E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Halder Vom Dunkel ins Licht
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30225-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kein ganz gewöhnliches Leben. Autobiografischer Bericht
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-293-30225-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Alter von sieben Jahren von der Mutter im Stich gelassen, wächst Baby Halder in armen und zerrütteten Familienverhältnissen auf. Mit zwölf Jahren muss sie einen doppelt so alten Mann heiraten. Mit dreizehn – selbst noch ein Kind – wird sie zum ersten Mal Mutter. Ihr Ehemann behandelt sie schlecht und schlägt sie.
Baby Halder entschließt sich, ihren Mann zu verlassen. Sie steigt mit ihren Kindern in den Zug nach Delhi und findet eine Stelle als Haushaltshilfe. Obwohl sie nur wenige Jahre selbst zur Schule gegangen ist, beginnt sie, ihre Lebensgeschichte zu schreiben – ermutigt durch ihren Dienstherrn Prabodh Kumar, der ihr Erzähltalent entdeckt. Ihr Buch wird eine Sensation und geht um die Welt.
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Kein ganz gewöhnliches Leben
Bis ich vier Jahre alt war, lebte ich mit meinem Vater und meiner Mutter, meinen Brüdern und meiner Schwester irgendwo in Jammu und Kaschmir. Baba arbeitete dort. Es war ein schöner Ort mit großen, hohen Bergen und vielen verschiedenen Blumen. Von dort brachte uns Baba nach Murshidabad. Nach einer Weile wurde Baba nach Dalhousie versetzt, wo wir dann wohnten. Dalhousie erinnerte mich sehr an Jammu und Kaschmir. Schnee fiel vom Himmel, die Flocken wirbelten herum wie ein Bienenschwarm und ließen sich sanft auf dem Boden nieder. Wenn es regnete, war es unmöglich, das Haus zu verlassen. Dann spielten wir einfach drinnen. Oder wir beobachteten von unseren Fenstern aus, wie der Regen fiel. Wir liebten Dalhousie, und wir blieben eine ziemlich lange Zeit dort. Wir gingen jeden Tag draußen spazieren. Wir waren so glücklich, die Blumen auf den Hängen zu sehen. Wir spielten zwischen den Blumen alle möglichen Spiele, und manchmal überspannte ein Regenbogen die Berge und füllte mein Herz mit Freude. Wir weinten, als Baba uns wieder nach Murshidabad brachte, wo mein älterer Onkel, unser Jetha, lebte. Baba mietete ein Haus und schickte uns Kinder in die Schule. Dann verließ er uns und ging wieder seiner Arbeit nach. Jeden Monat schickte er Geld, um unsere Haushaltskosten zu bezahlen. Zuerst kam das Geld regelmäßig, aber dann gab es allmählich Lücken von mehreren Monaten. Ma hatte sehr große Mühe zurechtzukommen: wie sollte sie auch? Nach einer Weile lagen sogar lange Lücken zwischen seinen Briefen. Ma schrieb viele Briefe an ihn, aber es kam nie eine Antwort. Baba war so weit weg, dass Ma nicht einmal zu ihm hinfahren konnte. Sie war sehr besorgt, aber trotz aller Schwierigkeiten ließ sie nicht zu, dass wir aufhörten, die Schule zu besuchen. Mehrere Jahre vergingen, ehe Baba wieder heimkam. Wir freuten uns so sehr, ihn zu sehen. Aber nach einem Monat oder zweien war er wieder weg. Eine kurze Zeit schickte er regelmäßig Geld nach Hause, aber dann begann das alte Spiel von Neuem. Ma war so ärgerlich und frustriert, dass sie es oft an uns ausließ. Sie bat unseren Jetha um Hilfe, aber der hatte es schwer genug, seine eigene Familie über Wasser zu halten. Inzwischen wurde Didi, meine ältere Schwester, erwachsen, und das war eine weitere Sorge, die Ma bedrückte. Ma bat Babas Freunde um Hilfe, aber keiner von ihnen war in der Lage, sich mit einer weiteren Familie