E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Reihe: Arabische Welten
Habibi Sarâja, das Dämonenkind
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-937-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine spätherbstliche Fabuliererei aus Palästina
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Reihe: Arabische Welten
ISBN: 978-3-85787-937-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Sarâja, das Dämonenkind« ist - nach »Der Peptimist« und »Das Tal der Dschinnen« - der dritte und letzte längere Prosatext des 1996 verstorbenen grossen palästinensischen Autors Emil Habibi.
Der Titel geht zurück auf eine alte palästinensische Legende von einem Mädchen, das von einem Dämon entführt und auf ein Schloss hoch oben in den Bergen gebracht wird. Ihr Cousin und Geliebter kann Sarâja, die inzwischen zu einer jungen Frau herangereift ist, schliesslich retten, indem er an ihrem langen Zopf hochklettert und dem Dämon ein Schlafmittel in seinen Trunk mischt.
Auf der Suche nach seiner verlorenen Jugendliebe Sarâja beschwört der Ich-Erzähler, dessen Beruf das Angeln und dessen liebstes Hobby die Literatur ist, seine Kindheit in Palästina herauf und geht den Leidensweg zurück an die Stätten seiner Jugend in Haifa, die grösstenteils von den Israelis zerstört wurden. Erst im Herbst seines Lebens, als er bereits ein alter Mann geworden ist, findet er Sarâja wieder.
In seiner stark autobiographisch gefärbten Geschichte erweist sich der »Meister der Ironie und des Spotts« (Tahar Ben Jelloun) auch als Meister der Poesie.
Weitere Infos & Material
2
Ich war nicht überrascht, meinte er, als sein blasser Schatten, unruhig auf der ebenso unruhigen Meeresoberfläche zappelnd, plötzlich vor mir auftauchte. Es war mir schon ein Getuschel zu Ohren gekommen über irgendein „Etwas“, das den nächtlichen Hobbyanglern an der Küste erscheine, die von den Ruinen Saibs bis zum Kap Nakûra reicht. Ich sass auf meinem „auserwählten“ Felsen, der weiter als die übrigen Felsen an Saibs Küste hinaus ins offene Meer ragte und der auch höher war als die anderen. Ein Fels mit einem Hals, der sich hinunter zum Meere streckt und hinauf zum Himmel reckt – bei Gott – wie jener erwähnte Rauschan auf der Burg Schaisar. Und das wogende Meer unten erschien mir wie Wüstenbeduinen, die aus dem Wasser ihre Hilfeschreie aufsteigen liessen; doch kein Helfer, kein Retter nahte. Trotz des Sprichworts „Ein Vogel lässt nichts weg, wenn was Gutes darin steckt“ war meine Wahl auf diesen Felsen gefallen. Keiner meiner Kollegen würde mir diesen auserwählten Platz streitig machen – das Meer darunter war extrem fischarm. Kein echter Angler kam hierher; jeder wusste, dass ihm das Meer unter diesem Felsen keine Fische beschert. Man überliess ihn Leuten wie mir. Und Leute wie ich sind Ausnahmen unter den Hobbyanglern. Ausserdem bot dieser Platz Sicherheit für Leute wie mich, die in ihrem Alter nicht mehr so sicher sind. Und von dieser unsicheren Sorte bin ich einzigartig unter meinen Anglerkollegen. In zweierlei Hinsicht bot dieser Platz Sicherheit: zum einen überragte er die Gischt der Wellen – egal, wie wild sie tobten, brüllten, lärmten –, zum anderen war dieser Felsenplatz von der Küste her zugänglich: sowohl bei Ebbe als auch bei Flut, bei freundlichem Meer oder wenn sein blinder Zorn Wellen schlug. Schon als Kind war das Angeln für mich das beste Mittel, um meine angeboren angespannten Nerven zu entspannen. Ich war süchtig danach wie ein Mönch nach dem Wein, der krügeweise im Kloster lagert. Wenn ich meinen Bekannten sage: Das Angeln ist mein Beruf, und die Literatur mein liebstes Hobby, glauben sie, ich scherze, und dabei meine ich es todernst. Und die Politik? Man sagt: „Niemand kann zwei Wassermelonen mit einer Hand tragen. Was soll er mit einer dritten?