E-Book, Deutsch, 134 Seiten
Hecht Zett
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7562-5926-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
ein Roman von Thomas W. M. Hecht
E-Book, Deutsch, 134 Seiten
ISBN: 978-3-7562-5926-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zett ist ein einfacher Mann, ein Angestellter, der alleine lebt und Ordnung hält. Als ihn an einer Haltestelle ein Mädchen anspricht, steigt er in die nächste Straßenbahn, um sich dem Gespräch zu entziehen. Die Bahn fährt zum Theater und es scheint, das wäre ohnehin sein Ziel gewesen. Aber auch sein Bewusstsein wird zu einer Bühne, auf der Menschen, Gegenstände, Ideen und er selbst auftreten. Da sind Mike, der gescheiterte Revolutionär, Eric, der dumpfe, sexsüchtige Nihilist, Irina, die Russin, die ihre besten Jahre schon hinter sich hat und der merkwürdige Finn. Der Namenlose, eine anorganische Wesenheit, agiert unsichtbar aus dem Hintergrund, wie ein geheimnisvoller Regisseur und gibt dem Abend eine unerwartete Wendung. In den frühen Morgenstunden irrt Zett alleine durch die Stadt, ein blutiges Etwas in einer Tasche seiner alten Windjacke.
Thomas W. M. Hecht wurde Ende der 50er Jahre in einer Arbeiterwohnung neben einem Schrottplatz geboren. Er besuchte eine Brennpunktschule, zog, kaum volljährig, in eine Wohngemeinschaft, die die Politik des Gemeinschaftseigentums und der offenen Türen praktizierte. Er übte eine Reihe mehr oder weniger kurioser Berufe aus, war, beispielsweise, Schlosser, Dreher, Paketbote, bearbeitete Beschwerden von Briefmarkensammlern und hat sogar schon einmal In einem Kühlhaus Tiefkühlhähnchen sortiert. Verschiedene Reisen erweiterteten seinen Horizont: Er besuchte geheimnisumwitterte Klöster in den Vorgebirgen des Himalaya, reiste nach Russland und in die Türkei und lernte Wien, Graz und Zürich kennen. Er wohnt heute zusammen mit seiner langjährigen Lebensgefährtin in Mannheim.
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I
Für eine Weile hatte Zett an nichts Bestimmtes gedacht, dann aber glaubte er, etwas zu hören, das in seine Zuständigkeit fiel. Er sah in ein von Kälte gerötetes Gesicht. Das Mädchen sagte: Das wird ihr Leben verändern. Zett dachte: Das ist eine Situation, die sich so oder so entwickeln kann. Das Mädchen fuhr fort: Es wird nicht nur ihr bisheriges Leben verändern. Sie können ein neuer Mensch werden. Zett sah auf den bunten Flyer, der ihm hingehalten wurde und erkannte naiv gezeichnete Dinosaurier. Um ihn herum warteten Menschen an einer Haltestelle. Er nahm den Prospekt, nickte dem Mädchen freundlich zu und stieg in die Bahn, die gerade angehalten und die Türen geöffnet hatte. Es war klug von ihm, sich dem Gespräch zu entziehen. Man weiß ja nie, wie so etwas weiter geht. Für kurze Zeit erschien es ihm auf eine diffuse Weise unklar, ob er in der Bahn noch etwas anderes wollte. Aber er nahm grundsätzlich einen geregelten Ablauf an und orientierte sich. Manchmal, sagte Zett, denke ich wie ein Buchhalter. Ich registriere die Dinge. So nahm er, beispielsweise, zur Kenntnis, dass Schmutz und Nässe auf dem Boden der Bahn zu den Türen hin zunahmen und dass der Bodenbelag fast schwarz war. Er hob den Blick und sah durch eine beschlagene Scheibe. Es war fast schon dunkel und etwas neblig. Erleuchtete Schaufensterscheiben erschienen. Um Straßenlaternen bildeten sich Lichthöfe. Der Faltenbalg des Gelenkzuges zog kurz die Aufmerksamkeit Zetts auf sich. Das hatte ihn schon als Kind fasziniert. Fast hatte er das Gefühl, sich unerwartet in einer Situation wiederzufinden, die plötzlich aufgetaucht war, aber dann wurde ihm klar, dass das alles eine Vorgeschichte hatte. Und es wäre ja merkwürdig, sagte Zett, wenn das nicht so