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E-Book

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Häusser Meins!

Erzählungen über eine Kindheit im Norden Kasachstans
3. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7504-0193-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen über eine Kindheit im Norden Kasachstans

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

ISBN: 978-3-7504-0193-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Roman einer Kindheit in der Parallelwelt der Russlanddeutschen in Kasachstan - zum Nachdenken und zum Schmunzeln: - über babylonische Sprachverwirrungen und das Überleben im Sozialismus - über Vertreibung und Verbannung, Heimatlosigkeit und den Versuch einer Heimatverortung - über ein ramponiertes Schaukelpferdchen vom Sperrmüll und über das Christkind, das man sehen kann. Es sogar berühren könnte, wenn man sich nur trauen würde. - über die blühende Tulpensteppe, ein einzigartiges Schauspiel in der sonst so kargen Landschaft im Nordwesten Kasachstans - über schöne und weniger schöne Erinnerungen und die Heiligsprechung der Kindheit.

Ida Häusser wurde 1962 als Russlanddeutsche in Kasachstan geboren und ist auch dort aufgewachsen, als Älteste von dreizehn Geschwistern. Die Familie gehörte zu den Andersdenkenden und konnte bereits 1981 nach Deutschland ausreisen. Hier folgten Sprachkurs, Abitur, Studium der Wirtschaftsinformatik und 26 Jahre berufliches Engagement. Ida Häusser ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und eine Enkelin. Die Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte sie erst spät, mit knapp 50 Jahren. Seitdem widmet sie sich der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte, recherchiert, fragt nach, hält fest, reist, lernt.
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MEINE RANETKA


Anfang 1982, kurz nachdem wir nach Deutschland kamen, arbeitete ich als Stationsgehilfin in einem Krankenhaus. Dorthin kam regelmäßig eine Frau zur Dialyse, eine sehr nette Frau. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß oder wie sie aussah, ich kann mich eigentlich nur an diese Episode erinnern, weil sie die Erste war, die mir diese besondere Frage stellte: „Wo sind Sie daheim?“ Später habe ich verstanden, dass das nur eine politischkorrekte Alternative zum plumpen „Wo kommen Sie her?“ war. Eine Alternative, in der – sicher unbeabsichtigt – noch mehr mitschwang, nämlich dass ich an diesem Ort, an dem die Frage gestellt wurde, nicht daheim war. Darüber habe ich erst später nachgedacht.

Damals hat mich diese Frau, die mir immer etwas zugesteckt hat, wenn ich mit dem Wischen fertig war, sehr verunsichert. Ich antwortete vorlaut: „Ich bin Kosmopolitin!“ Ich weiß nicht mehr, was sie darauf sagte, ich kann mich nur an ihr Lächeln in diesem Augenblick erinnern: Sie lächelte nachsichtig und verlegen zugleich. Sie ahnte, dass ich nicht viel von der Welt gesehen hatte. Woher denn? Von meinen damals neunzehn Jahren war ich drei Tage in Moskau gewesen, eine Woche in Weißrussland (beides Klassenfahrten), zehn Tage im Baltikum und ein Dreivierteljahr in Oberbayern. Den Rest der Zeit habe ich in Aktjubinsk im Nordwesten von Kasachstan verbracht.

Bei meinen Eltern war die Antwort so einfach. „Dahaam“, das haben wir tausendfach gehört, von ihnen, den Großeltern, von der ganzen Verwandtschaft, „dahaam“, das war in Kleinliebental bei Odessa am Schwarzen Meer. Niemals sagten sie zu Aktjubinsk „Dahaam“. Ich kannte Kleinliebental nicht, zunächst durften wir es nicht besuchen, später, in der Zeit des politischen Tauwetters, waren meine Eltern ganz kurz dort, vielleicht eine Stunde. In ihrem Dahaam waren fremde Leute, wahrscheinlich selbst Umsiedler aus den vom Krieg zerstörten Gebieten der Ukraine, die sie anblafften und wegjagten, wie man ungebetenes Gesindel verscheucht.