“ Aber man sagt auch: „Sie luden ihm eine Ziege auf, so dass er furzen musste. Doch er meinte bloss: Packt mir noch eine drauf!“ An der Küste Haifas kam er zur Welt, als das Wadi al-Nisnâs – wo er geboren wurde und einst auferstehen wird von den Toten – eines jener Flusstäler des Karmel war, deren Wasser sich direkt ins Meer ergoss. Er hat das Fischen genauso gelernt wie das Laufen, genauso wie das Schweben in höheren Regionen und das Sichtreibenlassen auf der Wasseroberfläche und das Morgen-ist-auch-noch-ein-Tag-Denken. Als man ihnen das Meer wegnahm, die Katastrophe sie hinabzog und sie nur gerade noch den Atem anhalten konnten – ob denn ein Ertrinkender noch Lust hat, Fische zu fangen, fragte ich mich –, glaubten sie, jeder von ihnen, der auf eigenen Füssen laufen kann, sei für ihre jüdischen Vettern ein beunruhigenderes Wunder als Jesus, der über den See Genezareth schritt. Und wenn er sich dann auch noch anmasst, Fische zu fangen! Meist kamen sie mit vier Fischen im besten Alter zurück, oder, je nach Laune des Glücks, mit mehr oder weniger. Sie brieten sie in Olivenöl aus Râma5 und luden die Nachbarn zum Mahle. So wiederholten sie jenes Wunder der „Speisung der Zehntausend“ und gossen reichlich Öl in die Pfanne. In diesen beiden Wundern sahen sie den Gipfel ihres Durchhaltevermögens und Widerstandswillens. Denn gelang es einem von ihnen, auf eigenen Füssen hinter einem Rednerpult zu stehen, war das „die Meldung Nummer eins“ in ihren Augen. Und wenn dieser dann noch einen Riesenfisch fing, der mehr als ein Kilo wog, war das in ihren Augen „die Meldung Nummer zwei“. Als immer schlimmer ward die Not und ihre Seelen vom Abgrund bedroht, flohen sie aus Haifas Asche ins wohnlich-ruhige Nazareth, der Stadt des Messias und der Melonenlauben. Unsere Vettern sagen übrigens absichtlich Melanen zu unseren Melonen. Wenn wir „o“ sagen, sagen sie „a“ und umgekehrt. Und ohne die ehrenwerten Ahnen hätten sie Europa längst überzeugt, dass es keinen anderen Grund für unsere Auseinandersetzung gibt als diesen mörderischen Krieg zwischen „a“ und „o“. Die ruhige Wasseroberfläche des Sees schimmerte vor ihnen. Damals war der See noch fischreich und seine Ufer unberührt. Und das seit jener Zeit, als der König der Tiere sich einen Weg zu seinem Wasser bahnte und sein Brüllen zwischen Euphrat und Nil zu hören war.6 Inzwischen7 sind zwei brüllende Löwen daraus geworden, einer am Euphrat und einer am Nil. Dieser brüllt jenen und jener brüllt diesen an, und beide uns. Gott schütze uns vor dem Unheil dieser Brüllerei und allen Lästermäulern. Er sagte: Wir sassen auf den jungfräulichen Felsen wie die Wächter Ägyptens8 bei Abul-Tajjib al-Mutanabbi. Und als die Traubenfülle sich erschöpfte und sie noch immer nicht gesättigt waren – sie dann auch noch das Wasser klauten und seinen Lauf umleiteten –, da kehrten wir zurück zu den Wurzeln, zum Meer und zu der Küste, die noch unberührt und leer war. Die Dunkelheit kroch heran, zögernd noch zwischen Himmel und Erde, in einer jener Spätsommernächte, deren Dunkelheit mit schwerem, feuchtem Nebel verschmolz. Die Sonne verschwand untergangslos. Der Himmel wurde zum Meer, das Meer zum Himmel, und das Auge konnte nicht mehr unterscheiden zwischen der Oberfläche des Wassers und den Lagen der Luft darüber. Schwere Nebel erstickten Blick und Atem, als wären wir zu den Anfängen der Schöpfung zurückgekehrt, und als entstiege dieser Dampf dem atmenden Wasser, woraus Er einen einzigen Himmel formte. Beim Anblick dieser wässrigen Schauspiele der