Hawley Der Vater des Attentäters
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-312-00625-0
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-312-00625-0
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In den USA wird ein Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten der USA verübt - und der Verdächtige ist der eigene Sohn. Sprachlos verfolgt der Arzt Paul Allen die Meldung im Fernsehen. Und setzt nun alles daran, die Unschuld seines Sohns Daniel zu beweisen. Geplagt von Vorwürfen, die Erziehung vernachlässigt zu haben, deckt er unglaubliche Ungereimtheiten auf. Immer mehr deutet auf eine Verschwörung hin, bei der sein Sohn das Opfer sein soll. Als Daniel zum Tod verurteilt wird, setzt Allen alles auf eine Karte. Ein intelligenter psychologischer Roman über den Kampf eines Einzelnen gegen staatliche Macht, um Schuld und die Verfehlungen in der Vergangenheit.
Noah Hawley wurde 1967 in New York geboren. Er arbeitete in einem Rechtshilfeverein für missbrauchte und verwahrloste Jugendliche, zog nach San Francisco und wurde Mitglied des San Francisco Writer’s Grotto. Heute arbeitet Hawley als Film- und Fernsehproduzent sowie als Drehbuchautor und hat vier Romane veröffentlicht. Er schrieb und produzierte die erfolgreiche TV-Serie Bones; er konzipierte und führte Regie bei den TV-Shows The Unusuals und My Generation und arbeitet zurzeit an einer TV-Adaption des Spielfilms Fargo der Coen-Brüder. Hawley lebt mit seiner Familie in Los Angeles und Austin, Texas.
Weitere Infos & Material
Donnerstags war Pizzaabend bei den Allens. Mein letzter Termin war um elf Uhr vormittags, und um drei saß ich für gewöhnlich bereits im Zug zurück nach Westport, blätterte durch Patientenkarten und erledigte Telefonanrufe. Ich sah gern dabei zu, wie die Stadt nach Norden hin ausdünnte und die Ziegelbauten der Bronx von den Gleisen zurückwichen. Bäume traten an ihre Stelle, triumphierend, und gleich dem befreienden Jubel nach einer langen Zeit der Unterdrückung brach Sonnenlicht durch. Aus den Straßenschluchten wurden Täler, aus den Tälern Felder, und ich atmete langsam auf, als wäre ich einem Schicksal entronnen, das ich für unausweichlich gehalten hatte. Es war merkwürdig, schließlich war ich in New York City aufgewachsen und ein Kind von Beton und Asphalt, aber am Ende hatte ich all die rechten Winkel und das ständige Sirenengeheul nur noch als erdrückend empfunden, und so waren wir vor zehn Jahren hinaus nach Westport, Connecticut, gezogen und wurden eine typische Vorortfamilie mit den entsprechenden Hoffnungen und Träumen. Ich bin Rheumatologe und war zu der Zeit Chef der Rheumatologie des Columbia Presbyterian Hospital in Manhattan. Viele Leute wissen kaum, was sie sich darunter vorzustellen haben, und vermuten, dass ich vor allem mit alten Menschen und ihren Zipperlein zu tun habe. Tatsächlich jedoch gehört die Rheumatologie zur inneren Medizin und Kinderheilkunde. Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort rhe?ma ab, was so viel bedeutet wie «das, was wie ein Fluss oder Strom fließt». Rheumatologen beschäftigen sich hauptsächlich mit klinischen Problemen von Gelenken, Weichteil- und Bindegewebe. Wir sind oft die letzte Zuflucht, wenn Patienten rätselhafte Symptome entwickeln, und das in fast allen Körpersystemen: Nerven, Atmung, Kreislauf. Der Rheumatologe wird immer dann gerufen, wenn eine Diagnose schwerfällt. Ich bin gelernter Diagnostiker, ein Detektiv in Sachen Krankheiten, der Symptome und Testergebnisse analysiert und die bösartigsten Krankheiten und kaum fassbare Traumata aufspürt. Auch nach achtzehn Jahren faszinierte mich meine Arbeit noch, und ich nahm sie oft gedanklich mit nach Hause, grübelte vorm Eindämmern über Patientengeschichten