E-Book, Deutsch, 450 Seiten
Harvey Unter Tage
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86913-747-6
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Resnicks letzter Fall
E-Book, Deutsch, 450 Seiten
ISBN: 978-3-86913-747-6
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
England, 1984: Der Bergarbeiterstreik spaltet das ganze Land. Die Gewerkschaft und die Thatcher-Regierung stehen sich unversöhnlich gegenüber, und in Bledwell Vale verläuft der Riss mitten durch die Familie Hardwick. Vater Barry lässt sich als Streikbrecher beschimpfen, doch er braucht das Geld, um die
Familie durchzubringen. Mutter Jenny ist Aktivistin im Streikkomitee – bis sie kurz vor Weihnachten spurlos verschwindet. Dreißig Jahre später wird im Dorf eine einbetonierte Leiche gefunden. Charlie
Resnick ist zwar schon im Ruhestand, wird aber der Ermittlerin Catherine Njoroge als Berater zur Seite gestellt; schließlich war er damals mit dem Auftrag vor Ort, die Streikszene auszuspionieren. Alles verdammt lang her, aber jetzt muss die Wahrheit auf den Tisch: Ausgrenzung, Hass, Korruption, Liebe in Zeiten bitterster Not. Und
es gibt noch zwei weitere Cold Cases aus jener Zeit …
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1 Es hatte begonnen zu schneien. Schon geraume Zeit bevor der erste Wagen losfuhr, waren Flocken gefallen, in langen, schrägen Strichen, dünn zunächst, dann immer dichter. Sie sammelten sich in den Ecken und an den Fassaden von Gebäuden und wirbelten zwischen Backsteintrümmern, Ziegelscherben und verrosteten Autoteilen umher, die überall in den Hinterhöfen und winzigen Gärten herumlagen. Der Schnee deckte alles zu. Der Himmel ein tief hängendes, bleiernes Grau, unbarmherzig. Als sich der Trauerzug in Marsch setzte und von der kleinen Häuserreihe abfuhr, war die Sicht in jede Richtung eingeschränkt, blieben die Flocken rasch auf den Scheiben kleben, wurden sämtliche Geräusche erstickt, verblasste das trübe Licht der Scheinwerfer im alles einhüllenden Weiß. Resnick war im dritten Wagen und teilte sich den Rücksitz mit einem ernsten Mann in einem abgetragenen Anzug, den er für einen ehemaligen Arbeitskollegen von Peter Waites im Untertagebau hielt. Vor ihnen saß eine ältere, verkniffen dreinblickende Frau, sicherlich eine Verwandte, eine Tante vielleicht oder eine Cousine, aber nicht die einzige noch lebende Schwester, die im ersten Wagen mit Waites’ Sohn Jack saß. Jack. Der war mit seinen halbwüchsigen Söhnen aus Australien zur Beerdigung heimgekommen; und mit seiner Frau, die ihren neuen Schwiegervater nicht gemocht hatte seit jener ersten und letzten Begegnung und die froh gewesen war über die, grob geschätzt, zehntausend Meilen, die zwischen ihnen lagen. Letzteres hatte Jack Waites am Vorabend Resnick im Vertrauen erzählt, als sie beide sich auf ein Bier getroffen und über die alten Zeiten geredet hatten, in denen Jack als junger Police Constable unter Resnick Dienst am Canning Circus in Nottingham getan hatte. »Im Umgang mit anderen war er nie einer von der einfachen Sorte«, sagte Jack, »jedenfalls meistens nicht. Mein alter Herr.« Resnick nickte. »Kann sein.« Sie hatten im Black Bull in Bolsover gesessen, weil die Dorfkneipe in Bledwell Vale schon seit Langem mit Brettern vernagelt war. Der Ort selbst war großenteils heruntergekommen, verlassen bis auf ein paar wenige isoliert stehende Gebäude und die Häuserzeile mit den ehemaligen Sozialwohnungen des Coal Board, der staatlichen Kohlebehörde, wo Peter Waites den größten Teil seines Erwachsenenlebens verbracht hatte. »Sie hätten mit ihm zusammenleben müssen«, sagte Jack Waites. »Dann wüssten Sie es.