E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Haller Rache
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7110-5256-8
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gefangen zwischen Macht und Ohnmacht
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7110-5256-8
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2.VON DER SCHADENFREUDE BIS ZUM RACHEKRIEG
Was ist Rache?
Rache ist viel mehr als das, was in mehr oder weniger wissenschaftlichen Definitionen beschrieben wird. Vor allem psychologisch ist der Begriff wesentlich weiter zu fassen, da auch Schadenfreude, Revanche oder das, was wir als »Heimzahlen« bezeichnen, ähnlich motiviert sind wie die eigentliche Rache. Schon die indogermanische Wortwurzel »ureg«, welche so viel wie »drängen, treiben, verfolgen, stoßen« bedeutet, weist auf das breite Spektrum der Rachemöglichkeiten hin. Rache gilt als archaische Form des Vergeltens, welche dem modernen Rechtsdenken nicht mehr entspricht, ist aber in ihren diversen Formen auch heute im menschlichen Leben so allgegenwärtig wie zu allen Zeiten. Gemeinhin wird unter Rache »eine von Emotionen geleitete, persönliche Vergeltung für eine als böse empfundene Tat, besonders als persönlich erlittenes Unrecht«, als »eine Handlung, die den Ausgleich von zuvor angeblich oder tatsächlich erlittener Ungerechtigkeit bewirken soll«, verstanden. Nach der Definition eines der bedeutendsten Racheforschers, des den Gerechtigkeitsgedanken in den Mittelpunkt stellende Psychologen Mario Gollwitzer, ist Rache »eine gezielte Schädigung einer oder mehrerer anderer Personen als Reaktion auf eine zuvor erlittene Ungerechtigkeit«. Eine weitere bekannte Rachedefinition stammt vom norwegisch-amerikanischen Sozialwissenschaftler und Gerechtigkeitsforscher Jon Elster. Dieser sieht in der Rache einen Versuch, »jemand anderen leiden zu lassen, weil er einen selbst hat leiden lassen, wobei oft große Risiken und Kosten für sich selbst in Kauf genommen werden«. Als Racheauslöser wird also die böse Absicht des Schädigers betrachtet, welcher dem Opfer nicht nur positive Zuwendung versagt, sondern rücksichtslos dessen Kränkungsgrenze überschritten hat. In der Soziologie wird Rache als Reaktion auf Herabsetzung in der sozialen Wertschätzung definiert. Sie sieht in der Rache ein Gegenstück zur Dankbarkeit, welche zwar ebenso durch eine »gebende Tat« ausgelöst werde, allerdings in die gegenteilige Richtung gehe. Rache sei eine »negative Gabe, mit der auf eine negative Gabe« geantwortet werde. Im Mittelpunkt der soziologischen Betrachtungsweise steht somit der Ausgleich. Anders als mit dem deutschen Wort »Rache«, dem englischen »Revenge« oder dem italienischen »Vendetta« wird das Wesen der Rache mit der griechischen Bezeichnung »Ekdikese« beschrieben. Wörtlich übersetzt heißt dies »außerhalb des Strafprozesses« (Dike war die antike Göttin der Gerechtigkeit). Durch Rache wird also versucht, so sagt der griechische Begriff, den Schädiger jenseits der Legalität zu bestrafen, sei es, weil die gerichtlichen Strafen als zu milde eingeschätzt werden, kein Vertrauen zur Justiz besteht oder Rache als naturgegebenes Urrecht auf Vergeltung nach einer persönlich erlittenen Schädigung oder Ungerechtigkeit betrachtet wird. Solche Sichtweisen lösen auch heute noch schwere Straftaten aus: Der damals 46-jährige russische Bauingenieur Witali Kalojew verlor bei der durch mehrere unglückliche Umstände zustande gekommenen Flugzeugkollision von Überlingen am 1. Juli 2002, die 71 Opfer forderte, seine Frau und seine beiden Kinder. Der schwerst getroffene Mann reiste knapp zwei Jahre später in die Schweiz und erstach am 24. Februar 2004 den Fluglotsen Peter Nielsen, der zum Zeitpunkt des Unglücks am Zürcher Flughafen Dienst hatte. Als Motiv nannte Kalojew Bestrafung des Fluglotsen, der entscheidende Fehler gemacht habe. Er wurde im Oktober 2005 wegen fahrlässiger Tötung vom Obergericht des Kantons Zürich zu acht Jahren Haft verurteilt, in der Berufungsinstanz wurde die Strafe wegen verminderter Schuldfähigkeit auf fünf Jahre und drei Monate reduziert. Nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftstrafe kehrte Kalojew in seine Heimat, die im Nordkaukasus gelegene russische Republik Nordossetien-Alanien, zurück. Dort wird er bis heute als Held verehrt. 