Hauch Kindheit ist keine Krankheit
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403324-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie wir unsere Kinder mit Tests und Therapien zu Patienten machen
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Fischer Paperback
ISBN: 978-3-10-403324-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. med. Michael Hauch war Kinder- und Jugendarzt in Düsseldorf. Davor hat er viele Jahre in der Onkologie und Knochenmarktransplantation der Uniklinik in Düsseldorf und am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York geforscht und gearbeitet. Michael Hauch starb 2019 nach längerer Krankheit.
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1 Ein ganz normaler Praxistag
Morgens um 10 Uhr in meiner Praxis. Seit zwei Stunden arbeiten wir. Das heißt, wir hätten gerne gearbeitet. Aber Julie und Melinda, die ersten beiden Patientinnen, die zur Vorsorge angemeldet waren, sind nicht erschienen. Familie S. mit Julie ohne eine Erklärung, Frau K., die Mutter von Melinda, rief fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit an und berichtete, dass die vier Monate alte Melinda die ganze Nacht geschrien habe, nun sei Melinda eingeschlafen – endlich. Sie bringe es nicht über das Herz, Melinda jetzt zu wecken. Jetzt geht die Tür auf und Frau W. erscheint mit Anton.
Anton
Seit Antons Geburt vor zehn Monaten kommt Frau W. alle paar Tage in meine Praxis, weil sie sich Sorgen um Anton macht. Mal hat er einen kleinen Hautausschlag, mal eine verstopfte Nase oder ein bisschen Fieber. Vor allem aber schreit er. Anton schreit »andauernd«, »stundenlang«, und natürlich jeden Abend, bevor er einschläft und »während der Nacht fünf- bis sechsmal«.
»Der würde ja nicht so schreien, wenn er nichts hätte«, sagt Antons Mutter verzweifelt. Von anderen Müttern weiß Frau W., dass Antons Schreien »irgendwas Medizinisches« sein muss.
Als Anton ein paar Wochen alt war, vermutete Frau W. hinter Antons Schreien die berühmten Dreimonatskoliken. Würde das arme Kind sonst die Beine so krampfhaft an den Leib ziehen? Vor ein paar Monaten, da stillte sie Anton noch, glaubte Frau W. eine Verstopfung bei Anton feststellen zu können. Anton hatte nur alle zwei Tage Stuhlgang, einmal sogar eine ganze Woche lang gar nicht. Und dann presste er immer so kräftig beim Stuhlgang – der Beweis. Und dann die Milchallergie. Anton trank immer nur ganz kurz von der Brust, dann wendete er sich ab. Instinktiver Widerwille vor der allergieauslösenden Milch.
Beim nächsten Besuch in meiner Praxis kam Frau W. mit einer gänzlich neuen Vermutung. Antons Halswirbelsäule sei blockiert. Sie habe gehört, dass dies zu langandauernden Schreiattacken führen könnte, auch nachts. Gerade nachts.
Ich untersuche Anton jedes Mal und versuche Frau W. zu beruhigen.
Antons Halswirbelsäule war nicht blockiert. So wenig wie Anton Verstopfung, eine Muttermilchallergie oder Dreimonatskoliken hatte. Anton ist einfach nur wie alle Kinder in diesem Alter ein kleines Genie. Er kann Gedanken lesen. Er merkt, dass seine Mutter unsicher ist. Die Unsicherheit der Mutter verunsichert wiederum Anton. Er fühlt sich nicht geborgen. Deshalb schreit er. Und seine Mutter wird immer unsicherer. Sie wünscht sich nur noch, dass Anton einmal nicht mehr schreit. Dass er ruhig ist und schläft. Und dass er endlich auch die Mutter schlafen lässt.
Manche Babys schreien mehr als andere, sie reagieren empfindlicher als andere auf jede Irritation, sie haben noch nicht gelernt »abzuschalten« und begegnen der Reizüberflutung durch Schreien. Dies ist auch der Grund dafür, dass Babys an hektischen Tagen mehr schreien. Sie müssen erst lernen, sich selbst zu beruhigen. Regulationsstörung nennen das Experten. Kinder mit Regulationsstörungen sind weniger pflegeleicht als andere, sie brauchen einen besonders festen äußeren Rahmen mit festen Alltagsritualen und festen Schlafenszeiten und -gewohnheiten. Dann lernen sie mit der Zeit, sich sicher zu fühlen. Frau W. hat es inzwischen geschafft, Anton zu festen Zeiten ins Bett zu legen, immer mit den gleichen Abläufen, wie wir es besprochen haben.
In den letzten Wochen ist Antons Schreien seltener geworden. Vor allem nachts. Anton hat gelernt, seinen Schlaf so zu organisieren, dass er nicht mehr jede Nacht ein halbes Dutzend Mal aufwacht und schreit.
Heute geht es deshalb auch mal nicht um Antons Schreien. Frau W. hat eine andere Frage: Alle gleichaltrigen Kinder, die sie kennt, können schon sitzen oder krabbeln. Manche laufen sogar. Nur Anton nicht. Die Patentante rate dringend zu Krankengymnastik. Während Frau W. mit mir spricht, dreht sich Anton auf den Bauch und robbt über die Untersuchungsliege, um mein Stethoskop zu untersuchen. Dabei ist er wieselflink. Auf meine Frage hin versichert mir die Mutter, dass Anton sich sogar in den Stand ziehen kann, wenn er sich dabei an einem Stuhlbein oder seinem Kinderbettchen festhalten kann. Ich versuche Frau W. zu überzeugen, dass Anton völlig gesund ist, dass er bald krabbeln und laufen wird.