zu belasten. Ma dachte auch daran, eine Arbeit anzunehmen, aber das hätte bedeutet, das Haus zu verlassen – was sie nie getan hatte. Und vor allem, was konnte sie arbeiten? Ein anderes ihrer Kümmernisse war: Was würden die Leute sagen? Aber sich darum zu kümmern, was die Leute sagen, hilft nicht, den leeren -Magen zu füllen, nicht wahr? Dann tauchte Baba eines Tages unerwartet auf. Ma brach in Tränen aus, als sie ihn sah. Und wir alle fingen auch an zu weinen. Mein Jetha und andere aus der Nachbarschaft taten ihr Bestes, Baba zu erklären, dass es nicht richtig war, einfach so wegzugehen, aber er ließ sich nicht überzeugen. Er verließ Ma einfach und ging wieder fort. Sie regte sich schrecklich auf. Ich war etwas besser dran als sie, weil ich wenigstens ein paar Freunde hatte, insbesondere Tutul und Dolly, mit denen ich immer reden konnte und die mich sehr gern hatten. Nachdem Baba wieder weggegangen war, schrieb er ein Weilchen später einen Brief und teilte mit, dass er bald aus der Armee ausscheiden und nach Hause kommen würde. Wir waren überglücklich, aber als Baba schließlich heimkam, schien er überhaupt nicht froh darüber, die Armee verlassen zu haben. Er sprach weder richtig mit uns noch mit Ma, und er verlor wegen kleinster Dinge die Beherrschung. Wir fingen nun an, uns vor ihm zu fürchten, und gingen ihm aus dem Weg – wenn wir ihn kommen sahen, schlichen wir davon. Didi wurde erwachsen, und Ma hörte nicht auf, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Eines Tages schrieb mein Onkel, der jüngere Bruder meines Vaters, aus Karimpur, dass er eine mögliche Partie für sie gefunden hätte. Sobald er den Brief gelesen hatte, packte Baba ein paar Sachen zusammen, nahm meine Schwester und fuhr dorthin, ohne jemandem etwas zu sagen. Ma war wirklich aufgebracht. Sie sagte immer wieder, dass sie so nicht mehr leben könne. Sie fragte Gott, wann sie in ihrem Leben Frieden haben würde. Das alles war schließlich zu viel für sie, und eines Tages ging sie mit Kummer im Herzen und meinem kleinen Bruder in ihren Armen einfach von zu Hause weg. Zuerst dachten wir, dass sie nur wie gewöhnlich zum Markt gegangen wäre. Aber als sie auch nach ein paar Tagen nicht zurückkehrte, wurde uns klar, dass etwas nicht stimmte, und wir alle fingen an zu weinen. Unser Jetha, der in der Nähe wohnte, versuchte uns zu beruhigen und sagte, dass sie vielleicht ihren Bruder besuchte und bald zurückkäme. Als sie fortging, war Baba in Karimpur, und als er vier Tage später zurückkam, fragte er, was sie gesagt habe, bevor sie uns verließ. Wir erzählten ihm, dass sie gesagt hatte, sie gehe zum Markt. Er lief dann zu ihrem Bruder, um nach ihr zu suchen, aber sie war nicht dort. Er suchte alle Orte ab, an die sie möglicherweise hätte gehen können, aber es gab keine Spur von ihr. Er wusste absolut nicht mehr weiter – er hatte überall gesucht und war nun wirklich besorgt, weil es keine weitere Möglichkeit gab. Schließlich schlug jemand vor, dass er einen guni-vaid zu Rate ziehen sollte. Also tat Baba das. Er machte es dann immer so: Jemand schlug etwas vor, und er ging los und tat es. Er tat überhaupt alles, was ihm jemand riet, denn er wusste – genauso gut wie die Leute in unserer Nachbarschaft – warum sie gegangen war. Und jeder machte ihn verantwortlich und sagte, dass sie nicht gegangen wäre, wenn es sich nur um ein kleines Gezänk gehandelt hätte. Diese Dinge nahmen uns sehr mit, aber es gab nicht viel, was wir hätten tun können. Baba war auch unglücklich. Die quälenden Sorgen hatten ihn sehr verändert. Ihm ging es auch sehr um Didi. Wie konnte ein erwachsenes Mädchen im Hause bleiben, wenn die Mutter fortgegangen war? Didi war gar nicht so alt – gerade fünfzehn oder so. Aber Baba war nicht bereit zu warten, und er verheiratete sie einfach, damit die Leute nicht darüber reden konnten. Erst nachdem meine Schwester weg war, fühlten wir uns wirklich mutterlos. Als für Didi der Augenblick gekommen war zu gehen, weinte sie und sagte: »Wenn Ma uns nicht verlassen hätte, dann träfe mich jetzt wohl nicht dieses traurige Los.