E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Hasters Identitätskrise
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-446-27707-6
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum Zweifel der Beginn von Neuerfindung ist - für uns und unsere Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-446-27707-6
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wer Bestsellerautorin Alice Hasters in ihrem neuen Buch in den Kaninchenbau der Identitätskrise folgt, wird die Welt mit anderen Augen sehen – und sich selbst auch
Wir sind klimabewusst. Wir haben eine Erinnerungskultur. Freiheit und Frieden sind westliche Tugenden. Das erzählen wir uns über uns selbst und über die Gesellschaft, in der wir leben. Doch diese Geschichte stimmt nicht ganz, oder?
Wir kaufen in Sweatshops hergestellte Kleidung, schrecken vor unserer Familiengeschichte zurück, und in unserer Gesellschaft grassieren Rechtsradikalismus und Polizeigewalt. Unsere Selbsterzählung stimmt nicht mit der Realität überein. Kein Wunder also, dass wir in einer Identitätskrise stecken.
Es ist Zeit, sich dieser Identitätskrise zu stellen und herauszufinden, wer wir wirklich sind, sagt Alice Hasters – denn nur so können sich Menschen und Gesellschaften verändern.
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Aus dem Inneren einer Identitätskrise Es gibt Tage, an denen ich aufwache und nicht weiß, was ich als Nächstes tun soll. Es fällt mir schwer zu beurteilen, was eigentlich noch wichtig ist. Das Einzige, was mir einfällt, ist das, was ich seit Jahren mache, nachdem ich aufgestanden bin: Ich gehe in die Küche, fülle die kleine Schraubkanne mit Kaffeepulver, stelle sie auf den Herd und warte, dass mein Kopf hochfährt. Dabei spülen Gedanken langsam an und treiben weg, wie Wellen in einem verschlafenen Meer. Es fühlt sich merkwürdig an, darauf zu warten, dass der Kaffee anfängt zu kochen, und gleichzeitig zu überlegen, wann wohl die Welt überkocht. Oder ob sie das schon tut, eben nur nicht hier, in dieser Wohnung. Ab wann kann man offiziell von einer Weltüberkochung sprechen? Irgendwo in dieser Stadt hat es schon angefangen. Irgendwo klopft es vielleicht gerade an der Wohnungstür einer Familie, die sich zum Abschiebeflug bereit machen soll. Irgendwo verprügelt ein Mann gerade seine Frau. Irgendwo stirbt ein Tier, und eine Pflanze blüht nicht, weil es zu heiß und zu trocken ist. Wann werde auch ich wirklich zu spüren bekommen, was schon längst passiert? Wenn es so weit ist und das Leben, so wie wir es gerade führen, offiziell vorbei ist, was für eine Person werde ich dann sein? Was werde ich bereuen, was werde ich vermissen? Kaffee, wahrscheinlich. Merkwürdig, dass wir an Italien denken, wenn es um guten Kaffee geht, und an die Schweiz bei guter Schokolade. Hat jemand schon einmal eine Kaffee- oder eine Kakaoplantage in Europa gesehen? All unsere Geschichten sind schief. Aber es wird bald aufhören, so oder so. Es hat schon begonnen aufzuhören. Diesen feststellbaren Zeitpunkt, wann etwas zu Ende geht und etwas Neues anfängt, den gibt es nicht. Alles geschieht gleichzeitig. Ich stelle mir den Moment, in dem mich die Weltüberkochung erreicht, so vor: Nichts ahnend wird man aus dem Haus gehen und irgendwohin wollen, und dann wird es heißen: Das geht nicht mehr, es ist vorbei. Freiheit, wie wir sie kennen, ist tot. In meiner Vorstellung wird es wie zu Beginn der Coronapandemie, nur noch viel krasser. Während ich im Newsroom saß und O-Töne von Expert*innen zusammenschnitt, die sagten, das neue Virus sei vergleichbar mit der Grippe, keine Panik, war mein Kollege schon sehr nervös. Ich dachte, er übertreibt. Bis die Führungskräfte plötzlich von einem Meeting zum anderen rannten und schließlich verkündeten, wir können erst einmal nicht mehr zur Arbeit kommen, auf unbestimmte Zeit. Da hatte ich bereits angekündigt, dass ich keine Schichten mehr annehmen könnte, weil ich mit meinem ersten Buch mehr zu tun hatte als ursprünglich gedacht. Aber die Lesungen fielen dann auch aus. Ruhig wurde es trotzdem nicht. Anfang Mai 2020 wurde ich in einem Podcast-Interview gefragt, ob die Pandemie andere Gesellschaftsdiskurse verdränge. Ich sagte, ganz im Gegenteil, durch die Pandemie werde alles an sozialen Ungerechtigkeiten nur noch stärker sichtbar. Als die Folge Anfang Juni veröffentlicht wurde, war George Floyd bereits tot. Umgebracht in weniger als neun Minuten von einem weißen Polizisten. An einem ganz normalen Tag in Minneapolis. Schwarze Menschen wissen sehr genau, dass ihnen das jetzt schon passieren kann — an einem gewöhnlichen Tag rauszugehen, irgendwo hinzuwollen, und auf einmal heißt es: Das geht nicht mehr, es ist vorbei. Wir ahnen nichts, und doch ahnen wir es die ganze Zeit. Ich war merkwürdig stolz darauf, dass ich recht