E-Book, Deutsch, 171 Seiten
Hauser / Merz / Schultz Vom Bürger zum Konsumenten
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-038302-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie die Ökonomisierung unser Leben verändert
E-Book, Deutsch, 171 Seiten
ISBN: 978-3-17-038302-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Denken und Handeln von Individuen und Gesellschaften werden zunehmend von ökonomischen Überlegungen geleitet. Was ist uns die Rettung der Umwelt wert? Wie viel kosten unsere Kinder? Wie viel geben wir für medizinische Behandlungen aus? Die Ökonomisierung treibt seltsame Blüten und stellt die Menschheit schon heute vor enorme Probleme.
Gut verständlich beschreiben Expertinnen und Experten unterschiedlicher Disziplinen das Phänomen aus ihrer jeweiligen Fachrichtung. Dabei zeigt sich: Nicht die Marktwirtschaft an sich ist das Problem, sondern das, was Menschen aus ihr gemacht haben. Durch den Perspektivwechsel zeichnen sich Auswege aus der Ökonomisierung grundlegender Güter, aus entfesselten Kapitalmärkten und zerstörerischen Oligopolen ab.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Ökonomisierung: Eine Herausforderung wird besichtigt
Thomas Hauser und Philippe Merz
Jede Perspektive ist im Wortsinn relativ. Sie ist Teil eines Ensembles verschiedener Blickwinkel und Deutungen, die jeweils unterschiedliche Eigenschaften und auch Möglichkeiten eines Phänomens hervorheben. Damit vernachlässigt jede Perspektive unweigerlich andere Deutungsmöglichkeiten oder blendet bestimmte Facetten sogar gänzlich aus. Das ist zunächst keineswegs problematisch: Eine Architektin blickt anders auf ein Haus als ein Statiker, eine Immobilienmaklerin anders als ein Tourist, die Mitarbeiterin einer Vermietungsplattform anders als der Mitarbeiter des städtischen Bauamts. Sie alle nehmen sowohl gemeinsame als auch unterschiedliche Facetten des Gebäudes wahr und heben diese hervor, geleitet von eigenen Interessen oder institutionellen Aufgaben. Das ist nicht nur legitim, sondern sogar ein wesentlicher Bestandteil ihrer jeweiligen sozialen Rolle. Problematisch wird eine solche Fokussierung jedoch dann, wenn mit ihr der Anspruch einhergeht, die Fokussierung sei gar nicht relativ, sondern vielmehr absolut, also die einzig mögliche Deutung eines Phänomens. Dann wird aus einer Perspektive eine Ideologie. Karl Mannheim, der Soziologe, hat diese These sinngemäß schon vor fast 100 Jahren formuliert (vgl. Mannheim 2015). Mit Blick auf das Schlagwort der »Ökonomisierung« lautet die zentrale Frage somit: Sind wir als Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten mehrheitlich der Versuchung erlegen, die ökonomische Perspektive sowohl auf die Phänomene der sozialen Welt als auch der Natur einseitig dominieren oder sogar absolut werden zu lassen? Haben wir nicht nur Finanzmärkte dereguliert und öffentliche Güter privatisiert, sondern auch Grundgüter unserer Existenz wie die Natur, das Wohnen, Gesundheit und Bildung, ja sogar unser Selbstverhältnis von einer effizienzorientierten Verwertungs- und Steigerungslogik bestimmen lassen? Haben wir diese Güter damit kompromittiert oder sogar korrumpiert? Und wenn dem so ist, schreitet diese Entwicklung weiter voran, wie es der dynamische Unterton des Begriffs »Ökonomisierung« nahelegt, oder lassen sich bereits handfeste Gegentendenzen und mögliche Auswege ausmachen? Fest steht zunächst, dass der Begriff längst nicht mehr nur im geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachdiskurs oder im linksliberalen Feuilleton kursiert, sondern in der gesamten Auseinandersetzung um die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung und Gesellschaftsentwicklung eine zentrale Rolle einnimmt. Umso wichtiger ist es, seine Mehrdeutigkeiten sichtbar zu machen und ihn kontextabhängig zu präzisieren. Zunächst gilt es jedoch, mit einem Missverständnis aufzuräumen. Nicht die Marktwirtschaft als solche ist das Problem, sondern das, was Menschen aus ihr machen und gemacht haben. Markt ist zunächst nicht mehr als das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage, aufgrund dessen sich Preise bilden. Diese »spontane Ordnung« ist aus vielerlei Gründen für Menschen und Gesellschaften vorteilhaft, angefangen bei der materiellen Bedürfnisbefriedigung bis hin zur zivilisierenden Kraft des grenzüberschreitenden Handels. Einem großen Teil der Menschheit geht es mit ihr heute weit besser als vor 100 Jahren. Sie bedarf aber – das zeigt die Wirklichkeit – mehr Regeln als die »unsichtbare Hand«, die der Moralphilosoph Adam Smith am Werk sah. Doch wo es um Regeln geht, geht es immer auch um die Macht, diese Regeln festzulegen, durchzusetzen und mit ihnen erfolgreich umzugehen. Damit ist stets auch die Gefahr des Machtmissbrauchs verbunden. Mindestens ebenso sehr – und zumeist weniger beachtet – geht es jedoch um unsere Denkmuster und Bewertungsgewohnheiten. Wer diese beherrscht, verändert langfristig die Verhaltensweisen der Menschen. In diesem Sinne lässt sich ein viel zitierter Satz des britischen