E-Book, Deutsch, 174 Seiten
Hausen / Weber Die RAF
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-029220-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Beziehungsgeschichte von Terrorismus, Staat, Medien und Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 174 Seiten
ISBN: 978-3-17-029220-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Reinhold Weber ist stellvertretender Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Dr. Maike Hausen ist dort als Abteilungsleiterin und Redakteurin tätig.
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1 Einleitung
Wohl kein Thema hat die Deutschen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs so lange und so intensiv beschäftigt wie der Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). Der Schrecken, den die RAF mit ihren Verbrechen verbreitet hat, hat sich tief in den kollektiven Erfahrungshaushalt der Deutschen eingegraben. Der Terrorismus der RAF war die größte innenpolitische Herausforderung der »alten« Bonner Republik und hat das Land nachhaltig verändert. Innerhalb der fast 30 Jahre ihres Bestehens, von ihrer Gründung im Jahr 1970 bis zur selbstverkündeten Auflösung im Jahr 1998, hat die RAF das Land immer wieder in Atem gehalten.
Keine andere politisch motivierte und organisierte Gruppierung in Deutschland hat eine ähnliche Bilanz des Schreckens hinterlassen. Insgesamt 34 Mordopfer gehen auf das Konto der RAF, davon zehn Vertreter von Staat, Justiz und Industrie sowie sieben Soldaten bzw. Angestellte der US-Streitkräfte in der Bundesrepublik. Darüber hinaus wurden zwölf Polizei- oder Zollbeamte, vier Fahrer bzw. Begleiter sowie eine völlig unbeteiligte Frau ermordet. Hinzu kommen deutlich über 200 zum Teil schwer Verletzte, geschätzte 250 Millionen Euro Sachschaden sowie allein über 30 Banküberfälle, die der RAF sicher zugeschrieben werden können. Die Terroristen bedienten sich rund 100 konspirativer Wohnungen und stahlen etwa 200 Autos. Nicht zutage treten in dieser Aufzählung die psychischen Folgen für die Opfer und deren Angehörige sowie für ›einfache‹ Passanten, die durch bloßen Zufall in das Geschehen einbezogen wurden, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Aber die RAF hat nicht nur Individuen ermordet oder schwer geschädigt, sondern auch Staat, Justiz, Politik und Gesellschaft verändert. Die Maßnahmen gegen den Terrorismus aufseiten des Staates waren gewaltig. Enorm war auch der Aufwand für die (Untersuchungs-)Haft und für die Gerichtsverhandlungen gegen die RAF-Mitglieder. In Stuttgart-Stammheim wurde eigens für die RAF-Prozesse ein neues Mehrzweckgebäude neben der Justizvollzugsanstalt errichtet. Die Baukosten für die Erweiterung beliefen sich auf rund zwölf Millionen D-Mark. Mit seinem Hochsicherheitstrakt wurde »Stammheim« zur Chiffre und zum in Beton gegossenen Sinnbild staatlicher Gewalt – je nach zeitgenössischer Perspektive verstanden als »wehrhafte Demokratie« oder als Teil der »staatlichen Repressionsmaschinerie«. »Stammheim«, die Trutzburg auf dem ehemals »schwäbischen Rübenacker« (Spiegel, 19.05.1975), wurde zum politisch und moralisch aufgeladenen Symbolbegriff der bundesdeutschen Rechtsgeschichte. Das hatte mit der Prominenz der RAF-Häftlinge zu tun, aber auch mit der Doppelfunktion als Justizvollzugsanstalt und Gerichtsort sowie mit der zeitlichen Parallelität von Justizvollzug und Verschärfung der Strafprozessordnung. Bemerkenswert war der Prozess in Stammheim auch, weil nach einem zweijährigen Strafverfahren zwar ein Urteil gesprochen wurde (u. a. gegen zwei Angeklagte, die bereits nicht mehr lebten), das jedoch nie rechtskräftig wurde, weil die noch lebenden Verurteilten vor der Entscheidung über eine Revision des Urteils Suizid begingen.
Abb. 1:Deutscher Herbst – das brutale Morden der RAF hält die Republik in Atem. Mit Fahndungsplakaten wird – wie hier in Karlsruhe – nach den RAF-Terroristen gesucht.
Als Reaktion auf die terroristische Bedrohung wurden zahlreiche neue Gesetze erlassen und das bundesdeutsche Strafrecht sowie die Strafprozessordnung mit Änderungen versehen, die zum größten Teil heute noch gültig sind. Wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft oder Unterstützung einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung (§§ 129 und 129a StGB) kam es zu tausenden von Ermittlungsverfahren. Mehr als eine Million sichergestellte Objekte wurden gesammelt, etwa elf Millionen Seiten Ermittlungsakten wurden gefüllt. Vor allem aber bleibt die Erinnerung der Bevölkerung an ein kollektives Bedrohungsgefühl und an höchst kontroverse Debatten über das spannungsreiche Verhältnis von Sicherheit und Freiheit. Durch die islamistisch motivierten Anschläge seit »9/11«, den rechtsextremen Terror unter anderem durch den »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) und zuletzt durch neue Fahndungserfolge zur dritten RAF-Generation hat beides an aktuellem Bezug gewonnen. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, was die bundesdeutsche Gesellschaft aus der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der 1970er-Jahre ›gelernt‹ hat. Geblieben sind vor allem auch zahlreiche offene Fragen zur RAF und zu einzelnen ihrer Verbrechen.
