E-Book, Deutsch, 143 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Hastedt Macht der Korruption
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2020
ISBN: 978-3-7873-3819-1
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine philosophische Spurensuche
E-Book, Deutsch, 143 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-3819-1
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heiner Hastedt ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Universität Rostock. Zwischen 1998 und 2002 wirkte er als Prorektor für Struktur und Entwicklungsplanung (1998-2000) sowie für Internationales und Öffentlichkeitsarbeit (2000-2002). Zuletzt gab er bei Meiner heraus: »Macht und Reflexion« (Deutsches Jahrbuch Philosophie Band 6)
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Einleitung
War Abraham Lincoln korrupt?
Und was kann ein Philosoph dazu sagen?
Korruption ist ein faszinierendes Thema, das sich für Kriminalgeschichten eignet und zu einem Blick in den furchterregenden Abgrund von Gesellschaften führt. Dieses Buch will gleichwohl nicht zur Gattung des Aufdeckungsjournalismus gerechnet werden, der über die Machenschaften von Mafia und anderer Formen der organisierten Kriminalität zu informieren sucht oder sogar reißerisch und bloß oberflächlich die Enthüllung als Selbstzweck betreibt. Es bietet vielmehr die Gelegenheit zur philosophischen Spurensuche, um auf der Basis von bereits Aufgedecktem so nachzudenken, dass es uns und unser Zusammenleben insgesamt betrifft. Die Philosophie schafft die Möglichkeit, mittels erprobter Denkfiguren wichtige Details unterscheidbar zu machen, ohne das große Ganze aus dem Auge zu verlieren. Sie erhofft sich damit, nicht nur zu sensibilisieren, sondern auch die Mittel der Auseinandersetzung zu verbessern. Nicht wie ein Bericht von einem fremden Planeten soll das Thema dabei entwickelt werden, sondern als eines, das in unserer Mitte relevant ist. Und das Ganze in der vielleicht utopischen Perspektive: Wie lässt sich Korruption überwinden?
Abraham Lincoln hat sich ausgehend vom amerikanischen Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts in unserem kulturellen Gedächtnis den Platz eines Helden des Humanismus erobert, der mutig die rechtliche Abschaffung der Sklaverei auch in den Südstaaten auf den Weg brachte. Es war jedoch Korruption im Spiel, als am 31. Januar 1865 nach dramatischen Auseinandersetzungen der entsprechende 13. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika die Zustimmung der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit des Repräsentantenhauses fand. Die kontroverse Abstimmung stand pragmatisch ganz im Kontext der Frage, wie weiteres Blutvergießen in dem verlustreichen Bürgerkrieg vermieden und die Einheit der Bundesstaaten wiederhergestellt werden kann. Dass der Name Lincolns in einem Buch über Korruption auftaucht, hat nichts damit zu tun, ihm vorzuwerfen, in Machenschaften der privaten Bereicherung verwickelt zu sein. Vielmehr haben er und seine Unterstützer mehr oder weniger direkt die rechtliche Abschaffung der Sklaverei in der entscheidenden Parlamentsabstimmung nur durch Stimmenkauf und damit durch korrupte Bestechungspraktiken realisieren können. Korruption im Namen der Moralität also? Wenn hier ein vorsichtiges Ja im Raum steht, dann ist damit eine erste Warnung ausgesprochen, beim Korruptionsthema nicht zu früh den Ritualen der Verurteilung zu folgen, sondern ganz philosophisch auch mit Irritierendem zu rechnen. Das Bestechungshandeln von Abraham Lincoln wird uns gerade in seinem Ausnahmecharakter, das sich vom Normalfall der korrupten Bereicherung unterscheidet, in diesem Buch immer wieder zur Schärfung des Urteils beschäftigen.1
Obwohl Korruption in der gesellschaftlichen Realität eine bedeutende Rolle spielt, wird sie innerhalb der intellektuellen Auseinandersetzung kaum thematisiert. Die öffentliche Debatte dominiert die Skandalisierung bekannt werdender Einzelfälle und die abstrakte moralische Verurteilung, die – wie sich zeigen wird – genauso zum Problem gehören kann wie zu seiner Lösung. Im Folgenden wird die Perspektive auf den korrupten Menschen verknüpft mit einer Herangehensweise, die das Thema in verschiedenen Kulturen sowie in Vergangenheit und Gegenwart in seiner Unterschiedlichkeit aufsucht. Diese Ausweitung der Untersuchung wird es erleichtern, ebenso Hintergründe der Korruption zu erschließen wie auch bisher übersehene Formen als solche zu erkennen und diese nicht in der Welt des von vornherein Unmoralischen isoliert vom Verstehen für unseren Alltag fernzuhalten. Lässt sich – so eine zentrale Frage des Buches – die oft folgenlose Moralisierung zugunsten eines Umgangs überwinden, der die Allgegenwart der Korruption schon von den Anfängen eines parteiischen und voreingenommenen Denkens her erschließt, statt sie nur mit einigen gegenwärtigen Erscheinungsformen zu identifizieren? Entsprechend ist zu diskutieren, ob der Mensch als generell korrupt anzusehen ist oder doch zumindest als korrumpierbar. Diese philosophische Frage führt unter Einbeziehung von humanwissenschaftlichen Studien zu der Untersuchung, wie dann Korruption im Sinne von mangelnder Unabhängigkeit bis hin zur Bestechlichkeit vermieden werden kann.