»Aber vielleicht ist eine Therapie doch besser, dann brauche ich ihn nicht den ganzen Tag herumzutragen, mir tut schon der Rücken weh«, wendet Frau W. ein.
»Dann tragen Sie ihn doch nicht herum. Legen Sie Anton auf eine Krabbeldecke. Sie werden staunen, wie schnell er dann krabbelt und läuft.«
Frau W. schüttelt den Kopf. »Nein, lieber das Rezept.« Sie habe schon mit der Krankengymnastin gesprochen, heute Nachmittag sei bereits die erste Sitzung.
Jakob
Als Nächstes betritt Frau T. mit Jakob die Praxis. Jakob ist dreieinhalb und geht seit einem halben Jahr in die Kita. Beim letzten Elternabend hat die Erzieherin Frau T. angesprochen: Jakob spreche zu wenig und zu undeutlich. Die Erzieherinnen könnten ihn nicht verstehen. Er brauche dringend Logopädie. Es gebe da eine Therapeutin, die habe schon mehreren Kindern in der Kita geholfen. Bitte schön, hier auch gleich ein Flyer der Praxis.
Frau T. ist verunsichert. Jakob spricht zwar tatsächlich nur wenig und undeutlich, aber er ist ein aufgeweckter Junge, der zu Hause gerne mit seinen Playmobil-Rittern spielt und sich vorlesen lässt. Auf dem Spielplatz und im Kindergarten hat er viele Freunde. Mit diesen Freunden kommuniziert er mühelos. Sie verstehen, was er mit seinen Gesten, mit seiner Mimik und den wenigen Lauten und Wörtern ausdrücken will. Frau T. berichtet, dass ihr Mann, Jakobs Vater, ebenfalls erst sehr spät sprechen gelernt habe. Frau T. will aber auch keinen Fehler machen, sie will auf keinen Fall, dass Jakob wegen Sprachschwierigkeiten den Anschluss an seine Altersgenossen verpasst und am Ende sogar noch in der Schule scheitert. Also vielleicht doch zur Sicherheit eine Therapie?
Ich untersuche Jakob noch einmal gründlich. Er hört gut.
»Jakob, zeigst du mir bitte mal ein Tier auf dieser Seite?«
Jakob zeigt im Wimmelbuch auf einen Hund.
»Siehst du auch Menschen auf der Seite?«
Jakobs Finger wandert zu der Figur neben dem Hund.
»Und eine Pflanze?«
Erwachsene können sich vielleicht nicht vorstellen, was Jakob gerade leistet. Er versteht meine Aufforderung und kann Kategorien bilden, also zwischen Mensch und Tier und Pflanze unterscheiden. Jakob weiß, dass ein Hund ein Tier ist, und er ordnet Blumen und Bäume dem Oberbegriff Pflanze zu.
Ich erkläre der Mutter, dass manche Kinder mit drei Jahren noch nicht oder nur sehr wenig sprechen. Sie sind sogenannte Late Talker, späte Sprecher. Sie verstehen viel, ihr passiver Wortschatz ist groß, aber ihr aktiver Wortschatz ist klein, sie sprechen in unvollständigen Sätzen. Aber sie kommunizieren. Late Talker wie Jakob wissen sehr gut, wie sie ihren Eltern, Geschwistern oder Freunden auch ohne Worte mitteilen, was sie bewegt, was sie haben möchten oder was sie nicht mögen. Sie horten Wörter, und eines Tages sprechen sie zur Überraschung der Erwachsenen. Geradezu explosionsartig vermehrt sich dann ihr aktiver Wortschatz, und sie sprechen die ersten verständlichen kurzen Sätze. Frau T. wirkt erleichtert. Denn eigentlich war sie sich ebenfalls sicher, dass ihr Sohn völlig normal entwickelt ist.
Laura
An diesem Morgen, kurz vor Ende der Vormittagssprechstunde, kommt auch Laura. Ihre Mutter hat mich um ein längeres Gespräch gebeten, weil sie sich große Sorgen um ihre Tochter macht. Laura geht in die erste Klasse der Grundschule. Ihrer Lehrerin ist sie aufgefallen, weil sie nicht mit der Schere umgehen kann. Außerdem sei Laura auch »verträumt« und passe im Unterricht oft nicht auf, wahrscheinlich habe sie ADS, eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität. Auch hier soll es eine Therapie richten, eine Ergotherapie, damit Laura demnächst besser Papierfiguren ausschneiden kann, eventuell sei auch eine Psychotherapie angebracht. Ein Mädchen aus Lauras Klasse bekomme Medikamente gegen die Aufmerksamkeitsstörung, erzählt die Mutter besorgt. Gehirndoping wolle sie natürlich nicht für ihre Tochter. Laura soll kein »Drogi« werden. Aber Therapie ist vielleicht eine gute Idee.
Ich bin einigermaßen fassungslos und frage nach: Psychotherapie, weil Laura manchmal lustlos ist, weil sie träumt und Papierfiguren nicht penibel ausschneiden mag oder kann?
Die Mutter hat Lauras Hefte mitgebracht und zeigt sie mir. Ich sehe säuberlich geschriebene Wörter, sorgfältig gemalte, phantasievolle Zeichnungen. Ich frage Laura, ob sie Freundinnen und Freunde hat; denn Freunde zu haben ist zwar kein ganz eindeutiges Indiz, aber ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, kein ADS zu haben. »Ich habe eine beste Freundin und mehrere, mit denen ich gerne zusammen bin«, sagt Laura. Auch die Mutter bestätigt, dass ihre Tochter von den Klassenkameradinnen gut aufgenommen...




