Hartmann | "Für alle die im Herzen Barfuß sind" - Die Rolle des Lesers in der Lyrik Reiner Kunzes | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 84 Seiten

Hartmann "Für alle die im Herzen Barfuß sind" - Die Rolle des Lesers in der Lyrik Reiner Kunzes


1. Auflage 2007
ISBN: 978-3-638-80549-0
Verlag: GRIN Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 84 Seiten

ISBN: 978-3-638-80549-0
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Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: sehr gut (1,0), Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg (Philosophische Fakultät II), 69 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: 1. Einleitung



Anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1977 äußert Heinrich Böll in seiner Laudatio des Preisträgers Reiner Kunze: „[…] sicher möchten auch Sie gewissen und bestimmten Leuten das Lesen beibringen.“1 Wie kommt der Schriftstellerkollege Kunzes zu dieser Aussage? Diese Vermutung, die Böll über die dichterische Motivation Reiner Kunzes anstellt, hat im metaphorischen Sinne durchaus ihre Berechtigung. „Leuten das Lesen bei[zu]bringen“2 muss in einem in BRD und DDR geteilten Deutschland der siebziger Jahre eine andere Alphabetisierung, als die im herkömmlichen Sinne meinen. Vielmehr geht es um ein ‚richtiges Lesen’, das als hermeneutischer Prozess einem ‚Lesen’ gegenübersteht, das nicht wirklich versteht und das nicht oder falsch entschlüsselt. Böll spricht Reiner Kunze das Anliegen zu, Verstehensprozesse im Leser auslösen zu wollen.



Auch Heiner Feldkamp unterstellt wie Böll dem Werk Reiner Kunzes eine paradigmatische Orientierung auf ein Gegenüber, indem er in seiner Arbeit zum Gesamtwerk Kunzes dessen „Poesie als Dialog“3 bestimmt und dies als Grundzug vor allem des lyrischen Schaffens Kunzes herausstellt. „Das gedicht als stabilisator, als orientierungspunkt eines ichs“4 ist für den Autor, wie Feldkamp richtig herausstellt, zunächst „Selbstvergewisserung im Monolog“5 und doch damit auch „Selbstgespräch für andere“.6 Im Gespräch mit Bernd Kolf führt Reiner Kunze dazu aus: „Indem Gedichte aber Versuche sind, Wirklichkeit zu bewältigen und Haltungen zu gewinnen, besteht die Möglichkeit, daß sie auch jenen, die sie nachvollziehen, helfen, zu sich selbst zu finden und sich im Leben zu orientieren.“7



Diese mögliche Selbstfindung oder -erkenntnis und die genannte Lebensorientierung im Nachvollzug des Gedichts, die für den Leser in der Rezeption Kunzescher Gedichte möglich sein soll, lässt die Frage nach deren Genese aufkommen. Auf welche Weise kommt es zu Prozessen im Bewusstsein des Lesers, die die Ausbildung einer Haltung der Bewältigung und Orientierung ermöglichen? Diese Frage ist nicht zu beantworten, ohne eine ihr übergeordnete Frage zu stellen: [...]

