand sie mir, dass es ihr wichtiger war, geliebt zu werden, als selbst einen Mann zu lieben. Sicher kam dies daher, weil sie als Kind unter Liebesmangel gelitten hatte. Sie wollte nicht mehr leiden, indem sie fürchtete, der Mann könnte sie enttäuschen. Vielleicht war es aber auch ihre Art, sich selbst zu trösten, da sie der Umstände halber ohne wirkliche Liebe geheiratet hatte. Im August 1937 besuchte Mutti mit mir ihre Freundin Mia und deren Bruder Franz in Wörsdorf im Taunus, wo er beim Arbeitsdienst beschäftigt war. Auf Fotos sieht man deutlich, dass die beiden sich liebten. Muttis Gesicht strahlte, wenn sie ihn ansah. Als Papa per Fahrrad zu Besuch kam (was eine körperliche Leistung war), veränderte sich ihre Miene. Sie wirkte nun auf den Fotos bedrückt und Vater eifersüchtig, frustriert. Obwohl ich erst 14 Monate alt war, erinnere ich mich an die gespannte Atmosphäre. Auch mir sieht man es auf den Fotos an. Sogar andere kleine Details sind mir noch gewärtig. Für eine Aufnahme stellte mich Mutti in ein Schildwachenhäuschen des Arbeitsdienstes. Darin fühlte ich mich überhaupt nicht wohl. Meine Haltung auf dem Foto drückt es aus. Immer wieder strebte ich an die Holzklappe eines Kellerfensters, die ich auf und zu machen wollte. Scheinbar liebte ich Gegenstände, die sich bewegen ließen. Hinter dem Bett, in dem Mutti und ich schliefen, hing eine Schnur zum Licht anknipsen. Die begeisterte mich ebenfalls, doch zu meinem großen Schreck wischte sie mir einen Elektroschock. Das tat weh. Als ich mir die Fotos aus dem Taunus jetzt wieder genau betrachtete, überkam mich Traurigkeit. Ich wünschte mir, dass Mutti Franz geheiratet hätte, um glücklich zu werden, auch wenn ich nicht in dem Körper geboren wäre, der mir jetzt noch dient. Warum hat sie sich nicht wieder scheiden lassen, als sie merkte, dass Vater nicht der richtige Mann für sie war? Mir hätte es wahrscheinlich nichts ausgemacht. Auf einem Foto hält er mich im Arm, während ich mich von ihm abwende in Richtung meiner Mutter. Ich denke, man tut Kindern keinen Gefallen damit, wenn man ohne Liebe heiratet oder ihnen zuliebe bei dem falschen Partner bleibt. Daraus kann viel Kummer resultieren. Allerdings war eine Scheidung aus finanziellen Gründen damals so gut wie unmöglich, und der Ruf einer geschiedenen Frau meist ziemlich angeknackst. In Akademikerkreisen handhabte man die Angelegenheit vielleicht schon großzügiger. Von Franz besitze ich auch ein Foto mit seiner Familie und seinen Eltern aus dem Jahr 1960. Seine Frau war gar nicht mit Mutti zu vergleichen, und er wirkte ebenfalls ein wenig resigniert. Heute frage ich mich allerdings: Kommen wir denn überhaupt auf die Erde, um immer nur glücklich zu sein? Wäre das nicht ein bisschen langweilig? Ich jedenfalls bin froh, verschiedene Erfahrungen, waren sie nun gut oder schlecht, gemacht zu haben. Dadurch lernte ich mich besser kennen, Stärken entwickeln und Egoismen durchschauen. Außerdem ist mir bewusst geworden, dass innerer Frieden und Glück wenig mit äußerer Wunscherfüllung zu tun haben. Im ersten Jahr ihrer Ehe redete Wilhelmine sich ein, glücklich und zufrieden zu sein. Ich denke schon, dass sie ein gewisses Maß an Sympathie für Artur empfand, als sie ihn heiratete und dass sie versuchte, an sein inneres Wesen heran zu kommen. Wahrscheinlich war sie nicht erfolgreich, weil er unfähig war, sich ohne Rückhalt zu öffnen, und sie selbst wollte sich wohl auch keinen Risiken durch allzu große Ehrlichkeit aussetzen. Sie lebte in einem schönen Haus, hatte genug zu essen, und vor allem wohnte ihre Lieblingsschwester Gertrud mit Onkel Louis im gleichen Dorf. Die Schwestern wurden gleichzeitig schwanger und bekamen beide im Juni ihre Kinder. Gertrud hielt Ingo und Wilhelmine Ursula im Arm. Tante Gertrud war noch bescheidener als Mutti. Sie wohnte mit Mann und Kind über der Schwiegermutter in zwei kleinen Zimmerchen und musste wie Oma und Onkel Ruprecht das stinkende, kalte Plumpsklo im Hof benutzen. Trotzdem war sie glücklich, weil sie Onkel Louis liebte und bewunderte. Er sah ganz gut aus, war aber ziemlich eitel und egozentrisch. Er war Geräteturner, wie übrigens auch mein Vater. Louis konnte allerdings die Riesenwelle am Reck, die Vater nicht drauf hatte. Dafür konnte er zwischen den Waden die Barrenstangen einklemmen, so dass er nicht abrutschte. Das erforderte viel Kraft. Niemand außer ihm gelang dieser Kraftakt, worauf er stolz war. Ob das gut für seine Beine war, möchte ich bezweifeln. Im Alter bekam er Durchblutungsstörungen, und ein Bein wurde ihm amputiert. Auf Turnfesten war Louis erfolgreicher. Tante Gertrud und Mutti Wilhelmine spazierten stolz mit ihren Kinderwagen über die lange Hauptstraße von Göttelborn und konnten alle großen und kleinen Probleme miteinander besprechen. So ließen sich auch egozentrische und zum Austausch unbegabte Ehemänner spielend verkraften. Doch es dauerte nur etwa 14 Monate, bis ein grausames Schicksal zuschlug. Tante Gertrud bekam die galoppierende Schwindsucht und starb innerhalb kürzester Zeit mit 29 Jahren. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Mutti mit mir im Kinderwagen zu Fuß bis zum Krankenhaus Sulzbach ging, um ihre Schwester wahrscheinlich ein letztes Mal zu besuchen. Auf einem Foto, das kurz nach Gertruds Tod von Mutti aufgenommen wurde, sieht sie sehr traurig aus mit riefen Rändern unter den Augen....