wäre. Ich fahre mit der Straßenbahn. Das ist banal. Und darüber hinaus ist es mein gutes Recht. Es ist die Linie Sechs. Sie fährt über Hauptbahnhof und Theater, irgendwo hin, in die äußeren Stadtteile, vielleicht auch in ein Industriegebiet. Dafür muss ich mich nicht rechtfertigen. An der nächsten Haltestelle öffnete sich die Tür, durch die Zett eingestiegen war. Kalte Luft kam herein und er fröstelte. Er dachte kurz daran, wie er sich einmal im Winter in einem Park verirrt hatte. Wann war das. Die Bahn fuhr weiter. Zett trug eine leichte, unmoderne Windjacke, fast von derselben Farbe wie der Bodenbelag der Bahn. Ich bin ja eher eine unauffällige Erscheinung, sagte Zett, so einer, den man übersieht. Die weiteren Passagiere waren normale Berufstätige, wie der Uhrzeit nach zu erwarten war. Manche waren aber auch alt und gebrechlich. Ein Mann zitterte und Zett nahm das wahr, in der Art, dass die Dinge so sind, wie sie sind, nicht im gedanklichen Vergleich mit einem, wie auch immer gearteten Ideal. Jeder Gegenstand, sagte Zett und auch jeder Mensch existiert auf seine Weise. Das gilt für die Schraube hier, die in den Fensterrahmen der Bahn gedreht ist, genauso, wie für die Schuhe des Mannes, der mir gegenüber sitzt. Seiner Natur nach, die eher beschaulich, als analytisch war, tauchte in ihm kurz und wenig präzise die Vorstellung auf, dass Menschen und Gegenstände gleichermaßen wie kleine Schauspieler auf eine Bühne traten. Er betrachtete nun die anderen Fahrgäste, insbesondere den zitternden Mann, dann eine neu zugestiegene Familie, ein Paar um die Vierzig, zwei Mädchen von vielleicht dreizehn und fünfzehn Jahren, alle ärmlich gekleidet. Auch Zett gab für Kleidung nur wenig Geld aus. Er dachte: Eigentlich habe ich fast jeden Tag die gleiche Jacke an. Für einen Moment sah er seine Reflexion im Glas: ein Mann von schwer zu schätzendem Alter, näher an den Fünfzig als an den Vierzig, eher mager denn athletisch. Die neu zugestiegene Familie war kaum noch zu sehen, sie hatten sich in einiger Entfernung niedergelassen. Eines der Mädchen stand noch. Sie sehen sich alle ähnlich, dachte Zett. Und: es ist nicht sicher, dass sie ein Elternpaar mit Kindern sind. Alle schienen sie leicht übergewichtig, mit runden Gesichtern, ihr Umgang miteinander war freundlich. Die Bahn hielt an einer Ampel. Parallel dazu hielt der Straßenverkehr. Zett sah durch die beschlagene Scheibe. Die Autos waren überwiegend schwarz und schienen beinahe organisch Teil ihrer nassen, kalten Umwelt zu sein. Eine Welt, fast ohne Farben. Nur der bunte Prospekt, den ihm das Mädchen an der Haltestelle gegeben hatte entzog sich dieser Gesetzmäßigkeit. Neugierig betrachtete er das bedruckte Papier. Eine Sekte, war seine erste Vermutung. Von Jesus war die Rede, von Dinosauriern und von Erlösung. Er versuchte sich an das Mädchen zu erinnern. Eine junge Frau, mit Mütze und Schal. Das was man vom Gesicht sehen konnte, rot von der Kälte. Wie kommt ein Mensch dazu, an einer Haltestelle religiöse Schriften zu verteilen. Mir fällt dazu nichts ein, sagte Zett, allerdings habe ich, wenn ich das an dieser Stelle sagen darf, auch nicht gerade viel Fantasie. Ich bin kein kreativer Mensch. Wohin sollte das auch führen. Er dachte kurz an einen Bekannten, der sich gerne zu Menschen in Straßencafés oder anderen Orten Geschichten ausdachte. Aber Geschichten gibt es doch genug. Des Bücherschreibens ist kein Ende. Woher dieser Bibelspruch. Wann war er das letzte Mal in einem Gottesdienst. Ein Tumult unterbrach seine Gedanken. Zett konnte nicht sofort feststellen, was los war. Schon seit einigen Minuten war es laut geworden. Es schien, dass ein Geisteskranker mit anderen Passagieren der Bahn in Streit geraten