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1. Einleitung   Anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1977 äußert Heinrich Böll in seiner Laudatio des Preisträgers Reiner Kunze: „[…] sicher möchten auch Sie gewissen und bestimmten Leuten das Lesen beibringen.“[1] Wie kommt der Schriftstellerkollege Kunzes zu dieser Aussage? Diese Vermutung, die  Böll über die dichterische Motivation Reiner Kunzes anstellt, hat im metaphorischen Sinne durchaus ihre Berechtigung. „Leuten das Lesen bei[zu]bringen“[2] muss in einem in BRD und DDR geteilten Deutschland der siebziger Jahre eine andere Alphabetisierung, als die im herkömmlichen Sinne meinen. Vielmehr geht es um ein ‚richtiges Lesen’, das als hermeneutischer Prozess einem ‚Lesen’ gegenübersteht, das nicht wirklich versteht und das nicht oder falsch entschlüsselt. Böll spricht Reiner Kunze das Anliegen zu, Verstehensprozesse im Leser auslösen zu wollen.     Auch Heiner Feldkamp unterstellt wie Böll dem Werk Reiner Kunzes eine paradigmatische Orientierung auf ein Gegenüber, indem er in seiner Arbeit zum Gesamtwerk Kunzes dessen „Poesie als Dialog“[3] bestimmt und dies als Grundzug vor allem des lyrischen Schaffens Kunzes herausstellt. „Das gedicht als stabilisator, als orientierungspunkt eines ichs“[4] ist für den Autor, wie Feldkamp richtig herausstellt, zunächst „Selbstvergewisserung im Monolog“[5] und doch damit auch „Selbstgespräch für andere“.[6] Im Gespräch mit Bernd Kolf führt Reiner Kunze dazu aus: „Indem Gedichte aber Versuche sind, Wirklichkeit zu bewältigen und Haltungen zu gewinnen, besteht die Möglichkeit, daß sie auch jenen, die sie nachvollziehen, helfen, zu sich selbst zu finden und sich im Leben zu orientieren.“[7]     Diese mögliche Selbstfindung oder -erkenntnis und die genannte Lebensorientierung im Nachvollzug des Gedichts, die für den Leser in der Rezeption Kunzescher Gedichte möglich sein soll, lässt die Frage nach deren Genese aufkommen. Auf welche Weise kommt es zu Prozessen im Bewusstsein des Lesers, die die Ausbildung einer Haltung der Bewältigung und Orientierung ermöglichen? Diese Frage ist nicht zu beantworten, ohne eine ihr übergeordnete Frage zu stellen: Welche Rolle nimmt der Leser in der Lyrik Reiner Kunzes ein? Einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage zu leisten, soll zentrales Anliegen dieser Arbeit sein. Wie zu zeigen sein wird, weist der unverkennbar dialogische Charakter der Lyrik Reiner Kunzes dem Leser im Text nicht nur eine Rolle zu, die er einzunehmen hat, um eine vermeintlich im Text enthaltene Botschaft zu eruieren, sondern führt den Leser über im Text vorfindliche „Wirkungsstrukturen“[8] zu eigener Aktivität. Die Beschreibung der Art und Weise dieser Aktivität und die Analyse der Texte Kunzes auf ebendiese „Wirkungsstrukturen“[9] sowie die Darstellung der Beziehung von Strukturen und Leseraktivität untereinander, sollen es ermöglichen, ein aussagekräftiges Bild der Rolle des Lesers im Werk Reiner Kunzes zu zeichnen.   Als theoretische Grundlage erscheint Wolfgang Isers Konzept des impliziten Lesers besonders geeignet, das Analyseverfahren dieser Arbeit methodisch zu bestimmen.       Der implizite Leser als der im Text vorgezeichnete „Aktcharakter des Lesens“[10] ist ein theoretisches Konstrukt, das die „Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet“,[11] darstellt. Der implizite Leser ist der Lesertypus der adäquaten Rezeption, da er als Konzept eine Beschreibung der Rezeption ermöglicht, die nicht wie bei anderen Lesermodellen auf den historischen Leser, der in Zeitgenossenschaft zur Entstehung des Textes steht, beschränkt bleibt.[12] Ebenso wenig kann eine Leserkonzeption überzeugen die auf empirischem Wege ein statistisches Mittel einer Lesergruppe ermittelt und damit eine „Ermittlung von Wirkungspotentialen“[13] in Texten verfolgt. Auch die Befragung einer großen Lesergruppe schließt Irrtümer nicht aus und auch hier spielt die historische Nähe oder Ferne als Beschränkung der Rezeptionsperspektive eine Rolle.[14] Der implizite Leser ist hingegen eine Leserinstanz, die aus dem Text erschlossen werden kann.[15] Anhand der im Text vorgezeichneten „Aktualisierungsbedingungen“[16] ist nach Iser für den Leser die Möglichkeit gegeben, den Textsinn im Bewusstsein zu konstituieren. Erst im Leser wird der Text somit Realität, was der Bestimmung der Poesie Kunzes als Dialog,[17] der als Bedingung seines Zustandekommens immer die Antwort eines Gegenübers fordert, entspricht. Die Leserrolle des impliziten Lesers lässt sich auf diese Weise in eine „Textstruktur und Aktstruktur“[18] differenzieren.  