Hall | Maxwells Dämon | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 420 Seiten

Hall Maxwells Dämon

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8270-8033-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 420 Seiten

ISBN: 978-3-8270-8033-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jungautor Thomas Quinn erlebt einen seltsamen Herbst. Er fühlt sich von einer Romanfigur gestalkt. Vor neun Jahren schrieb sein Mentor Andrew Black einen überaus erfolgreichen Krimi  und verschwand dann spurlos. Aber nun meint Thomas, Blacks Romanschurken überall zu sehen. Ein geheimnisvolles Zeichen seines Idols? Thomas macht sich auf die Reise in das entlegene Dorf, in dem er Black zuletzt traf... »Maxwells Dämon« ist eine alle Gewissheiten auf den Kopf stellende Suche nach der magischen Kraft des Alphabets, nach dem Rätsel der Liebe und nach dem Sinn des Lebens in dieser chaotischen Welt. »Erfinderisch, witzig und äußerst klug. . . Ich wäre vor Bewunderung fast vom Stuhl gefallen.« - Audrey Niffenegger

Steven Hall, geboren 1975 in Derbyshire, gehörte nach seinem Kunststudium an der Universität Sheffield zu den Gründungsmitgliedern des Filmkollektivs Manchester WetNana, drehte einige Kurzfilme, schrieb Kurzgeschichten und machte Konzeptkunst. »Gedankenhaie«, sein erster Roman, wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und mit dem Borders Original Voices Award 2007 ausgezeichnet.
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2


Dreißig Jahre später

Broten’s Encyclopaedia of British Plants and Trees ist das erste Buch in meinem Bücherregal, aber wüsste man das nicht, könnte man es nicht erkennen. Es ist in Blisterfolie und die Art von UV-resistentem Plastik eingesponnen, das verhindert, dass Superman-Comics im Sonnenlicht zerfallen.

Die dreißig Jahre alte Rose darin hat nur leicht gelitten. Ein einziges Blütenblatt fehlt, ausgerissen von meinem strubbeligen sechzehnjährigen Ich. Der Idiot. Er verspürte das Bedürfnis, das Blütenblatt mit sich herumzutragen und es bei der Art von Party, auf der immer The Cure lief, den Mädchen zu zeigen. Natürlich gab er es irgendwann einer von ihnen, als sie spät in einer Sommernacht in einem geschlossenen Park saßen.

Es gibt noch weitere, geringere Schäden. Hier ein versehentlich geknicktes und eingerissenes Blatt, dort ein Dorn, der sich gelöst hat und in die Bindung des Buches pikt. Diese Dinge nehmen mit jedem Hervorholen zu. Darum bleibt die Rose meiner Mutter heutzutage fest zwischen die Seiten gepresst, sicher verborgen in der pechschwarzen Obhut radierter Weißdorne und Hyazinthen, eingewickelt in ihre Blisterfolie und Supermans Spezialplastik.

Das nächste Buch in meinem Bücherregal – angenommen, wir bewegen uns in östlicher Richtung, wie es bei uns alle jungen Leser zu tun lernen[1] –, das nächste Buch also ist eine große gebundene Ausgabe der Gesammelten Werke meines Vaters.

Die Widmung auf der Titelseite lautet: »Ich werde immer für dich da sein, Tom«, und wenn man mich darum bäte, könnte ich auch heute noch jeden Kringel und jede Linie dieser Mitteilung aus dem Gedächtnis nachzeichnen. Es ist ein gebundenes Buch mit einigen Anzeichen von Verschleiß – abgegriffene Seiten, geknickte Ecken, Unterstreichungen. Ein Antiquariat beschriebe es vielleicht mit »starke Gebrauchsspuren«, aber wäre es ein Teddybär, man würde nicht zögern, ihn »ein wenig abgeliebt« zu nennen.

Nach den Gesammelten Werken kommen wir zu drei Büchern aus meiner frühen Jugend. Eine hübsche gebundene Ausgabe von Don Quijote, eine Taschenbuchausgabe von Es und ein eselsohriges Exemplar von Der Hexenmeister vom flammenden Berg.