« »Aus dir ist aber doch was geworden.« »Aber nicht wegen ihm.« »Sei nicht so streng, Mann. Nicht an so einem Tag.« Jack Waites schüttelte den Kopf. »Zwecklos, die Wahrheit zu vertuschen. Meine alte Dame war es, die mich angetrieben und meinen Ehrgeiz geweckt hat. Friede ihrer Asche. Er hätte mich sonst in der Sekunde runter ins Bergwerk geschleppt, in der ich die Schule verließ. Und was wär ich dann jetzt? Arbeitslos wär ich und würde stempeln gehen wie die ganzen anderen armen Hunde hier. Entweder das oder im Callcenter in irgendeiner dieser Industriebruchbuden am Arsch der Welt jobben.« Er war noch keine vierundzwanzig Stunden wieder im Land, und schon konnte man in seiner Stimme den regionalen Dialekt wieder durchschlagen hören wie das Leiern eines eingerosteten Getriebes mit zu viel Spiel. Zwecklos zu streiten; Resnick hob sein Glas und trank. In dem, was Jack Waites gerade gesagt hatte, lag schon einiges an Wahrheit; sein Vater war unnachgiebig und hart gewesen wie der Streb vor Ort, wo er fast dreißig Jahre lang geschuftet hatte, bis schließlich nach stolzen und teils chaotischen Streikaktionen von zwölf Monaten Dauer, die fast das ganze Land zerrissen hatten, die Zeche endgültig geschlossen worden war. Resnick war Peter Waites zum ersten Mal in den Anfangstagen des Streiks begegnet, und trotz aller Unterschiede zwischen ihnen waren sie irgendwie Freunde geworden. Waites’ Stimme war eine der lautesten gewesen, die sich fürs Durchhalten erhoben hatten, eine der lautesten in der Kette der pickets, der Streikposten, die mit Wut und Galle jene attackierten, die arbeiten gingen. »Scab! Scab! Scab!« – Schufte! Sauhunde! Lumpenpack! »Out! Out! Out!« – Raus! Raus! Raus! Resnick, kurz zuvor zum Detective Inspector befördert, hatte ein Team zur Beschaffung von Informationen geleitet, dessen Aufgabe es war, Erkenntnisse über die maßgeblichen Akteure des Streiks zusammenzutragen, das Ausmaß der Unterstützung durch die Bevölkerung abzuschätzen und, soweit möglich, ein wachsames Auge auf eventuelle ernsthafte Eskalationen zu haben. Schon zu Beginn, von den ersten Arbeitsniederlegungen an, waren die Grubenbelegschaften in Nottinghamshire die am wenigsten militanten gewesen, die lustlosesten, und Peter Waites und ein paar andere hatten deshalb umso lauter geschrien und versucht, ihre Kameraden auf Linie zu bringen. Um sie herum heizte sich die Stimmung auf: Fäuste wurden geschüttelt, Fenster gingen zu Bruch, Gegenstände wurden geworfen. Resnick fand, es sei an der Zeit für ein Gespräch. »Ach du Scheiße!«, hatte Waites ausgerufen, als Resnick – zerknautschter Filzhut, den Gürtel des Regenmantels straff zugezogen, und draußen genug Regen, um die Arche Noah zu Wasser zu lassen – in Peters Stammlokal spaziert war und sich ihn vorgenommen hatte. »Bisschen riskant, was Sie da machen, finden Sie nicht?« »Dann wissen Sie also, wer ich bin?« »Bin ja nicht der Einzige mit Augen im Hinterkopf.« »Gut, das zu hören.« Resnick streckte seine Hand aus. Die fünf oder sechs Männer, die mit Waites am Tresen gestanden hatten, warteten ab, was dieser tun würde, und entspannten sich erst, als er die Hand des anderen ergriff. »Ich geb einen aus«, sagte Resnick. »Das macht in dem Fall eine Runde Shippos für alle«, sagte der Mann zu Waites’ Linken. »Wir sind pleite. Wir streiken nämlich. Oder haste das noch nicht mitgekriegt?