gehabt hatte mit meiner Antwort. Auf der Black Lives Matter-Demo auf dem Berliner Alexanderplatz fragte ich mich, was den vielen Menschen dort wohl durch den Kopf ging. Warum waren sie hier? Warum hatte gerade der Tod von George Floyd sie so emotionalisiert? Er war nicht der erste Schwarze US-Amerikaner, der vor laufender Kamera umgebracht worden war. Tamir Rice zum Beispiel war zwölf Jahre alt gewesen, als ein Polizist ihn 2014 erschoss. Der Mann stieg einfach aus seinem Wagen, zückte seine Waffe und ermordete den Jungen. Damals regte sich in Deutschland nichts. Bei Schwarzen könne man das Alter ja schlecht erkennen, und der kleine Tamir trug eine sehr echt aussehende Spielzeugpistole in der Hand, hieß es nach der Tat. Außerdem war Barack Obama US-Präsident, es konnte also nicht so schlimm sein mit dem Rassismus, wenn der mächtigste Mann der Welt selbst Schwarz war. Als ich von Tamir Rice erfuhr, musste ich an meinen Neffen in Philadelphia denken und hoffte, dass er nie eine Spielzeugpistole besitzen würde. Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob ich auf die Demo für George Floyd gegangen wäre, wäre ich nicht selbst aus einer afroamerikanischen Familie. Ziemlich egoistisch von mir. Deshalb konnte ich nicht zu hundert Prozent nachvollziehen, warum alle anderen dort waren. Warum interessierten sie sich jetzt so für Schwarze Leben? Ging es hier um die USA oder um Deutschland? Lag es an den vielen Schwarzen Künstler*innen, die sich mit der Bewegung solidarisierten? Ging es hier um Politik oder um Popkultur? Oder war es doch ein ehrliches Verlangen nach einer gerechteren Welt? Aber was war dann mit Hanau, mit Halle und Walter Lübcke? Warum stand nach diesen Taten nicht alles kopf in Deutschland? Das war zu diesem Zeitpunkt alles höchstens ein Jahr her. Wie viele auf der Demo hatten den Namen Oury Jalloh wohl schon einmal gehört? 2005 verbrannte er in einer Polizeizelle in Dessau, ohne dass jemand dafür belangt worden war. Jedes Jahr am 7. Januar organisieren die Angehörigen Proteste, seit Jahren. Was bedeutet »Black Lives Matter« für Deutschland? Vielleicht nicht zu viele Fragen stellen, habe ich damals gedacht, zumindest nicht jetzt. Gut, dass so viele Menschen den Impuls hatten, auf die Straße zu gehen. Aber ich hätte auch gerne tiefergehend darüber gesprochen, warum gerade in dem Moment und ausgerechnet für George Floyd. Mein Posteingang war so voll. Ich wollte keine E-Mails mehr sehen. Der Tod von George Floyd hatte dazu geführt, dass mein Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten zum vierten Mal in die SPIEGEL-Bestsellerliste einstieg und für ein Jahr dort blieb. Auf einmal war ich nur noch dieses Buch. Viele lasen es, aber noch mehr hatten eine Meinung zum Titel, ohne jemals eine Seite aufgeschlagen zu haben. Mich interessierte diese Emotionalität von allen Seiten. Diejenigen, die lange nicht gehört wurden, bekamen jetzt Aufmerksamkeit. Wir erzählten von den vielen Situationen im Alltag, die im besten Fall nur unangenehm, im schlimmsten Fall bedrohlich sind. Wir schauten zurück auf die Dominanzgesellschaft, nein, wir starrten zurück, und viele hielten das kaum aus. Und je mehr wir das taten, desto mehr Wut, Angst, Trauer traten hervor — und zunehmende Verwirrung. Und dann gab es ja noch viel anderes zu besprechen. Gender, Körper, Generationen, Religion, Einkommen, Ost- und Westdeutschland. Wer repräsentierte denn jetzt was? Wer war überhaupt wer? Die erwachte Aufmerksamkeit reichte immer noch nicht aus, um alle Probleme und Perspektiven ausreichend zu diskutieren. Ich sah Identitätskrisen überall und dachte: Wie interessant. Wie anstrengend. Wie nervig. Wie gut. Identität ist eine Geschichte, die man über sich selbst erzählt. Eine Identitätskrise ist die Erkenntnis, dass diese Geschichte nicht mehr aufgeht. Auf einmal gingen so viele Geschichten nicht mehr auf, weil die Leute sich gegenseitig anstarrten und laut aussprachen, was sie sahen. Die Diskriminierten kannten das schon. Sich gegen eine Erzählung von sich zu wehren, die nicht ihrer eigenen entspricht, bestimmt ihr ganzes Leben. Für die Privilegierten war das neu. Aber wir sind fast alle beides — privilegiert und diskriminiert. Auch das kam beim gegenseitigen Anstarren immer mehr zum Vorschein. In der Zeit, als ich das so in meinem Kopf formulierte, habe ich oft in den Spiegel geschaut. Manchmal stand ich vom Schreibtisch auf und ging ins Bad, um mich für eine Weile selbst zu betrachten. Wenn ich auf der Straße lief, beäugte ich meinen Gang in den Schaufenstern und fühlte mich kurz in Sicherheit, wenn ich von meinem verzerrten, transparenten Spiegel-Ich begleitet wurde. Ich war noch da, bestätigte mir mein Spiegelbild. Dabei hatte ich mich in den vergangenen Monaten so oft gesehen wie nie zuvor....