Diese Bücher sind Überlebende, bemerkenswert aufgrund der Tatsache, dass sie noch existieren. Im Alter von dreizehn Jahren, an einem längst vergessenen Julitag, nahm ich jedes von ihnen aus dem Regal in unserem Haus auf dem Land und legte es in einen Koffer (zusammen mit den Gesammelten Werken und der Enzyklopädie der Pflanzen und Bäume, die mich überallhin begleiteten), um sie als Lesestoff für die Sommerferien ins Haus meiner Tante am Meer mitzunehmen. Darum waren die Bücher nicht in unserem Haus, als die zweite Frau meines Vaters, die Dichterin Margery Martin, es niederbrannte und auch alles andere zerstörte, was wir besaßen.

Aber lassen wir das.

Nach den Überlebenden kommt ein weiteres Buch meines Vaters, Die neuen gesammelten Schriften. Es ist ein schmales schwarzes Buch, eine Linie aus Ruß und Trostlosigkeit, die das Regal teilt wie die K-T-Grenze. Die Widmung lautet: »Für Thomas, meinen Sohn«. Dr. Stanley Quinn ließ noch Raum für weitere Wörter, muss es sich aber anders überlegt haben oder nicht dazu gekommen sein, sie hinzuzufügen. Der Rest der Seite blieb unangetastet. Und es markiert ein Ende, dieses Buch, eine zerfurchte und zerbombte Maginot-Linie zwischen mir und meinem Vater. Eine Linie, die in den vielen langen Jahren danach keiner von uns beiden mehr überschreiten sollte.

Die Bücher ziehen sich weiter im Regal entlang, mehr als ein Jahrzehnt vergeht mit ihnen, bis wir schließlich bei The Qwerty Machinegun von Thomas Quinn ankommen, meinem ersten eigenen Roman. Ich hatte dieses Exemplar am Veröffentlichungstag meinem Vater geschickt, nur um es eine Woche später mit einem knappen Vermerk von jemand Unbekanntem zurückzuerhalten – »Zu wenig und zu spät«, stand da.

Zu wenig und zu spät. Die Nachrufe erschienen wenige Tage darauf. Ich hatte schon immer ein lausiges Timing. Mein Vater – mein sprechender, Reden schwingender, sich bewegender, atmender, meine Hand haltender Vater – hatte sich endgültig aufgelöst.

o

Gleich nach The Qwerty Machinegun kommt ein weiterer Erstlingsroman, der hinter meinem eigenen aufragt wie das Empire State Building hinter dieser kleinen Kirche in New York – Cupid’s Engine.

Dieses riesige Buch steht genau in der Mitte meines Regals wie ein großer, dunkler Scheitelstein, jeder Quadratzentimeter des verknitterten und abgestoßenen Einbands mit Lob zugekleistert: »Der Kriminalroman des Jahrzehnts«, »Eine verschachtelte Trickkiste voller Entzücken«, »Suchterzeugend und erstaunlich«, »Ein Fest für Krimifans«, »Makellos«, »Bemerkenswert« und irgendwo dazwischen »›Ein Schriftsteller von einzigartiger Begabung‹ – Stanley Quinn«. Mein Vater leistete selten Büchern anderer Autoren Schützenhilfe, aber Cupid’s Engine ist auch sonst, auf mindestens ein Dutzend verschiedene Weisen, bemerkenswert. Der Verfasser des Buches, Andrew Black, wird auf diesem Umschlag kaum hervorgehoben, doch das hat in den neun Jahren seit der Erstveröffentlichung von Cupid’s Engine nicht verhindert, dass sein Name in der Vorstellungswelt des Feuilletons und der Leserschaft eine enorme Bedeutung einnimmt. »Ein mysteriöses, geheimnisumwobenes Genie«, lautet das Zitat vom Independent. Und die müssen es wissen. Wie alle anderen auch hatten sie kein Interview oder auch nur ein Autorenfoto bekommen, das sie neben ihrer 5-Sterne-Besprechung hätten abdrucken können. Bei Veröffentlichung des Buches wusste man nichts über Andrew Black; niemand konnte mit Black sprechen, niemand konnte Black treffen, und so ist es bis heute geblieben. Verschwörungstheorien, Täuschungsversuche, unscharfe Autorenfotos und gefälschte Dokumente machten die Runde und wurden Stück für Stück widerlegt und verworfen. Blacks Verlag hatte auf Nachfrage nur kokettes Lächeln und Schulterzucken anzubieten, wusste man doch, dass ein Mysterium Buchverkäufen nicht schadet, und Blacks Agentin, Sophie Almonds, beantwortet Jahr für Jahr sämtliche Nachfragen mit ein und derselben Verlautbarung: »Andrew Black steht nicht für Kommentare oder Interviews zur Verfügung, dankt Ihnen jedoch für Ihr Interesse an seinem Werk.«

