E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Hassler / Turrini Jedem das Seine
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7099-3769-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Volksstück
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-7099-3769-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Silke Hassler, geboren 1969 in Klagenfurt, studierte Literaturwissenschaft in Wien und London. Sie schreibt Theaterstücke und Libretti, die in viele Sprachen übersetzt und aufgeführt wurden. 2005 wurde sie mit dem Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur ausgezeichnet. Peter Turrini, geboren 1944 in St. Margarethen in Kärnten. Mit seinen Theaterstücken und Drehbüchern gilt er als einer der führenden deutschsprachigen Dramatiker der Gegenwart, er verfasst Gedichte und Essays. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und seine Stücke weltweit gespielt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
PERSONEN:
DIE JÜDISCHEN HÄFTLINGE:
Ludwig „Lou“ Gandolf, Operettensänger (33 Jahre)
Elias Rotenberg, ein Schneider aus Budapest (zirka 60 Jahre)
Zsuzsa Breuer, Kontoristin (30 Jahre)
Hannah König (60 Jahre)
Jakob König, pensionierter Professor (67 Jahre)
Raphael Glasberg, Geiger (zirka 40 Jahre)
Viktor Heller (40 Jahre)
Edvin Javor (35 Jahre)
Imre Landau (30 Jahre)
Milli Moskovics (25 Jahre)
DIE DORFLEUTE:
Traudl Fasching, Bäuerin (50 Jahre)
Stefan Fasching, Bauer (55 Jahre)
Leopoldine Schrabacher, genannt Poldi, junge Magd (23 Jahre)
Anton Hochgatterer, Dorfgendarm (zirka 50 Jahre)
Edi Kropfitsch, Hitlerjunge (14 Jahre)
1. AKT
FREITAG, 27. APRIL 1945
AM ABEND
DER HÄFTLING VIKTOR HELLER: Aufhören!
DER SCHNEIDER: Gott meg abhiten, wieder is einer meschugge geworden. Wir werdn erschossen, wir werdn erschlagen, wir werdn wahnsinnig. Wer mecht das alles überleben?
GANDOLF: Darf ich bitten?
GANDOLF: Die Welt da draußen will uns töten. Deshalb müssen wir so tun, als wären wir in einer anderen. Wenn der Wald am finstersten ist, pfeifen wir vor Angst. Ich für meine Person ziehe es vor zu singen. Ich singe, ich tanze. Wollen Sie mit mir tanzen?
GANDOLF: Mit wem habe ich das Vergnügen?
ZSUZSA: Zsuzsa.
GANDOLF: Wiener Blut! Wiener Blut! Eig’ner Saft, voller Kraft, voller Glut! Wenn ich mich vorstellen darf? Mein Name ist Lou Gandolf, Tenor. Bis 1944 am Städtischen Operettenhaus Budapest. Wiener Blut! Seltenes Gut! Du erhebst und belebst unsern Mut!
ZSUZSA: Für Juden ist das Tanzen verboten.
GANDOLF: Ich bin kein Jude, nicht einmal ein halber. Ich bin irrtümlich in diese grauenhafte Sache geraten. Ich bin hier die falsche Besetzung. Es ist alles ein Irrtum. Ich wurde während einer Aufführung hinter der Bühne verhaftet. Ich durfte nicht mehr in die Garderobe, um mich umzuziehen. Keiner hat mir zu meinem fulminanten Auftritt gratuliert, niemand hat sich von mir verabschiedet. Ein Blumenstrauß lag noch beim Portier, aber es wurde mir verwehrt, ihn abzuholen. Es ist eine Verwechslung. Wie in einer Operette. Wie in „Wiener Blut“. Da werden auch ständig alle mit allen verwechselt. Aber am Ende löst sich alles in Freude und Wohlgefallen auf.
GANDOLF: Dankeschön. Dankeschön. Sie haben mir eine große Freude gemacht.
VIKTOR HELLER: Aufhören! Der soll aufhören mit seiner Melodie! Immer, wenn er seine Melodie spielt, ist einer von uns tot. Der ist ein Todesengel.
GANDOLF: Denken Sie doch an das Licht am Ende der Finsternis. Warum immer gleich das Furchtbarste annehmen? Sie haben uns doch sicher nicht tagelang marschieren lassen, um uns dann zu ermorden. Sie haben etwas anderes mit uns vor. Wahrscheinlich bringen Sie uns an die Schweizer Grenze.
DER SCHNEIDER: No, vielleicht deportieren sie uns so lang, bis wir wieder ankommen in Budapest. Mecht ich nix dagegen haben.
GANDOLF: Das Kriegsende rückt näher und näher, wir werden doch immer wertvoller für sie. Sie werden uns gegen deutsche Kriegsgefangene austauschen, das werden sie tun.
VIKTOR HELLER: Aufhören! Der soll aufhören!
GANDOLF: Warum spielen Sie uns mit Ihrer Geige nicht etwas anderes vor? Etwas Schönes, Leichtes, Beschwingtes?
GANDOLF: Guten Abend!
POLDI: Wer san denn Sie?
GANDOLF: Oh, ich bin hier am falschen Ort und es ist alles ein Irrtum.
POLDI: Man hat uns gsagt, daß sie alle Verbrecher sind, und daß wir auf jedn Fall im Haus bleiben solln, wegen der Gefahr.
GANDOLF: Ich bin nicht kriminell, ich bin Operettensänger. Lou Gandolf, mein Name. Ich war am Städtischen Operettenhaus in Budapest engagiert, meistens in der Titelrolle. Sie haben vielleicht schon von mir gehört?
POLDI: Na.
GANDOLF: Ich bin auch außerhalb Ungarns bekannt. Ich habe im Laufe meiner Karriere etliche Gastauftritte absolviert. In Linz, in Graz, in Klagenfurt.
POLDI: Darf ich Ihnen bitte was zeigen?
POLDI: Ich wollt fragen, ob Sie vielleicht meinen Verlobten kennen? Den Rössler Karl. Vielleicht haben Sie gehört von ihm, wo Sie so viel herumkommen.
POLDI: Er is nämlich bei der SS. Die letzte Feldpostkarte is von der rumänisch-ungarischen Grenze gekommen, vor einem halben Jahr. Der Bauer hat für mich im Atlas nachgschaut, wo das is.
GANDOLF: Wir waren die letzten Monate nicht weit von hier, verehrtes Fräulein, an der österreichisch-ungarischen Grenze. Zu Schanzarbeiten. Es war scheußlich. Glauben Sie mir, es war wirklich scheußlich. Ihrem Verlobten sind wir dort nicht begegnet.