war. Vielleicht, überlegte sich Zett, ist der Begriff geisteskrank hier vorschnell verwandt. Der Mann war stark erregt. Das kann aber, aus welchen Gründen auch immer, eigentlich jedem passieren. Zett beobachtete. Da er aber den Streit nicht genau verstehen konnte, verlor er das Interesse. Ich neige nicht zu Ängsten, dachte er für sich. Es folgte eine Zeitspanne schwer zu schätzender Länge in der sich der Fokus der Gedanken bei Zett auflöste, in der er in einem gewissen Sinn nichts dachte, was er mit Worten hätte ausdrücken können. Danach tauchten Objekte und Bilder wieder auf. Sein Gesicht entstand wieder als Reflexion im Glas. Ein Objekt, das er in seinen Gedanken nicht in Worte formulierte. Er vertiefte sich darin und erkannte schließlich, dass es nicht sein Gesicht war, sondern das eines Mitfahrers. Vom Winkel unter dem er das Bild betrachtet hatte, war das verständlich und er war einen Augenblick nicht wachsam gewesen, was auch vorkommen kann, aber doch gab es ihm einen Stich, dass er sich hier getäuscht hatte. Er widerstand der Versuchung sich zur Scheibe umzudrehen um seinem Spiegelbild ins Gesicht zu sehen. Er hielt noch immer den Zettel in der Hand, den ihm die Frau an der Haltestelle gegeben hatte. Mit wenigen Worten wurden Himmel und Hölle, Erlösung und Verdammnis abgehandelt. Die Religion als Rechtfertigung oder gar Verpflichtung zum Leben. Das setzte schon einiges voraus, neben den abstrakten Begriffen von Gut und Böse auch die Unwandelbarkeit und Individualität der Person. Wenn einer schlafen geht und als ein anderer aufwacht, dann hätte das alles keinen Sinn. Die Dinosaurier standen für einen Trick Satans, den Menschen glauben zu machen, die Welt wäre älter als achttausend Jahre. Das sind alles sehr weit reichende Gedanken, dachte Zett. Auch war nicht klar, wie aus einer Abstraktion des Bösen der Teufel als Person entstehen konnte. Er betrachtete den Fensterrahmen der Straßenbahn. Diese kleine Schraube, dachte er, klammert sich schon von ihrer Form her an ihre Existenz. Sie sitzt sehr fest an der Oberfläche der Erscheinungen und weigert sich, wieder darunter zu verschwinden in das Ungewisse. Man hätte mit Gewalt gegen sie vorgehen müssen, um ihr diesen Triumph, diesen festen Platz zu nehmen. Auch der Teufel hatte in einem gewissen Sinn einen festen Platz in der Welt. Man hat sofort ein Bild vor Augen, dachte Zett, wenn man das Wort sagt. Der Teufel war eine Art aufrecht gehender Ziegenbock mit höhnischer Fratze und Hörnern. Gott kann man sich weniger gut vorstellen, führte er den Gedanken weiter. Er schien ein Geist und weit weg und nur wenig greifbar. Für einen kurzen Moment tauchte die Vorstellung der Welt als Gottes Schöpfung in Zetts Gedanken auf, aber dieses Bild hatte wenig Substanz für ihn. Diese nasse, kalte Welt, der Straßenbahnwagen, die Menschen darin. Dies alles schien aus sich selbst heraus zur Existenz gekommen, aus einem tieferen Urgrund heraus, in einem Akt, in dem sich das Formlose formt, nicht als Schöpfung aus dem Nichts. Eher dem Nichts als dem Sein verwandt, bedurfte es den Akt der Schöpfung nicht. Zett wurde schwindlig. Obwohl er auf einem der Sitze der Bahn saß, griff er nach einer Haltestange. Er fühlte Schmerzen in seinem rechten Fuß. Der Schmerz war schon die ganze Zeit da gewesen, aber er nahm ihn erst jetzt zur Kenntnis. Der Schmerz verband ihn mit der Wirklichkeit. Es fühlte sich an, als wäre ein Nagel durch seinen Fuß geschlagen worden. Zett überlegte, wo er sich eine solche Verletzung zugezogen haben könnte, aber es fiel ihm nichts dazu ein. Wäre er wirklich in ein Brett mit einem rostigen Nagel getreten, hätte er es in diesem Augenblick merken müssen. Zett beschloss, bei der nächsten sich bietenden...