Natur ist man atem- und blicklos, befähigt, an Schauspiele jenseits der Natur zu denken: an Oscar Wildes Gespenst von Canterville oder Emily Brontës Sturmhöhe oder an Dschinnenfrauen, die sich, von Tautropfen getragen, welche sich über Melonenfelder und Weinberge legten, in den Nächten der Sommerferien zu den Menschen hinabliessen, zu Zeiten, da diese nicht schliefen und nicht schlummerten, sondern sich sorglos gaben. Und an Brautmädchen, warf er ein, die einen Felsen hoch auf dem Karmel umtanzten, in dessen Schatten wir sassen, Sarâja und ich, und wo wir uns einen „Dschinnenapfel“ teilten. Wir standen auf, tanzten mit diesen Brautmädchen um den Felsen herum und sprangen in die Quelle, die unter dem Felsen entsprang. Wir bespritzten uns mit ihrem Wasser und teilten uns ihr Plätschern, hüpften umher und drehten uns im Kreis. Sarâja? Diese Gedanken seien ihm gekommen, als er auf seinem Felsen an der Küste bei Saib sass, sagte er. Eine Woche nach Erscheinen dieser merkwürdigen Schauspiele setzte er sich hin und notierte, was davon in seiner Phantasie hängengeblieben war und was sie ihm auf ungewöhnliche Weise mitgeteilt hatten: wie der Herzschlag eines Ungeborenen im Mutterleib. Er schwor mir hoch und heilig, er habe das, was er sich gegen Ende des Jahres 1983 notierte, bis zum heutigen Tag geheim gehalten. Dieser Vorfall war ein Schlüssel, dem altägyptischen Lebensschlüssel ähnlich, sagte er. Jener hiess „Schlüssel des Nils“, also lass uns den deinen „Schlüssel des Horntals“ nennen, erwiderte ich. Und er: Vielleicht war es auch ein Zauberkamm, der Wunderlampe des Aladin ähnlich, mit dem ich die Gebirge des Vergessens durchkämmte und mit all meinen Kräften versuchte, in die Tiefen der Erinnerung vorzudringen. Jene rauchgetränkte Nacht war eine im Spätsommer – im ersten Sommer nach dem von „Ain al-Halwa“, dem „Auge der Schönen“, in dem die Augen austrockneten, dem Sommer von Sabra und Schatîla9 –, in dem die Felder verdorrten. Alles wurde niedergedroschen – vom Kaktus voll Geduld bis zur Grabesmuld. Die Saat vom Brand ward rot, die Herden alle tot. Die Pflänzchen hat man ausgerissen, der Pflanzer hat ins Gras gebissen. Gerüchte breiteten sich aus im Staat, der sich unaufhörlich ausbreitete; Gerüchte über Gefahren einer neuen „Infiltration“ durch die alten „Infiltranten“. Sie begannen wieder jene durch ihre Gassen und Viertel irrenden Geister zu sehen, die ihnen schon im Jahr der zweiten grossen Katastrophe10 erschienen waren. Irgendwie waren einige dieser Geister auf der Erde am Leben geblieben. Vielleicht waren auch die liegengebliebenen Leichname wieder zum Leben erweckt worden. Jedenfalls konnte man mit eigenen Augen sehen, wie sie stumm und taub über Kap Nakûra aus dem Libanon zurückkehrten, weder sprachen noch hörten. Fragte man sie, was ihnen „dort“ widerfahren sei, sahen sie wortlos nach rechts oder links. Grüsste man sie, gingen sie grusslos ihrer Wege. Es wurde viel über sie geredet. Sie kämen mit einer einwöchigen Aufenthaltserlaubnis über Kap Nakûra herein, behauptete man, tauchten dann unter und gingen nicht wieder zurück. So war er fähig, in jener rauchgetränkten Nacht auf seinem Felsen sitzend seine Lieben zu empfangen. Er sagte: Ich hütete mich, meine Anglerkollegen zu fragen, was es mit diesem „Etwas“ wirklich auf sich habe, über das gerätselt und getuschelt wurde, ob sie ihm tatsächlich begegnet seien – aus Angst, dies könnte einer jener Scherze sein, die ich von ihnen gewöhnt war und die wir ohne Arg austauschten. Ich hatte sie schon mit der Tatsache vertraut gemacht, dass mein Verstand zu träge ist, um ihre Erfahrungen mit den Grundlagen des Fischfangs aufzunehmen:...