Hansen / Plank | Mind the Gap | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Hansen / Plank Mind the Gap

Holocaust Education in der Lehrer*innen-Bildung
mit s/w Abbildungen
ISBN: 978-3-7065-6106-8
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Holocaust Education in der Lehrer*innen-Bildung

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

ISBN: 978-3-7065-6106-8
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Holocaust prägt die europäische und israelische Gesellschaft bis heute. Der Lernort Schule stellt dabei eine zentrale Sozialisationsinstanz hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust dar, an dem Schüler*innen zu vergangenheits- und verantwortungsbewussten Menschen erzogen werden sollen. Jenseits dieser normativen Setzung und erinnerungspolitischen Erwartungen an den Unterricht stellt sich die voraussetzungsreiche Frage für die Lehrer*innen-Bildung: Wie werden angehende Lehrkräfte auf diese Aufgabe vorbereitet und was verstehen sie in diesem Zusammenhang unter gelungenem Unterricht?

Der Band wendet sich Konzepten einer zeitgenössischen "Holocaust Education" zu, die auf einer Tagung am Klinikum und der Gedenkstätte Mainkofen diskutiert worden sind: Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen reflektierten dabei über Zieldimensionen, mediale Repräsentationen sowie Wandel und Herausforderungen in der Lehrer*innenbildung zu den Themenfeldern Holocaust und NS-"Euthanasie". Dabei wird im Werk ein vielperspektivischer und auf die Gegenwart bezogener Diskurs entfaltet, der von Fragen der pädagogischen Haltung von Lehrkräften über die Zeugenschaft in Gedenkstätten bis zur daraus resultierenden didaktischen Konsequenz für (hoch)schulische Bildung reicht.

