E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Haller Schatten über dem Aargau
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86358-973-8
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86358-973-8
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Lehrer der Alten Kantonsschule wird vergiftet, doch es gibt weder Motiv noch Verdächtige. Als ein weiterer Mord geschieht, beginnt Andrina Kaufmann undercover an der Schule zu ermitteln - und gerät unversehens nicht nur zur Hauptverdächtigen, sondern auch in Lebensgefahr . . .
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EINS Unter ihren Füssen knarrte der Holzboden, als Andrina ans Fenster trat. Sie stützte sich gegen den Fensterrahmen und schaute auf den Ententeich. Die Magnolie daneben blühte. Sonnenstrahlen fielen durch die frisch belaubten Baumwipfel und malten ein Muster von Licht und Schatten auf den Weg. Erinnerungen an die Zeit, als sie selbst die Alte Kantonsschule Aarau besuchte, blitzten auf. Nicht nur schöne, die schlechten überwogen. Weg mit den trüben Gedanken, dachte Andrina und betrachtete das frische Grün. Dazu war dieser Mittwochnachmittag viel zu schön. Der Winter hatte dieses Jahr sehr lange gedauert. Bis Ende März hatte Schnee gelegen. Dann war es mit einem Schlag warm geworden. Es schien, als ob die Natur in den letzten zwei Wochen den Rückstand aufholen wollte. Überall blühte es. Hinter ihr erklang das Klicken der Tür. «Da bin ich wieder», sagte Alfred Schnyder. Er gab der Tür einen Stoss mit dem Ellenbogen, damit sie ins Schloss fiel. «Herr Neumann ist leider verhindert. Er liegt mit einer Magen-Darm-Grippe zu Hause im Bett. Es ist eine Schande. Bei dem schönen Wetter sollte keiner krank sein.» «Der harte Winter hat uns alle geschwächt.» «Wie ich gehört habe, sind bereits Klassen im ganzen Kanton wegen dieser Magen-Darm-Sache ausgefallen. Auch vor unserer Schule macht die Grippe nicht halt. Langsam greift sie auf uns Lehrer über. Frau Fehr wird Herrn Neumann vertreten. Ist das in Ordnung für Sie? Ich habe seine und meine Unterlagen hier.» Schnyder wuchtete eine Aktentasche auf den Tisch und stellte eine Tasse mit Tee daneben. «Das ist kein Problem.» «Wir sind froh, dass Sie sich bereit erklärt haben, dieses Anthologieprojekt zu übernehmen. Die Schüler freuen sich riesig, und die Plätze sind seit mehreren Wochen vergeben.» Er hob die Tasse an. «Möchten Sie wirklich keinen Kaffee? Oder ein Glas Wasser?» «Nein, vielen Dank. Ich hatte mehr Kaffee heute, als ich vertragen kann.» Schnyder strich mit der Hand über seinen kurz gestutzten grauen Bart und danach über die vollen grauen Haare. Mit dem Kopf wies er auf seine Tasse in der Hand. «Ich kann Ihnen auch gerne eine Tasse Tee anbieten. In meiner Thermoskanne im Lehrerzimmer habe ich noch feinen Oolong-Tee, den ich von unserer letzten Asienreise aus China mitgebracht habe.» «Nein, danke. Nur keine Umstände.» Andrina lächelte. Schnyder hob die Tasse an die Lippen und trank einen grossen Schluck. Als er die Tasse senkte, ging ein Ruck durch seinen Körper. Er starrte Andrina mit aufgerissenen Augen an. Mit einem Knall stellte er die Tasse ab, und Tee schwappte auf den Tisch. Schnyder fasste sich an den Hals und schnappte nach Luft. Sein Gesicht bekam eine rosa Farbe. Im gleichen Augenblick neigte sich sein Körper zur Seite. Mit