Eines der wenigen konkreten Details, das Blacks Jäger zutage fördern und überprüfen konnten, betraf jenes ungewöhnliche Umschlagzitat meines Vaters. Ich war nicht der Einzige, der ein Lob von Stanley Quinn überraschend fand, und an diesem bestimmten Faden zu zupfen, führte diejenigen, die nach Einzelheiten zu dem mysteriösen Autor suchten, zu Ergebnissen.

Andrew Black war Assistent und später Protegé meines Vaters gewesen.

Auserwählter. Thronanwärter. Jünger. Suchen Sie sich aus den Zeitungsausschnitten etwas aus. Gelegentlich hatte ich auch geistiger Sohn gelesen, was noch ein klein wenig mehr wehtat als die anderen Bezeichnungen, wie Sie sich sicher vorstellen können. Mein Vater war enorm stolz auf Black, und im Gegenzug – so hieß es in mehreren Berichten – vergötterte Black meinen Vater. Sie waren ein Team, eine Einheit, eine zweiköpfige literarische Familie. Mein Vater verriet nie auch nur ein einziges weiteres Detail über Black, ganz gleich, wie oft man nachbohrte, doch die schlichten Tatsachen bestätigte er gern. Zum Protegé gewordener Assistent. Stolz.

Und die Sache ist die: Mein Vater war zu Recht stolz auf Black. Und ja, manchmal schmerzt es mich innerlich ein bisschen, wenn ich daran denke, aber was spielt das für eine Rolle? Er hatte recht.

Cupid’s Engine wurde zu einem globalen Phänomen und verkauft sich Jahr für Jahr für Jahr weiter in hohen Stückzahlen. Und das ist verdient; es ist verdient. Andrew Black ist ein Genie. Das Buch ist – das lässt sich nicht abstreiten – durch und durch ein Meisterwerk.

Dieses Exemplar hier wurde fast bis zur Zerstörung gelesen: Der Buchrücken ist eine einzige Masse weißer Bruchlinien, der Leim ist gesplittert, und Dutzende vergilbter, eselsohriger Seiten ragen in schiefen Winkeln hervor. Es ist ein faszinierendes Objekt, ein riesiger, schäbiger Monolith, ja tatsächlich so groß und so dominant, dass man das Buch dahinter leicht übersehen könnte.

Auf der anderen Seite von Cupid’s Engine steht, auf dem Regalbrett so weit nach hinten versetzt, dass es halb im Schatten versinkt, ein zweites Exemplar von The Qwerty Machinegun. Dieses ist schadhaft, sein Rücken von einer Kollision mit etwas Hartem schrecklich verkrümmt.

Nähme man dieses Exemplar aus dem Regal und schlüge es auf, stellte man fest, dass die Seiten fast bis zur Auslöschung voller Änderungen, Streichungen und Aberhunderten von Anmerkungen und Korrekturen in säuberlicher Handschrift mit einem feinen schwarzen Stift sind. Blätterte man zum Anfang, zur Titelseite, fände man eine kleine, ebenso säuberlich geschriebene Notiz:

Thomas,

Sie wollten wissen, was ich von Ihrem Roman halte.

Andrew Black

[1]Im Englischen weist der literarische Zeitpfeil nach rechts. Das ist unser Gesetz der Seiten, Zeilen, Wörter und Buchstaben. Links befindet sich eine hinter uns liegende Vergangenheit und rechts eine unbekannte Zukunft. Das wissen Sie natürlich. Sie reisen in diesem Augenblick mit der Richtung jenes Pfeils. Aber Vorsicht, es könnte erscheinen,...



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