nach und suchte nach verborgenen Mustern. Der 14. Juni war ein sonniger Tag, noch nicht zu heiß, doch die typische New Yorker Schwüle lag bereits in der Luft. Man konnte den ersten Hauch Feuchtigkeit riechen, der vom Schotter aufstieg, und bald würde jede Brise wie der heiße Atem eines Fremden sein. Später würde man die Hand heben und die Autoabgase wie Ölfarbe über den Himmel schmieren können. Aber im Moment war es nur ein leichter Druck, ein Rinnsal unter den Achseln. An jenem Abend kam ich später als gewöhnlich nach Hause. Die nachmittägliche Visite hatte unerwartet lange gedauert, und als ich aus dem Zug stieg, war es bereits kurz vor sechs. Ich ging zu Fuß vom Bahnhof nach Hause, vorbei an sorgfältig gepflegten Rasenflächen und Briefkästen mit amerikanischen Flaggen. Weiße Lattenzäune, gleichzeitig einladend und abweisend, zogen wie die Speichen eines Fahrrads am Rand meines Gesichtsfelds vorbei und vermittelten mir das Gefühl von Bewegung und Fortschreiten entlang einer Ordnung. Es war ein wohlhabender Ort, und ich war einer seiner Bürger, ein führender Rheumatologe, der an der Columbia University Vorlesungen hielt. Ich war noch in der Zeit vor dem Health Maintenance Organization Act Arzt geworden, vor Beginn des großen Erbsenzählens, und stand finanziell gut da. Das Geld ermöglichte uns gewisse Freiheiten und Annehmlichkeiten. Ein Haus mit fünf Zimmern und ein paar Hektar Hügelland mit einer Trauerweide und einer verblichenen weißen Hängematte, die sich träge im Wind wiegte. An diesen lauen Sommerabenden ging ich mit einem Gefühl von Frieden durch die Vorortstille, mit dem Bewusstsein, es zu etwas gebracht zu haben, und das hatte nichts mit Eitelkeit zu tun, sondern mit einer tiefen Ruhe. Es war wie der Triumph des Marathonläufers nach dem Rennen, der Jubel des Soldaten, wenn ein Krieg endlich beendet ist. Ich hatte mich einer Herausforderung gestellt und sie gemeistert, was mich reifer hatte werden lassen. Fran knetete bereits den Pizzateig, als ich hereinkam, und rollte ihn auf der marmornen Arbeitsplatte aus. Die Zwillinge rieben Käse und verteilten den Belag. Fran war meine zweite Frau, eine großgewachsene Rothaarige mit sanften Rundungen wie ein träger Fluss – mit etwa vierzig war die athletische Drahtigkeit der Volleyballspielerin üppigeren Formen gewichen. Fran war ein Mensch, der in sich ruhte und die Dinge weitsichtig und bedachtsam anging. Meine erste Frau war da ganz anders gewesen, impulsiv und immer dem wilden Auf und Ab ihrer Gefühle unterworfen. Unsere Heirat war ein Irrtum, aber ich stelle mir gern vor, dass eine meiner besseren Eigenschaften darin besteht, aus meinen Fehlern zu lernen, und ich Fran dann einen Antrag machte, weil wir – ein romantischerer Ausdruck dafür fällt mir nicht ein – miteinander kompatibel waren, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Fran arbeitete als virtuelle Assistentin, was hieß, dass sie von zu Hause aus arbeitete. Sie half Leuten, die sie noch nie persönlich getroffen hatte, Termine zu vereinbaren und Flüge zu buchen. Statt Ohrringen trug Fran einen Bluetooth-Kopfhörer, den sie sich gleich nach dem Aufwachen ans Ohr klemmte und erst kurz vorm Schlafengehen wieder abnahm. Was bedeutete, dass sie oft mit sich selbst zu sprechen schien. Unsere Zwillinge, Alex und Wally, waren in diesem Jahr zehn Jahre alt geworden. Sie waren zweieiige Zwillinge und glichen sich in keiner Weise. Wally hatte eine Hasenscharte und wirkte immer etwas bedrohlich, als wartete er nur darauf, dass man ihm den Rücken zukehrte. Tatsächlich aber war er der Bravere der beiden, der Unschuldigere. Eine Genmutation hatte ihm den Spalt im Gaumen beschert, der zwar weitgehend korrigiert worden war, seinem Gesicht aber immer