Die im jeweiligen Text vorfindlichen „Wirkungsstrukturen“[19] beeinflussen dabei die Art und Weise der Konkretisation des Textes im Leser. Auch dort wo die Orientierung auf den Leser im Sinne einer gleichsam „anachoretische[n] Kunst“[20] abgelehnt oder geleugnet wird, ist diese vom Autor erschaffene Hermetik Teil dieser Strukturen. Die eigene Aktivität des Lesers besteht nun darin, eine Position zum Text einzunehmen, die es ihm ermöglicht, einen „Verweisungszusammenhang“[21] zwischen den einzelnen, verschiedene Perspektiven eröffnenden Strukturen im Text herzustellen. Weder die Kohärenz der einzelnen Verweisungen noch die Position des Lesers zum Text sind Bestandteile des Textes, sondern müssen durch den Leser konstituiert werden. Der dabei vom Leser erstellte „Sinnhorizont“[22], der sich aus der Mannigfaltigkeit der Perspektiven, die sich aus dem Zusammenspiel der einzelnen Verweisungszusammenhänge ergeben, zusammensetzt, unterliegt immer wieder Veränderungen. Die Bildung von Vorstellungen im Bewusstsein des Lesers wird immer wieder durchbrochen und modifiziert, da der Leser die Gegenständlichkeit des fiktionalen Textes als sich im Text befindender perspektivischer Punkt nicht mit einem Mal als Ganzes erfasst, sondern in einem Nacheinander von Phasen.[23]  Indem der Leser schließlich in der Lage, ist eine Sinnkohärenz der Abfolge von Vorstellungen zu bilden, kommt es zu einer Rezeption, die dem Werk gerecht wird, ohne es in der Vielfalt seiner Rezeptionsmöglichkeiten einzuschränken.[24] Die Position des Lesers zum Text deckt sich dabei nicht mit der Rolle, die der Text dem Leser im Sinne einer „Leserfiktion“[25] zuweist, denn sie ist maßgeblich auch durch die „lebensweltlichen Dispositionen“[26] des jeweiligen Lesers beeinflusst, der sich gemäß seiner individuellen Erfahrungen und Kenntnisse immer wieder anders zum Text situiert.    Ziel dieser Arbeit ist es, diesem Prozess des Zusammenwirkens von im Text vorgegebenen „Wirkungsstrukturen“[27] und den sich daran anschließenden möglichen sinnkonstituierenden Aktivitäten des Lesers speziell am Beispiel der Lyrik Reiner Kunzes nachzugehen. Anhand eingehender Analysen exemplarisch ausgewählter Gedichte aus verschiedenen Schaffensphasen soll die Rolle des Lesers in der Lyrik Kunzes anhand des Konzepts des impliziten Lesers deutlich herausgestellt und in Beziehung zu Poetik und Ästhetik Reiner Kunzes gesetzt werden. Dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit einer wirkungsästhetischen Analyse der Kunzeschen Lyrik kann allerdings nur begrenzt entsprochen werden, da jeder Leser gemäß seiner individuellen Dispositionen die „Wirkungsstrukturen“[28] geringfügig anders identifiziert, die „Aktstruktur“[29] des jeweiligen Textes anders realisiert und auch der Verfasser dieser Arbeit letztendlich ein Leser ist. Die von den Wirkungsstrukturen erzeugten „Unbestimmtheitsstellen“,[30] „Leerstellen“[31] und „Negation[en]“[32] werden von jedem Leser auf verschiedene Weise konkretisiert, so dass von einer „zwingende[n] Individualität eines Leseprozesses, gleich einem Fingerabdruck“[33] gesprochen werden kann. Auch unter Beachtung dieser der Theorie Isers geschuldeten Einschränkung lässt sich jedoch mit einiger Berechtigung feststellen, dass sich – wie zu zeigen sein wird – analog zu den bei Reiner Kunze zu einem großen Teil auch biographisch beeinflussten poetischen Paradigmenwechseln auch die Rolle des Lesers in der Lyrik Kunzes wandelt. Als besondere Ereignisse im Leben Kunzes, die zu grundlegenden Veränderungen in seinem Schaffen führen, sind vor allem zwei zu nennen: Reiner Kunzes politische Desillusionierung 1959, die dazu führt, dass er aufgrund politischen Drucks sein Promotionsstudium abbricht und sich als Hilfsschlosser in Schwermaschinenbau verdingen muss sowie seine Ausreise aus der DDR 1977, die ebenfalls dem für ihn unerträglichen staatlichen Druck geschuldet ist, der ihn vor allem aus gesundheitlichen Gründen dazu zwingt, in die BRD überzusiedeln. Im Gespräch mit Ekkehart Rudolph bemerkt Kunze zu seinem ersten persönlichen Bruch mit der sozialistischen Staatsdoktrin:   „[…] in diesen fünfziger Jahren begann für mich die große politische Desillusionierung, das furchtbare Erkennen, hintergangen und betrogen...



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