Warum gefiel mir das Wort „Kosmopolitin“ damals so gut? Wo hatte ich es aufgeschnappt, noch in der Sowjetunion, schon in Deutschland? Ich weiß es nicht.

Später habe ich nachgeschlagen: Kosmopolit kommt aus dem Griechischen, kosmos steht für „Welt“ und „Ordnung“, für „Weltordnung“, polites für „Bürger“ oder „Einwohner“. Es hat zwei Bedeutungen, erstens ist Kosmopolitismus ein weltanschaulicher Standpunkt, der den ganzen Erdkreis als Heimat betrachtet. So meinte ich das sicher auch, ich wollte Weltbürgerin sein, jemand, der sich jedem Land gleichermaßen verbunden fühlt. In der Biologie, das ist die zweite Wortbedeutung, bezeichnet man mit Kosmopolit eine auf der ganzen Erde verbreitete Pflanzen- oder Tierart, die unter extremsten Bedingungen gedeihen kann. Als Beispiel wird das einjährige Rispengras genannt, das sogar in der Antarktis vorkommt. Als ich das las, musste ich schmunzeln. Zufällig lag ich damals fast richtig. Fast, denn die eigentlichen Kosmopoliten sind meine Eltern, ungewollt. Vielleicht bin ich es auch ein bisschen, denn ein Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Ende März 1944 – meine Eltern waren im Vorschulalter und Nachbarskinder – haben sie ihr Heimatdorf verlassen und sind mehr als 5.000 Kilometer vom Schwarzen bis zum Weißen Meer und in das Steppenmeer gewandert. Zuerst westwärts, in endlos langen Trecks zur Donau, und dann entlang der Donau, mit Fuhren, auf denen die ganz Alten und die ganz Kleinen saßen und ihr ganzes Hab und Gut sowie die Verpflegung untergebracht waren. Der wichtigste Lieferant für den Reiseproviant war die Kuh, die hatte jede Familie dabei. Das war alles natürlich sehr aufregend für meine Eltern, die damals, wie gesagt, Kinder waren. Sie sprangen öfter von der Fuhre herunter unter dem Vorwand, ihren großen Brüdern zu helfen und Gras für die Kuh zu pflücken. Aber eigentlich wussten sie intuitiv, was jeder Weltreisende weiß: Nur wo du zu Fuß warst, warst du richtig!

Doch bereits beim ersten Bombenangriff, nur wenige Kilometer von daheim, war ihre Abenteuerlust gestillt. Jetzt verstanden auch die Kinder, warum ihre Eltern beim Losfahren weinten, aber sie konnten nicht zurück, sie waren alle Staatsfeinde, das ganze Dorf, alle deutschen Dörfer in der von den Nazis besetzten Ukraine. Von dem seit 1917 herrschenden sowjetischen Weltbild, von der Kollektivierung, von Terror und Hunger hatten sie genug, sie freuten sich auf die neue Weltordnung und kollaborierten während der deutschen Besatzung. Nun mussten sie in der verhängnisvollen Begleitung der Wehrmacht zurückweichen, „Heim ins Reich“.

Sie zogen in einer endlosen Kolonne über die verschneiten und verdreckten Feldwege in Moldawien, irrten mehrere Wochen lang in Rumänien, im Zickzack, von einem Dorf zum anderen, mal an den frisch angesäten Feldern und blühenden Obstbäumen vorbei, mal an noch rauchenden Ruinen der zerstörten Häuser; wenn der Weg abgeschnitten war, mussten sie umkehren, wieder zurück, eine neue Strecke suchen, oder in einen Wald flüchten, bis ein Bombenangriff vorbei war. Sie klopften an die Tore fremder Menschen und baten um Unterschlupf und etwas Wasser oder Hafer für die Pferde, und mein Vater erzählte uns immer von Mamalyga, dem Maisbrei der Südeuropäer, wie köstlich schmeckte er! Manche Menschen waren sehr freundlich, und manche drehten sich wortlos um, und wieder manche nutzten ihre Not aus und prellten sie schamlos beim Geldwechsel und beim Warentausch. In Bulgarien war es warm und friedlich, die Feldfrüchte schon fast reif.