wenigen Schritten war Andrina bei ihm, konnte ihn aber nicht mehr auffangen, als er zu Boden stürzte. Sie kniete neben ihn und tastete mit der Hand nach dem Puls am Hals. Im selben Moment ging die Tür auf, und eine Frau mit Brille und grauen Haaren betrat das Zimmer. «Mein Gott», rief sie. «Kein Puls. Rufen Sie die Ambulanz.» Andrina legte beide Hände auf Schnyders Brustkorb und beugte sich vor. Sie versuchte den Erste-Hilfe-Kurs, den sie vor einer Ewigkeit besucht hatte, Revue passieren zu lassen. Was musste man bei der Mund-zu-Mund-Beatmung genau beachten? «Lassen Sie mich das machen! Ich habe mal als Krankenschwester gearbeitet.» Die Frau riss die Fenster auf und kniete in der nächsten Sekunde neben Andrina. Energisch schob sie Andrina zur Seite. «Verständigen Sie die Ambulanz.» Ein Geruch, der dem einer frisch gemähten Heuwiese ähnelte, stieg in Andrinas Nase, als die Frau die Herzmassage begann. * * * «Er ist einfach zusammengebrochen?», fragte Feller. Andrina nickte und liess sich neben ihn auf das Sofa fallen. Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht. «Ich habe bisher nie jemanden einen Herzanfall bekommen sehen.» «Hat Herr Schnyder es geschafft?» Feller wandte sich Andrina zu und legte seinen Arm um ihre Schultern. «Nein», sagte Andrina tonlos. Sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. «Frau Fehr hat Herzmassage gemacht. Er ist trotzdem gestorben, bevor die Ambulanz da war.» «Wie alt war er überhaupt?» «Ich glaube, Mitte bis Ende fünfzig. Ich finde das ein wenig früh für einen Herzinfarkt.» «Einen Einfluss darauf hat man leider nicht. Bei Herrn Schnyder hatte ich früher Geschichtsunterricht.» Für einen kurzen Moment blitzte Wehmut in seinen blauen Augen auf. «Ich auch.» «Ich habe ihn als fairen Lehrer in Erinnerung.» Na ja, dachte Andrina. Sie hatte andere Erfahrungen gemacht. Trotzdem musste sie zugeben, dass ihr Schnyder seit der gemeinsamen Projektarbeit sympathisch geworden war. Vielleicht hatte die Erwachsenenperspektive ihre Meinung geändert. Wie auch immer, so einen Tod hatte er nicht verdient. «Plötzlich war alles vorbei. Frau Fehr hat noch eine Weile weiter Herzmassage gemacht, aber es hat nicht geholfen. Dann ist sie aufgesprungen und hat gesagt, ich solle nach Hause gehen, denn ich könne nichts mehr tun. Sie werde alleine auf die Ambulanz warten.» Feller beugte sich vor. Es sah aus, als wolle er etwas sagen, liess Andrina jedoch weitersprechen. «Ich würde nur im Weg stehen, hat sie gemeint. Sie hat mich regelrecht davongescheucht, und jetzt habe ich das Gefühl, Herrn Schnyder im Stich gelassen zu haben.» Sie schwieg einen Moment. «Es war ein Fehler, zu gehen, nicht wahr? Ich hätte bleiben müssen. Aber ich … Frau Fehr … Es war …» Feller strich über Andrinas Rücken. Sein Gesicht war ausdruckslos. «Du konntest nichts machen. Wenn Frau Fehr früher Krankenschwester war, war er bei ihr in den besten Händen, was die Erste Hilfe betrifft. Auch wenn sie ihn nicht retten konnte.» Sagte er das nur, um sie zu beruhigen? Andrina konnte in seinen Gesichtszügen immer noch nichts ablesen. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm in die Stirn, aber er wischte sie nicht fort. Seine blauen Augen schauten sie unverwandt an. Nach einigen Sekunden zog er sie an sich, und Andrina presste ihren Kopf gegen seine Schulter. Feller zuckte zusammen und gab einen zischenden Laut von sich. «Moment, ich muss die Lage verändern.» Er rutschte auf dem Sofa hin und her und lagerte sein linkes Bein hoch. Mitte März waren Feller und Häusermann, der zu seinem Team von Leib und Leben der Kripo Aargau gehörte, mit dem Auto nach Bern gefahren. Unterwegs setzte Eisregen ein, der die Strasse innerhalb von Sekunden in eine spiegelglatte Fläche verwandelt hatte. Samuel Häusermann, der gefahren war, hatte gerade noch bremsen können. Die folgenden Autos waren in sie gerutscht und hatten sie in den Lieferwagen vor ihnen geschoben. Beide hatten Glück im Unglück gehabt und sich je nur einen komplizierten Beinbruch zugezogen. Häusermann hatte zusätzlich eine mittelschwere Gehirnerschütterung gehabt und Feller einen tiefen Schnitt am rechten Arm, der genäht werden musste. Die Narbe würde man vermutlich immer sehen. Die Beine beider Männer mussten mehrere Male operiert werden. Gestern war Feller den Gips losgeworden und heute entlassen worden. Er würde mindestens drei weitere Wochen krankgeschrieben sein und drei- bis viermal in der Woche zur Physiotherapie ins Kantonsspital gehen müssen. Am Morgen hatte Andrina ihn vom Spital abgeholt und nach Hause gebracht. Danach war sie zum Verlag gefahren. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen. «Lass uns über etwas anderes sprechen», sagte Feller. Er strich mit dem Zeigefinger über Andrinas linke Hand. «Meine Mutter kommt morgen.» Andrina richtete sich auf. «So kurzfristig? Warum das denn?» «Sie will Krankenschwester spielen.» «Das ist mein Job.» Andrina konnte nicht verhindern, beleidigt zu klingen. «Versteh sie bitte nicht falsch. Sie nimmt es nur als Vorwand, weil sie mich seit Dezember nicht mehr gesehen hat.» «Kommt dein Vater auch?» Feller schüttelte den Kopf. «Er reist morgen mit der Männerriege des Turnvereins von Ascona für eine Woche nach Rom.» «Das ist also der zweite Grund. Deiner Mutter ist es langweilig, und sie will nicht alleine sein. Ich mache das Gästezimmer parat.» Andrina erhob sich, froh, etwas Sinnvolles zu tun, was sie hoffentlich ein wenig ablenken würde. Sie eilte in das Gästezimmer, öffnete den Schrank und holte Bettwäsche heraus. In diesem Moment klingelte es. Andrina verharrte in der Bewegung. Nach den Ereignissen an der Schule wollte sie niemanden ausser Feller sehen. Widerwillig ging sie zur Haustür. «Hallo. Darf ich einen Augenblick reinkommen. Es ist wichtig.» Susanna Marioni schien ähnlich verunsichert zu sein. Seit letztem Herbst hatten sie sich weder gesehen noch gesprochen. Dabei wäre eine Aussprache dringend notwendig gewesen. Keine von ihnen hatte jedoch den ersten Schritt gewagt. Andrina wusste nur, dass sie kurz vor dem Unfall zu Fellers Team zurückgekehrt war. «Klar.» Andrina machte mit der Hand eine Bewegung ins Innere. Susanna schlüpfte an ihr vorbei. Verstohlen musterte Andrina sie, als sie ihre dünne Jacke auszog. Sie war mager, sah aber um einiges gesünder aus als nach ihrer Entführung vom letzten Herbst. Susannas Name passte nicht zu ihrem Aussehen, dachte Andrina wie schon so oft. Ihr Name liess eher eine schwarzhaarige Italienerin und keine Frau mit blauen Augen und langen Locken, die die Farbe eines Weizenfeldes kurz vor der Ernte hatten, vermuten. Susanna hängte die Jacke an die Garderobe und drehte...