« »In Ordnung«, sagte Resnick. Einer der Kumpel spuckte auf den Boden und marschierte davon. Die anderen hielten die Stellung. Ein wenig Geplänkel, keineswegs bösartig, und nach einer weiteren spendierten Runde zogen Waites und Resnick, wachsam von den anderen beäugt, an einen Tisch in der Ecke. »Um’s gleich zu sagen: So funktioniert das nicht.« »Was genau?« »Sie und ich, dass wir die Köpfe zusammenstecken. Das sieht aus, als hätten Sie mich in der Tasche. Als wär ich ein unsolidarischer Drecksinformant, der sich an einen Bullen ranwanzt. Ist das der Zweck der Übung? Dass ich mein Gesicht verlier? Weil wenn das so ist, haben Sie Ihr Geld zum Fenster rausgeworfen, damit das klar ist.« Resnick schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.« »Sondern?« »Es geht eher um eine Warnung.« »Warnung?«, schnaubte Waites. »Sie besitzen die Frechheit …« »So wie die Dinge gerade laufen, dass immer mehr Kerle aus South Yorkshire zur Verstärkung eurer Streikposten herkommen …« »Die machen von ihrem demokratischen Recht Gebrauch …« »Recht auf was? Backsteine durch die Fenster der Leute zu schmeißen? Autos anzuzünden?« »Das hat es hier nicht gegeben.« »Nein, vielleicht noch nicht. Aber das wird es.« »Nicht, solange ich was zu sagen habe.« »Hören Sie zu.« Resnick legte eine Hand auf Waites’ Arm. »Die Dinge eskalieren doch immer weiter, die Streikposten ziehen in wilden Haufen von einer Zeche zur anderen – was glauben Sie denn, was da ablaufen wird? Glauben Sie etwa, man wird es schön ruhig uns überlassen, damit fertigzuwerden? Der Polizei vor Ort? Es sind bereits genügend Verstärkungen von außerhalb da, und entweder ihr haltet euch entsprechend zurück, oder man karrt weitere heran, von überallher. Aus Devon und Cornwall. Aus Hampshire. Dazu die Met aus London.« Er schüttelte den Kopf. »Dass die Met hier aufkreuzt und den dicken Knüppel schwingt – ist es das, was Sie möchten?« Waites fixierte ihn unbewegt. »Hier hereinzuspazieren und Flagge zu zeigen ist eine Sache – das kann ich verdammt noch mal respektieren. Aber hier reinzukommen und anzufangen zu drohen …« »Ich drohe nicht, Peter. Ich sage nur, wie es ist.« Mit einer für einen so stämmigen Mann erstaunlichen Leichtigkeit stand Resnick auf. Waites hob sein leeres Glas, drehte es um und stellte es hart auf den Tisch zurück. Als Resnick zur Tür ging, ergoss sich ein Schauer von Verwünschungen über ihn. Im Innern der Kirche war es klamm und kalt; die Wände mit Leimfarbe gestrichen, die Betkissen fadenscheinig, die Bänke blank poliert. Eine Christusfigur über dem Altar mit sehnigen Gliedmaßen, Schnittwunden im Gesicht und leeren, starren Augen. »Abide with Me – Bleibe bei mir.« Die Worte des Pfarrers, die einen Menschen rühmten, der seine Gemeinde mehr als die meisten geliebt habe, einen Ehemann und Vater, klangen trotz allem hohl. Eine Nichte im Sonntagsstaat stand auf und trug der schweigenden Versammlung stockend ein Gedicht vor, das sie in der Schule geschrieben hatte. Der ehemalige Bergmann, der mit Resnick im Wagen gefahren war, erinnerte sich, wie er und Peter Waites am selben Tag die Arbeit in der Schachtanlage begonnen hatten, zwei bekloppte grüne Jungs, die auf den Förderkorb zur Fahrt in die Finsternis unter der Erde warteten. Resnick war eigentlich davon ausgegangen, dass sich Jack Waites dazu durchringen würde, etwas zu sagen; stattdessen blieb dieser entschlossen sitzen und hielt den...