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Das Entsetzen in den Augen Bedrohter wahrnehmen!
Peter Steinbach
Vor fast vier Jahrzehnten forderte der Berliner Theologe Helmut Gollwitzer seine Zuhörer in einem Vortrag auf zunächst verstörende Weise heraus. Dieser seit den sechziger Jahren von Studierenden verehrte, von einem großen Teil der konservativ geprägten Öffentlichkeit abgelehnte Berliner Theologe, einst einer der Wortführer im Kampf der Bekennenden Kirche gegen den nationalsozialistischen weltanschaulichen Führungsanspruch, akzentuierte ein Grundproblem des menschlichen Zusammenlebens, indem er fragte: Welche Weltverantwortung resultiert aus der Menschenverantwortung. Dieses Problem führte uns am 25. Januar 2018 nach Mainkofen, unter dem beeindruckenden Wandspruch „Allen zur Freude/Niemand zu Leide“ und zugleich in den Raum, in dem die mobilen Gutachter über Schicksale Hilfsbedürftiger entschieden, zusammen. „Alle Menschen“ seien, so zitierte Gollwitzer die Bill of Rights von Virginia aus dem Jahre 1776, „von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig“ und besäßen „bestimmte angeborene Rechte.“ Was verstörte angesichts dieser Betonung von Naturrechten und Menschenwürde die Zuhörer? Die lapidare Infragestellung dieses Axioms, das in der Regel als eine „indikative Tatsachenfeststellung“ begriffen und dadurch in seiner Radikalität entschärft wird. Denn Gollwitzer stellte fest: „An diesem schönen Satz ist jedes Wort falsch. Kein Mensch sei frei, weder als Baby noch später, noch wir; wir sind vielfältig determiniert, unter vielfältigen Befehlen und Zwängen, und deshalb, weil wir vielfältig abhängig sind, keineswegs ‚unabhängig‘, und wir besitzen nicht im geringsten ‚angeborene Rechte‘.“17 Gollwitzer begriff die Erklärung aus dem Jahre 1776 so wenig wie die Feststellung des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar, als Indikativsatz, sondern erblickte darin vor allem einen „Vorsatz“, gleichsam das Konzentrat einer „Selbstdefinition“: „Wir wollen ein Staat sein, in dem die Würde Menschen unantastbar ist.“18 Weil beide Aussagen ein Versprechen sind, bleiben sie eine Herausforderung und zugleich eine Verpflichtung, sich selbst kritisch im Umgang mit anderen Menschen zu prüfen. Naturrechtliche Erklärungen sind in der Regel das Ergebnis späterer „kultureller Errungenschaft“, in der sich historische Erfahrungen niederschlagen. Sie werden im Zeitverlauf gemacht, nach Nachlebenden gedeutet und bilden dann heraus, was die einen „Erfahrungsschatz“, die anderen vielleicht geronnene Substanz der normativen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens oder auch politischen Grundkonsens nennen. Die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus hat immer wieder abstrakte Normen durch historische Beispiele konkretisiert. Dabei standen die Nachlebenden immer wieder vor der Aufgabe, von den Nationalsozialisten geprägte Begriffe, die die Wirklichkeit verzeichnen wollten oder Inhumanität legitimieren sollten, als Ausdruck einer inhumanen Orientierung bewusst zu machen und den Zusammenhang zwischen verrohender Sprache und Gewaltbereitschaft deutlich zu machen. Das gilt auch für die Bereitschaft, sich mit der Problematik und Praxis auseinander zu setzen, die uns in Mainkofen zusammenführt. Wir wissen: Es gab keinen „schönen Tod“. Genau dies suggerierte aber der Begriff „Euthanasie“. Zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern „Thanatos“ (Tod) und „eu“ (schön), wurde er zu den verlogenen Begriffen19, mit denen die Realität des nationalsozialistischen Unrechtsstaates kaschiert, verstellt oder verklärt, auf jeden Fall unkenntlich gemacht werden sollte. Der Tod derjenigen, deren Tod verfügt worden war, markierte den letzten Schritt eines „Menschheitsverbrechens“, das die „Selektion in der Heilanstalt“ zur Voraussetzung hatte. „Euthanasie“ gehört als politischer „Kampfbegriff“ wie „Sonderbehandlung“, „Endlösung“ oder auch „Schutzhaft“ zu den kontaminierten Wörtern, die die Wirklichkeit verzeichneten und denen, die an den Gewaltverbrechen und „Krankenmorden“ beteiligt waren, vielleicht kein gutes Gewissen machen, ganz sicher aber die Ausflucht erleichtern sollte, sich zu ihrer Verantwortung nicht mehr bekennen zu müssen. Viele Jahrzehnte waren nationalsozialistische Kampfbegriffe tabuisiert. Erst in jüngster Zeit schleichen sie sich zunehmend wieder in unsere politische Sprache ein, die Begriffe wie Volksgemeinschaft und Volk werden benutzt, um Menschen auszugrenzen, ihre Gleichwertigkeit zu bezweifeln und aus unterschiedlicher Herkunft, Gewohnheit und Sprache Wertigkeiten abzuleiten, die Inklusivität und Exklusivität begründen sollen. Deshalb gilt es vor allem diese Begriffe im Zusammenhang politischer Bildung kritisch zu beleuchten. Gollwitzer war überzeugt, dass es in „allen historischen Urhorden“ kein „von Natur angeborenes Recht“ gebe. Die Horde sei lange Zeit die „Instanz“ gewesen, die über das Recht zum Leben entscheiden durfte: „Kinder, die zuviel sind, werden ausgesetzt; krüpplige Kinder werden ausgesetzt oder getötet; erst recht die Mädchen, wenn sie zuviel sind, werden sie getötet; und die Alten werden ausgesetzt mit etwas Nahrung, und die Horde zieht weiter… Eine Horde entscheidet, wer leben darf und wer nicht. Recht auf Leben ist nicht biologisch gegeben, sondern ist Adoptionsrecht.