Die RAF ist keinesfalls ein abgeschlossenes Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik. Das liegt nicht nur am Reiz der revolutionären Romantik, die manchen »Alt-68er« angesichts der Thematik überkommen mag. Vielmehr wird das öffentliche Interesse an der RAF nicht abebben, solange Opfer oder deren Angehörige leben und solange Täter sowie deren Verantwortlichkeiten nicht detailliert bekannt sind. So sind etwa die Mordanschläge auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback (1977), den Vorstandssprecher der Deutschen Bank Alfred Herrhausen (1989) oder den Präsidenten der Treuhandanstalt Detlev Rohwedder (1991) bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Die heftigen Kontroversen um die RAF-Ausstellung in Berlin (2003), die Diskussionen um die Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und die Begnadigung von Christian Klar (2007) bzw. die Debatte bei seiner Haftentlassung (2009), der neu aufgerollte Prozess gegen Verena Becker in Stammheim (2010) und zuletzt die Festnahme von Daniela Klette (2024) belegen dies. Vor allem das Beispiel von Verena Becker macht deutlich, dass die selbstauferlegte Schweigepflicht der RAF-Mitglieder, ein der Mafia und ihrer Omertà (»Schweigepflicht«) entlehnter Verhaltenskodex, weiterhin funktioniert: Die noch lebenden Täter verharren weiterhin in selbstgerechtem Schweigen. Zwar hat sich die an der Schleyer-Entführung beteiligte Silke Maier-Witt im Herbst 2017 zu einer Geste durchgerungen und Jörg Schleyer, den Sohn von Hanns Martin Schleyer, in einem persönlichen Gespräch um Verzeihung gebeten. Mehr als bereits bekannte Fakten sind aber weder hierbei noch in der Autobiografie der früheren Terroristin (Maier-Witt 2025) zutage getreten.
Nun könnte man gespannt auf weitere ›Enthüllungsliteratur‹ von ehemaligen RAF-Mitgliedern warten, vielleicht auch auf Memoiren noch lebender Politiker oder Anwälte, die sich etwa im Umkreis der RAF-Verteidigerbüros bewegt haben. Aber zum einen verstecken sich diese Zeitzeugen hinter ihrem Argument des Mandantenschutzes (selbst wenn diese Mandanten gar nicht mehr leben), zum anderen ist höchst fraglich, ob sich damit die zahlreichen offenen Fragen rund um die RAF beantworten ließen. Auch die bisher gemachten Erfahrungen vor allem mit den tendenziösen literarischen Bewältigungsversuchen von sogenannten Ex-Terroristen zeigen, dass deren Informationen nur selten verlässlich sind. Vielleicht ließen sich Lücken in der Geschichte der RAF schließen, wenn es Auskünfte von Verfassungsschützern gäbe, die aber ebenfalls beharrlich schweigen oder sich noch immer weigern, der Forschung Akten freizugeben. So ist zum Beispiel die zentrale Undercover-Tätigkeit von Peter Urbach als agent provocateur in der Gründungsphase der RAF noch immer genauso unbeleuchtet wie andere dubiose Praktiken des Verfassungsschutzes, etwa beim »Celler Loch«. Im Rahmen dieser »Aktion Feuerzauber« genannten Operation hatte der niedersächsische Verfassungsschutz im Juli 1978 ein Loch in die Außenmauer der JVA Celle sprengen lassen, um einen von der RAF durchgeführten Befreiungsversuch eines inhaftierten Terroristen vorzutäuschen und so angeblich einen Informanten in die RAF einschleusen zu können.
Vielleicht ist das Ziel, die noch lebenden RAF-Mitglieder zum ›Auspacken‹ zu bringen, aber auch nur über eine Generalamnestie zu erreichen, wie sie von unterschiedlicher Seite immer wieder vorgeschlagen wird. Carolin Emcke, Publizistin und Patentochter von Alfred Herrhausen, hat darüber hinaus 2016 eine Art »Wahrheitskommission« nach südafrikanischem Vorbild vorgeschlagen, um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen (Emcke 2016: 98–103). Eventuell ließe sich so auch die im Frühjahr 2016 bekannt gewordene »Beschaffungskriminalität« von immer noch im Untergrund lebenden RAF-Mitgliedern verhindern. Denn erstmals nach vielen Jahren führten Spuren, die bei Raub- und Banküberfällen hinterlassen worden waren, zu Mitgliedern der letzten Generation der RAF, die den Ausstieg aus der Illegalität verpasst und offensichtlich nicht an ihre Altersvorsorge gedacht hatten. Wie »unzeitgemäße Gespenster ihrer eigenen Vergangenheit«, so Carolin Emcke am 20. Mai 2016 in der Süddeutschen Zeitung, seien sie in der Gegenwart aufgetaucht, in der sie jedoch »keinen Resonanzraum mehr finden«. Das große mediale Echo nach der Festnahme Daniela Klettes, die in diesem Zuge bekannt gewordene mutmaßliche Unterstützung aus der linken Szene für die Untergetauchten...