« Und zu Baba gewandt fuhr sie fort: »Du schickst mich fort, aber nun hast du die Verantwortung, auf meine kleinen Geschwister aufzupassen. Sie haben ja jetzt niemanden außer dir.« Didi ging, und unsere Probleme fingen erst richtig an. Baba blieb ja nie zu Hause. Manchmal gab er uns Geld und sagte: »Kocht euch etwas und lernt fleißig.« Wir litten Not, aber trotzdem gingen wir zur Schule. Ich hatte in der Schule eine gute Freundin, deren Mutter mich oft nach Hause einlud und mir etwas zu essen gab und mich sogar aufforderte, bei ihr zu bleiben. Unser Schuldirektor war auch sehr freundlich zu mir. Er schenkte mir Hefte und Bleistifte, und er veranlasste seine Tochter, mich kostenlos zu unterweisen, nachdem Ma uns verlassen und unser zusätzlicher Unterricht aufgehört hatte. Ich liebte die Schule ebenso wie ich unser Zuhause hasste. Ich wollte nie nach Hause gehen – dort gab es keinen, der meine Arbeit so schätzte wie meine Lehrer in der Schule. Es gab keinen Anreiz, dorthin zu gehen. Die Tage, an denen kein Unterricht stattfand, dehnten sich endlos. Mir fehlten Ma und Didi so schrecklich, dass ich davonlief, sobald ich eine Chance hatte, mit meinen Freunden zu spielen. Ich liebte es, mit ihnen zu spielen! Wir spielten kit-kit, lukochuri, rumalchuri und hüpften nach Herzenslust – und die Stunden vergingen wie im Flug. Ich fehlte keinen Schultag und ließ es keinen merken, dass ich mit leerem Magen in die Schule gekommen war. Ich fürchtete mich zu sehr vor Baba, um ihm zu sagen, dass nichts zu essen da war. Eines Tages kam eine Freundin zu uns, um mich abzuholen, so dass wir zusammen zur Schule gehen konnten. Ich machte mich schnell fertig. Meine Freundin sagte, dass ich etwas essen sollte, bevor wir gingen, und ich platzte heraus, dass nichts zu essen da war. Baba hörte das. Ich wusste nicht, dass er zu Hause war, sonst hätte ich nichts gesagt. Als ich an jenem Tag aus der Schule heimkam, schlug er mich so heftig, dass ich drei Tage lang nicht aufstehen konnte, und noch viele mehr, ehe ich mich in der Lage fühlte, wieder zur Schule zu gehen. Meine Lehrer und Freunde kamen, um sich nach mir zu erkundigen. Sobald mein Dada, mein großer Bruder, etwas älter war, entschied er, nicht mehr bei Baba leben zu wollen, und ging, um bei Pishi-ma, meiner Tante, zu wohnen, obwohl auch sie nicht wohlhabend war und gerade so ihr Auskommen hatte. Zu Hause waren jetzt nur noch Baba, ich und mein kleiner Bruder. Unser Jetha dachte, man könne unsere Familie am besten wiederherstellen, wenn er Baba dazu brächte, wieder zu heiraten. Als er das vorschlug, widersetzte sich Baba zuerst, aber dann gab er sehr schnell nach. Meine Stiefmutter hörte Baba nie zu. Sie gab uns nie regelmäßig zu essen, sie schlug uns oft ohne Grund, und sie erzählte Baba Lügengeschichten über uns, sodass er uns ebenfalls schlug. Baba war nicht bereit, uns anzuhören, und es gab Zeiten, in denen er uns nicht einmal ansah. Wir konnten nichts machen. Als Jetha merkte, was vor sich ging, rief er Baba zu sich und...