noch etwas aus dem Lot Geratenes, Ungenaues, Verletzliches gab. Sein Bruder Alex, blond und im Vergleich zu ihm äußerlich ein Engelchen, war in letzter Zeit wegen verschiedener Prügeleien in Schwierigkeiten geraten. Das war nichts Neues, schon im Sandkastenalter war er jedem zu Leibe gerückt, der glaubte, sich über seinen Bruder lustig machen zu können. Über die Jahre hatte sich dieser Beschützerinstinkt in den unbändigen Drang verwandelt, ganz allgemein für Außenseiter und Schwächere einzutreten: Dicke, Sonderlinge, Kinder mit Zahnspangen. Nachdem wir vor ein paar Monaten zum dritten Mal in diesem Schulhalbjahr zu seinem Rektor bestellt worden waren, gingen Fran und ich mit Alex essen und erklärten ihm, dass wir seinen Wunsch, den Schwachen zu helfen, guthießen, er aber weniger handgreifliche Wege dafür finden müsse. «Wenn du diesen Rüpeln eine Lehre erteilen willst», sagte ich, «musst du dir etwas anderes einfallen lassen. Ich garantiere dir, dass durch Gewalt noch nie jemand dazugelernt hat.» Alex war schlagfertig und redegewandt. Ich schlug ihm vor, er solle sich doch im Debattierclub der Schule anmelden, wo er lernen konnte, andere mit Worten zu schlagen. Er zuckte mit den Schultern, aber ich konnte sehen, dass ihm der Gedanke gefiel. Während der nachfolgenden Monate wurde Alex zum Top-Debattierer der Klasse und beantwortete auch zu Hause jede Aufforderung, sein Gemüse zu essen oder im Haushalt zu helfen, mit einer philosophischen Gegenfrage. Daran konnte ich nur mir die Schuld geben. Das also war unsere kleine Familie. Vater, Mutter und zwei Söhne. Daniel, mein Sohn aus meiner ersten Ehe, hatte während seiner mürrischen Teenagerzeit ebenfalls ein Jahr bei uns gelebt, war dann aber so kurzentschlossen wieder abgereist, wie er gekommen war. Eines Morgens, es war noch dunkel, weckte er mich und fragte, ob ich ihn zum Flughafen bringen könne. Seine Mutter und ich hatten uns getrennt, als er sieben war, und er war bei ihr an der Westküste geblieben, während ich nach Osten zog. Mit achtzehn, drei Jahre nach seinem kurzen Aufenthalt bei uns, ging Danny aufs College. Nach weniger als einem Jahr jedoch warf er das Studium hin, stieg in sein Auto und fuhr Richtung Westen. Später sollte er sagen, dass er einfach nur «das Land sehen» wollte. Natürlich hatte er uns nichts davon gesagt. Stattdessen bekam ich eines Tages einen Brief, den ich ihm ins Studentenwohnheim geschrieben hatte, ungeöffnet und mit dem Stempel Nicht länger unter dieser Adresse erreichbar zurück. So war er von klein auf gewesen. Danny war immer schon ein Junge, der nie dort blieb, wo man ihn zurückließ, und ständig zu unerwarteten Zeiten an unerwarteten Orten auftauchte. Irgendwann meldete er sich, rief dann in unregelmäßigen Abständen an und schickte E-Mails aus Internetcafés in den weiten Ebenen des Mittelwestens. Gelegentlich, wenn ihm in einem Anfall von Familiennostalgie danach war, krakelte er auch schon mal eine Postkarte voll. Aber ihm musste danach sein, an mich dachte er dabei weniger. Das letzte Mal hatte ich ihn in Arizona gesehen. Ich war auf einem Medizinerkongress, und Daniel kam auf seinem Weg nach Norden zufällig durch unseren Tagungsort. Ich lud ihn zum Frühstück in einen hippen Coffeeshop in der Nähe meines Hotels ein. Er hatte lange Haare und aß seine Pfannkuchen, ohne auch nur einmal innezuhalten. Die Gabel bewegte sich wie eine Baggerschaufel zwischen Teller und Mund auf und ab. Daniel erzählte mir, er sei viel im Südwesten unterwegs gewesen, tagsüber sei er gewandert, nachts habe er im Schein der Taschenlampe in seinem Zelt gelesen. Er wirkte glücklich. Wenn man jung ist, gibt es keine romantischere Vorstellung als die Freiheit – die schöne Gewissheit, überall hinzukönnen,...