Die Behauptung, dass alle Menschen dauernd korrupt sind, wird sich vielleicht nicht halten lassen. Menschen neigen jedoch zur Korruption und sind im Zweifelsfall nicht davor gefeit, sich von ihrer Macht gefangen nehmen zu lassen und dies wie bei Abraham Lincoln sogar für rechtfertigungsfähig zu halten. Von Korruption zu sprechen, heißt diese zu kritisieren. Wenn wir Menschen ebenso wie deren Gedanken, Einstellungen und Praktiken als ›korrupt‹ bezeichnen, dann lehnen wir das so Bezeichnete ab. Wir können kaum ernsthaft sagen, meine Freundin Laura ist so herrlich korrupt, dafür bewundere ich sie. In der Bewertung gibt es in dieser Hinsicht wenig zu entdecken und auch bei Abraham Lincoln wird man die Zuschreibung des Korrupten trotz der Ambivalenz seines Bestechungshandelns zu vermeiden suchen. Es zeugt daher auch nicht von Wagemut, allemal in Sonntagsreden, sich gegen Bestechlichkeit auszusprechen. Spannend wird es jedoch, wenn wir fragen, ob wir es tatsächlich mit Korruption zu tun haben. Es geht schnell ans Eingemachte, wenn sich zeigt, dass nicht immer nur die Anderen betroffen sind – seien es die von der Mafia Bestochenen oder die in Ländern mit schlecht geführten Regierungen dazu womöglich Verdammten.
Ohne sich eingangs zu sehr in Definitionsfragen zu verstricken, soll in Übereinstimmung mit , der großen gegen Korruption engagierten Nichtregierungsorganisation und Zivilbewegung, diese verstanden werden als Missbrauch von Macht zum privaten Nutzen.2 In dieser Definition von Korruption taucht der Begriff der Macht auf: Mein Buch zur Korruption beschäftigt sich also mit der Macht des Machtmissbrauches. Später wird noch genauer zu erforschen sein, was Macht, privater Nutzen und deren Missbrauch genau ausmachen und ob diese erste Definition, nach der Lincolns Handeln wegen des fehlenden Nutzens für ihn als Privatperson nicht als korrupt zu bezeichnen ist, vollständig überzeugt. Da Definitionsfragen dem behandelten Gegenstand nicht nur äußerlich sind, werden mit ihrer Beantwortung auch Deutungen transportiert, die selbst wiederum mächtig werden können. So werden Deutungen des Machtmissbrauches thematisiert, die selbst Macht ausüben können und die es schwer genug machen, wie der Fall Lincolns zeigt, einen legitimen von einem illegitimen Gebrauch von Macht abzugrenzen. Ob wir etwas unter das Banner der Korruption stellen und so negativ bewerten, ist ebenso ein Akt der Deutungsmacht wie Versuche, sich über das Thema interkulturell auseinanderzusetzen und den Menschen überhaupt anthropologisch in seiner Verderbtheit einzuschätzen.
Deutungen sind wie Scheinwerfer: Sie akzentuieren die jeweilige Umgebung, tauchen sie vielleicht geradezu in ein gleißendes Licht und lassen anderes dabei umso mehr im Dunkeln. Beim Thema Korruption führen sie leicht zu Situationen, wie sie Paul Watzlawick als konstruktivistischer Psychologe gerne erzählt: Ein Mann sucht im Licht der Straßenlaterne nach seinem verlorenen Schlüssel, obwohl er weiß, dass er den Schlüssel woanders verloren hat.3 Einmal formuliert neigen Deutungen zur Selbstverifikation, die dem Verstärkereffekt unterliegen – viel gebraucht werden sie immer plausibler. Über kurz oder lang schaffen sie eine Filterblase, in der man nur noch diejenigen Aspekte einer vermeintlich oder tatsächlich korrupten Wirklichkeit wahrnimmt, die zu der schon etablierten Deutung passen. Deutungen haben daher etwas Gefährliches. Zugleich können sie wie das fokussierende Licht aber auch von großer Nützlichkeit sein; denn ohne Akzentuierungen unterschiedslos auf alles und nichts gerichtet sieht man schlechter.
Gedanken über Macht und Deutungsmacht kommen oft in einem Diskurs-Sound daher, der von Friedrich Nietzsche geprägt ist: Die Machtorientierung zieht sich durch Nietzsches Werk, auch wenn das vermeintliche Nachlasswerk mehr das Produkt einer editorischen Konstruktion ist als Ausdruck einer Autorintention. Zentriert auf die mittlere Werkphase dominiert die Macht als Thema auch die Schriften von Michel Foucault: Macht ist demnach allgegenwärtig und keine Deutung bleibt außerhalb dieser Dimension.4 Im Folgenden besteht im Gegensatz zu dem von Nietzsche ausgehenden Macht-Diskurs ein besonderes Interesse, den Gedanken der Macht in einer Form zu thematisieren, die eine Verurteilung der Korruption nicht ausschließt. Gerade wenn viele unangemessene oder schlicht falsche Deutungen über Korruption in der öffentlichen Debatte mächtig werden, ist die Frage dringlich, wie ihnen gegenüber angemessene ausgezeichnet werden können. So geht es nicht um die Machtfrage als Selbstzweck, sondern um den Versuch, die Macht der Korruption zu verstehen und womöglich durch mächtig werdende Deutungen an ihrer Überwindung...