“3 Im Zuge eines zivilisatorischen Prozesses wird die Orientierung auf die „Horde“ korrigiert, zunächst, indem andere menschlichen Horden wahrgenommen und dabei bewusst wird, dass sie aus anderen Menschen bestehen. Die Horde verliert so „die Kompetenz, zu entscheiden, wer leben darf und wer nicht“. Diese Ausweitung des Blicks auf alle Menschen ermöglicht die Vorstellung von der Gleichwertigkeit aller Menschen. Von der dunklen Ahnung dieser Gleichwertigkeit bis zur Respektierung der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit ist es nicht nur ein weiterer, sondern auch ein weiter, immer von Rückfällen begleiteter Schritt. In der Tat kann die Erkenntnis des anderen als Mensch durchaus in die Bestreitung seines Lebensrechts münden, unausweichlich dann, wenn die „emotionale Evidenz“ des Zusammenhangs von menschlicher Zusammengehörigkeit und Gleichwertigkeit in Frage gestellt wird. Gollwitzer illustrierte die zerstörende Wirkung dieser Auslösung eines naturrechtlichen gedachten Zusammenhangs mit dem Anliegen des nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg, für den es nicht zweifelhaft war, dass Mensch eben nicht gleich Mensch sein wollte: „Der Nationalsozialismus bricht mit dem Universalismus der Menschheitsidee und bekennt sich zum (…) Partikularismus der Verpflichtung nur gegenüber dem eigenen Volk.“20 Die Vorstellung von einer exklusiven, rassistisch definierten, sich an Wert und „Unwert“ von Menschen orientierenden „Volksgemeinschaft“ ist in zweifacher Hinsicht folgenreich. Denn dieser Begriff zielt vor allem auf Exklusion, weniger auf Inklusion. Wer über Zugehörigkeit entscheidet, schließt zugleich aus, fragmentiert universalistische Konzeptionen, gerät unausweichlich in einen Widerspruch, den das Grundgesetz mit dem Bekenntnis zur Würde des Menschen aus historischer Erfahrung auflösen wollte. Gerade die Auseinandersetzung mit den von den Nationalsozialisten benutzen Begriffe kann so dazu beitragen, Maßstäbe humaner Orientierung zu reflektieren, indem sie ganz prinzipiell auf ihren historischen, sozialen oder politischen Realitätsgehalt befragt werden. Die Konsequenzen verweigerter Zugehörigkeit oder Wertigkeit lassen sich historisch illustrieren. Historisch-politische Bildung thematisiert diese Probleme im Zusammenhang und versucht, aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit Handlungsmaximen ableiten, die gegenwärtiges Verhalten und Handeln prägen, weil sie ethische Dimensionen mit historisch-zeitkritischen Konkretisierungen verbinden. Allerdings stellt sich dabei heraus, dass die Begriffe nicht nur als Elemente politischer Kultur kritisch analysiert werden müssen, dass sie ausnahmslos auch einer selbstkritisch-reflektierenden Rückbezug verlangen. Es geht immer auch um Selbstverortung und Selbstreflexion, nicht zuletzt um Selbstkritik im Sinne einer Aufklärung „über sich selbst“. „Nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd“21, hatte Dietrich Bonhoeffer in einem Rundbrief an seine Gesinnungsfreunde 1942/43 geschrieben und auf diese Weise in radikalem Misstrauen gegen sich selbst ungeheuer Selbstkritisches formuliert. Denn er hatte sich mit dieser Formulierung gerade nicht von den Nationalsozialisten und ihren politischen Fehlurteilen abgegrenzt, sondern aufgefordert, sich gerade schonungslos daraufhin zu befragen, inwieweit die in der nationalsozialistischen Gesamtgesellschaft verbreiteten Vorstellungen die eigenen Maßstäbe humaner Orientierung überformend belasteten. Diesem sich selbst gegenüber selbstkritischen und dabei unbestechlichen Zugang fühle ich mich auch in diesem Saal in Mainkofen verbunden, in dem Hilflose und Wehrlose vor einigen Jahrzehnten von Gutachtern, den „Kreuzelschreibern“, selektiert wurden. Dabei ging es nicht wie im Märchen von Aschenputtel darum, die Guten ins Töpfchen, die schlechten in Kröpfchen zu selektieren, was laut Duden bedeutet: aus einer vorhandenen Anzahl von Individuen oder Menge von Dingen diejenigen heraussuchen, deren [positive] Eigenschaften sie für einen bestimmten Zweck, etwa für die Zucht, besonders geeignet machen. Vielmehr ging es um das Gegenteil, um Sterilisierung und um Mord, um, wie wir heute wissen, hunderttausendfachen Mord. Negative Selektion setzt voraus, dass Vorstellungen von Normalität und damit Kriterien für...


Univ. Prof. Dr. phil. Christina Hansen studierte Bildungswissenschaften und Psychologie an der Universität Wien, zusätzlich hat sie das Lehramt für Sonderpädagogik. Von 2006-2010 war sie Professorin für Begabungsforschung in Karlsruhe. Seit 2011 ist Hansen Lehrstuhlinhaberin für Pädagogik der Primarstufe mit dem Arbeitsschwerpunkt Diversitätsforschung an der Universität Passau. Forschungsschwerpunkte: Pädagogische Professionalisierung, Bildung und Raum, Begabung und Diversität sowie Internationalisierung in der Lehrerbildung. Seit 2020 ist Hansen Vizepräsidentin für Internationales, Europa und Diversity an der Universität Passau.

Dr. Kathrin Eveline Plank ist Erziehungswissenschaftlerin und derzeit im Rahmen der akademischen Lehrer*innen-Bildung der Universität Passau tätig. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen auf demokratischer Bildung, Bildungsraumforschung und Holocaust Education.



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