Dann kam der Durchbruch, der Donaudurchbruch, sie hielten den Atem an und die Zügel fest und gingen durch das berühmte Eiserne Tor, im langen Konvoi, eine Fuhre dicht nach der anderen, auf der einen Seite der Fuhre die schäumend strömende achtzig Meter tiefe Donau, auf der anderen die schroffen Felsen. Als sie kurz nach der serbischen Grenze endlich das Aufnahmelager und die Eisenbahnstation erreichten, wurde die Ernte schon eingefahren. Nicht ihre Ernte. Sie bekamen eine Empfangsbestätigung für die Fuhren und die nach dem langen Marsch noch übriggebliebenen Pferde und Kühe.

Von Serbien fuhren sie mit dem Zug nach Litzmannstadt, dem heutigen Lodz in Polen, und weiter nach Warthbrücken. Hier sollten sie sich – nach der faschistischen Weltsicht – in den Polenhöfen ansiedeln. Und Deutschland brauchte ihre Väter, für die Wehrmacht, und die minderjährigen Söhne sowie die Großväter für den Volkssturm; dafür hatte man kurz vor Kriegsende noch die ganzen Familien mit eingebürgert. Nur einmal sah meine Mutter ihren Vater in der Uniform und danach nie wieder. Fast alle Männer Kleinliebentals sind gefallen oder kamen in russische Gefangenschaft und starben dort.

Hier im fremden Warthegau und an der Oder erlebten meine Eltern die schlimmsten – letzten – Schlachten dieses Krieges und den Einmarsch der sowjetischen Truppen. Deutschland kümmerte sich nicht um die Schwarzmeerdeutschen. Es war mit sich selbst beschäftigt, und mit den Flüchtlingen aus Schlesien, dem Sudetenland, Pommern, mit Millionen heimatlosen und heimatsuchenden Menschen. Nicht so die Sowjetunion, sie sagte „Dawaii!“. Billige nachwachsende Arbeitskraft, damit hatten sie schon 1941 bei der Deportation der Wolgadeutschen so gute Erfahrungen gemacht: arbeiten viel, essen wenig, und für die Schwachen reicht ein Quadratmeter Erde, davon hat Russland so viel.

Vom Warthegau wurde die Familie meines Vaters – meine Oma und ihre fünf Kinder – nach Aktjubinsk gebracht. Meine Mutter, ihre fünf Geschwister und meine andere Oma in das Gebiet Archangelsk, südlich des Polarkreises. Bis sie an den ihnen zugewiesenen Zielorten ankamen, verging ein weiteres Jahr. Es war April 1946 und noch alles tief verschneit. Nach über 5.000 Kilometern, mit der Fuhre und in überfüllten Güterzügen und Bahnhöfen, die Kuh, das Pferd, die Fuhre längst abgegeben, das Schmalz, das Mehl, das Dörrobst längst aufgegessen, nach monatelangem Bombenhagel und nochmals monatelanger Fahrt durch das zerstörte Russland waren die Zwangs-Weltbürger über ganz wenig glücklich. Über eine Feuerstelle und ein Dach über dem Kopf. Sie mutierten zu biologischen Kosmopoliten, zu anspruchslosem einjährigem Gras.

Kosmos heißt Weltordnung. Doch was war denn schon in dieser Zeit in Ordnung? Wo? Nur die Naturgesetze, nur noch Sonne, Mond und Sterne funktionierten ordentlich. Die Sonne ging auf, unbeeindruckt von der Unordnung auf der Welt, blieb eine Zeit lang, zeigte den Menschen alles, was sie zerstört hatten, wärmte eine Zeit lang die Frierenden und sank wieder. Unaufgeregt, routiniert. Dann der Mond und die Sterne, noch weiter weg als die Sonne, kühl und ungerührt. Acht Monate dauern die Winter in Sibirien. Acht Monate, in denen sich die Sonne kaum zeigte. Kerzen und Petroleumlampen übernahmen ihre Aufgabe. Meine Mutter erzählt, dass man ihre Siedlung im Winter nur mit dem Traktor und im Sommer nur hoch zu Ross erreichen konnte, weil die Straßen so matschig waren. Sie waren von der...



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