2008 wurde er zum stellvertretenden Bauminister ernannt und bei seiner Pensionierung im Jahr 2016 mit höchsten staatlichen Auszeichnungen bedacht, darunter mit der Medaille »Zum Ruhm Ossetiens«. Kalojew hat wieder geheiratet und ist Vater von Zwillingen geworden. Von »verschobener Rache« spricht man, wenn sich die Rache nicht gegen jene Person richtet, die einem den Schaden zugefügt hat, sondern gegen Unbeteiligte aus der Familie, dem Gesinnungskreis oder dem sonstigen Umfeld des tatsächlichen oder vermeintlichen Schädigers. Nachdem wissenschaftlich lange Zeit darüber diskutiert wurde, ob verschobene Rache dieselbe Befriedigung bringe wie das direkte Zurückzahlen an den Schädiger, konnte die Forschergruppe um Mario Gollwitzer nachweisen, dass auch verschobene Rache recht süß sein kann. Direkte Rache löst beim Rächer weniger Schuldgefühle aus und führt zu mehr Befriedigung als verschobene Rache, welche nur dann als mäßig befriedigend erlebt wird, wenn das unbeteiligte Opfer und der ursprüngliche Übeltäter einer untereinander eng verbundenen Gruppe angehörten. Nach Gollwitzer ist deshalb verschobene Rache, die wohl auch der Sippenhaft zugrunde liegt, nicht nur als Ausleben der eigenen Frustrationen an irgendeiner anderen Person und auch nicht als irrationaler Impuls zu betrachten. Vielmehr kann sie als zielorientierte Handlung dem Rächer eine gewisse Genugtuung bereiten. Am 20. November 2019 ermordete in Berlin ein 57-Jähriger während eines Vortrages den damals 59 Jahre alten Dr. Fritz von Weizsäcker, Facharzt für Innere Medizin und Chefarzt einer Privatklinik. Der vorher strafrechtlich noch nie in Erscheinung getretene Täter hatte sich unter die Zuhörer gemischt, stürzte sich unvermittelt auf den Vortragenden und stach ihn nieder. Er konnte von einem unter den Zuhörern zufällig anwesenden Polizisten überwältigt und festgehalten werden. Laut Zeugen habe er bis zum Eintreffen der Polizei »seelenruhig« zugesehen, wie versucht wurde, das Opfer zu reanimieren. Bevor er abgeführt wurde, habe er geraunt: »Schaff ich es oder bin ich ein Versager?«. Auch in der Folge zeigte er nie Reue, sondern meinte wiederholt: »Ich bin froh, dass er tot ist. Für mich war es notwendig«. Bei den Einvernahmen nannte er sein Motiv: Rache an der Familie Weizsäcker. Besonders auf den Vater des Getöteten, den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, habe er seit Jahren einen Hass gehabt. Dieser sei als damaliger Vorstandschef einer deutschen Firma aus Ingelheim, die Säure für die Produktion von Entlaubungsmitteln lieferte, für deren Einsatz im Vietnamkrieg verantwortlich, bei dem 100.000 Vietnamesen getötet oder vergiftet worden waren. Sein nunmehriges Opfer aber kannte der Täter gar nicht, war von ihm nie behandelt worden und hatte noch nie mit ihm gesprochen. Als Einzelgänger in spartanischen Verhältnissen lebend, habe er 1991 einen Spiegel-Artikel mit der Überschrift »Der Tod aus Ingelheim« über die »Operation Ranch Hand« gelesen, was ihm die Augen geöffnet habe. Die Staatsanwaltschaft ging im Verfahren davon aus, dass der Attentäter, der sich selbst als »Zwangsneurotiker, Ex-Nazi und verkrachte Existenz« bezeichnete, psychisch krank wäre. Da er sich aber weigerte, mit einem psychiatrischen Gutachter zu sprechen, konnte dies nie genau geklärt werden. Trotz der ersichtlichen wahnhaften Züge des Täters, der sich selbst als »keinesfalls krank« bezeichnete und im Gefängnis mit den »nicht kranken Mördern« eingesperrt werden wollte, wurde er zu zwölf Jahren Haft verurteilt. In seinem Plädoyer sprach er an, wie befreiend die Rache auf ihn gewirkt habe: »Ich habe mich als Deutscher für die Verbrechen in Vietnam schuldig gefühlt und diese Schuld sühnen wollen. Nun fühle ich mich von jeder Schuld befreit.« Wie ambivalent und unsicher wir in unserer Einstellung zur Rache sind, zeigt sich in der Vielzahl von Ausdrücken und Begriffsabstufungen, mit denen wir ihr einen harmloseren Namen geben. Dies beginnt mit eigentlich wohlmeinend klingenden Formulierungen wie »Ich werde dir helfen« oder »Ich werde es dir zeigen«, unter denen jedoch stets eine Drohung und das Ankünden einer Racheaktion verstanden wird. Wenn wir von »Revanche« sprechen, hört sich dies sportlich an. »Zurückzahlen« oder »Heimzahlen«, englisch »pay back«, wirkt schon bedrohlicher, zielt aber ausschließlich auf ein Wiederherstellen von Gerechtigkeit ab. Mit jemandem »abrechnen« erinnert bereits an die Mafia, und beim »Büßenlassen« versteckt sich hinter dem religiösen Mantel ein Stück Sadismus. Schon wenn wir das nahezu ehrwürdige Sprichwort »Wer hoch steigt, der fällt tief« verwenden, klingt neben der Beschwörung von Gerechtigkeit und Ausgleich, dieser so wichtigen Rachemotive, auch Schadenfreude durch. Hinter der Feststellung »Man begegnet sich im Leben immer zweimal« ahnen wir nichts...