Staatsmanns Winston Churchill zum Wesen der Demokratie auch auf unsere Wirtschaftsordnung anwenden: Die Marktwirtschaft ist das schlechteste aller Wirtschaftssysteme, ausgenommen alle anderen. Das Ziel der hier versammelten Beobachtungen und kritischen Analysen besteht also nicht darin, dieses Wirtschaftssystem einseitig zu verteufeln (und damit selbst wiederum ideologisch zu werden), sondern einige der zentralen ökonomistischen Veränderungen zu diagnostizieren, die sich seit den 1970er Jahren weltweit ausgebreitet haben. Nur mit einer solchen differenzierten Diagnose lässt sich beurteilen, wie weit das messende, rechnende, gewinnorientierte Denken tatsächlich vorgedrungen ist und ob diese Dynamik gebremst, korrigiert und um andere Perspektiven ergänzt werden sollte – etwa um die Gesellschaft vor Oligopolen und entfesselten Kapitalmärkten zu schützen oder um nicht-ökonomische Werte wie politische Teilhabe, Chancengerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit, also einen enkeltauglichen Umgang mit den natürlichen Ressourcen des Planeten, zu stärken. Für eine solche Gesellschaft, deren Zukunft schon begonnen hat, soll der vorliegende Band sowohl kritische als auch konstruktive Perspektiven bieten. Hierfür können zunächst einige Vorüberlegungen helfen. »The economy, stupid!«, also: »Die Wirtschaft, Dummkopf!«. Hinter dieser flapsigen Bemerkung von James Carville, dem Strategen von Bill Clintons erfolgreicher Kampagne bei der US-Präsidentschaftswahl 1992, verbirgt sich längst nicht mehr nur der Hinweis, dass die wirtschaftliche Lage Wahlen entscheidet. Dass Geld die Welt regiert, haben wir mittlerweile so oft erfahren, dass die meisten bereit sind, es als Naturgesetz hinzunehmen und folglich ihr Denken und Handeln danach auszurichten. Marktwirtschaft kann also nicht nur innovative, kreative oder zivilisierende Kräfte freisetzen, sondern auch entmutigende und beengende. Viele akzeptieren dieses Denken, weil sie hoffen, dadurch selbst reich und einflussreich zu werden, andere, um ihre eigene Lethargie zu rechtfertigen: »Dagegen kann ich als kleiner Mensch sowieso nichts machen.« Wenn dem allerdings so wäre, hätten unsere Vorfahren nie die Demokratie erkämpft. Diese Staatsform – wir sollten uns daran immer wieder erinnern – weist uns Bürgerinnen und Bürgern die Rolle des Souveräns zu. Staat, Justiz und Wirtschaft sind uns gegenüber zwar nicht weisungsgebunden, aber unserem Wohl verpflichtet. So weit, so idealistisch. In der Realität war dies schon immer ein fragiles Konstrukt, weil eine Gesellschaft weder homogen noch herrschaftsfrei denkbar ist. Umso wichtiger ist es, wer die Regeln des Zusammenlebens definiert und durchzusetzen vermag. Dies ist ein permanenter, im besten Fall fairer und konstruktiver Prozess, in dem niemand unumschränkte Macht erhält, sodass Fehler und Fehlentwicklungen stets korrigiert werden können. Selbstverständlich aber ist dies nicht. Es wird immer Menschen und Gruppen geben, die nach der ganzen Macht greifen wollen, anstatt sie demokratisch zu teilen. Man kann sich eine solche Gesellschaft als ein gewaltiges Mobile vorstellen, in dem unzählige Spannungen, Kräfteverhältnisse und Widersprüche immer wieder neu austariert werden müssen. Da geht es um Freiheit und Sicherheit, Macht und Kontrolle, Eigennutz und Gemeinwohl, individuelles Erfolgsstreben und solidarisches Teilen. Die Liste kann mühelos verlängert werden. Ist die Balance an einer oder mehreren Stellen vorrübergehend erreicht, geraten andere Bereiche aus dem Lot, weil manche Akteurinnen und Akteure versuchen, diese Balance zu beeinflussen – oft aus legitimen, wenngleich individuellen Motiven, manchmal aber auch in illegitimer Absicht. Zudem können politische oder ökonomische Umwälzungen sowie technologische Innovationsschübe wie derzeit die Digitalisierung ein solches System mit seinen zahlreichen Subsystemen in eine äußerst unübersichtliche, fragile Lage manövrieren. Das sind Zeiten, in denen die Grundsätze unseres Zusammenlebens neu verhandelt und austariert werden müssen. Zeiten wie diese. Um was es dabei auch geht, lässt sich am Beispiel des Begriffs »Verantwortung« zeigen. Dieser Begriff avanciert zwar erst mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Grundprinzip der westlichen Ethik, schlägt sich jedoch schon zuvor im juristischen Haftungsgrundsatz oder dem Ideal des ehrbaren Kaufmanns nieder (vgl. Bayertz 1995). Für ehrbare Kaufleute – ja, solche gibt es weiterhin – gelten gewisse Grundsätze wie Aufrichtigkeit und Fairness unverändert. Allerdings wirken solche Grundsätze für manche Menschen heutzutage nicht nur deswegen antiquiert, weil anonyme internationale Konzerne längst die Geschicke der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung bestimmen, sondern auch deswegen, weil manche dieser Unternehmen noch immer systematisch versuchen, ihrer ethischen wie juristischen Verantwortung auszuweichen. Dabei folgen sie der Logik, dass es Gewinne zu maximieren, die negativen Konsequenzen hingegen zu sozialisieren gelte. Das geschah in...