E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Heicker Weltgeschichte der Queerness
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8393-0179-1
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8393-0179-1
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dino Heicker, geboren 1965, ist Autor und Verlagslektor. Seit 2005 arbeitet der promovierte Literaturhistoriker auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter für LGBTIQ*-Projekte und für das britische National Holocaust Centre and Museum. Er verfasste zahlreiche Bücher, etwa über Francis Bacon, Édouard Manet, Hermann von Pückler-Muskau oder den Maler und Fotografen Wols, und ist Herausgeber des Briefwechsels von Paul Cézanne und Émile Zola. Er lebt in Berlin.
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EINS, ZWEI, DREI …
Olympiade in Paris Sommer 2024: Die algerische Boxerin Imane Khelif verfügt über große Schlagkraft. Als sie gegen die Italienerin Angela Carini antritt, wird der Kampf nach nur 46 Sekunden beendet, als Carini über Schmerzen in der Nase klagt. Alice Schwarzer, verdiente Feministin der zweiten Welle der Frauenbewegung, ist empört und hält den Kampf für unfair, denn wegen eines erhöhten Testosteronspiegels im Blut war der Sportlerin bereits 2023 vorgeworfen worden, über XY-Chromosomen zu verfügen. Die Neue Osnabrücker Zeitung lässt Schwarzer wissen: »Es ist natürlich grotesk zu behaupten, ein als Mann geborener Mensch könne durch Hormone und Operationen einen Körper wie eine Frau haben. Was auch mit diesem tragischen Boxkampf bewiesen wurde.« Später entschuldigte Schwarzer sich in der von ihr publizierten Zeitschrift EMMA bei der von Geburt an als Mädchen erzogenen Boxerin, beharrte jedoch darauf, »Imanes Körper« habe »sich männlich entwickelt, sehr männlich.« Doch eigentlich meint sie wohl, dass der Körper der algerischen Goldmedaillengewinnerin große Kraft entwickelt hat, was für Schwarzer gleichbedeutend mit Männlichkeit zu sein scheint. Aber wird man als Mann geboren? Der Evolutionsbiologe Diethart Tautz hält in der Berliner Zeitung dagegen: »Auch wer ein Y-Chromosom hat, kann eine Frau sein, nämlich dann, wenn der auf dem Y-Chromosom kodierte Auslösemechanismus für die Umsteuerung zum Mann aus irgendeinem Grund nicht funktioniert.« Bereits 1978/80 hatte der französische Philosoph Michel Foucault das »wahre Geschlecht« als Konstrukt entlarvt, dennoch sei »die Vorstellung, daß man am Ende doch ein wahres Geschlecht haben müsse, bei weitem nicht ausgeräumt. Was immer die Biologen in diesem Punkt sagen: man findet nicht nur in der Psychiatrie, der Psychoanalyse, der Psychologie, sondern auch in der öffentlichen Meinung zumindest unklar die Vorstellung, daß zwischen Geschlecht und Wahrheit komplexe, dunkle und wesentliche Beziehungen bestehen.«
Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Medizin mit der Beobachtung der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle die biologischen Grundlagen für die Fortpflanzung erkannt, was Sexualtrieb und Biologie ein Stück weit voneinander trennte und Sexualität und Geschlecht nicht mehr nur als biologische, sondern auch als kulturelle Phänomene fassbar werden ließ. Bereits ab 1864 hatte der deutsche Jurist und frühe Erforscher der mannmännlichen Liebe, Karl Heinrich Ulrichs, in die Diskussion um die Geschlechtsidentität eingegriffen und die Vorstellung entwickelt, gleichgeschlechtlich liebende Männer (von ihm Urninge getauft) bildeten »eine zwitterähnliche besondere geschlechtliche Menschenclasse, ein eigenes Geschlecht, dem Geschlecht der Männer und dem der Weiber als drittes Geschlecht coordinirt«. Vier Jahre später entwickelte er die Denkfigur der »Anima muliebris virili corpore inclusa« – der im männlichen Körper eingeschlossenen weiblichen Seele – sowie der »anima virilis muliebri corpore inclusa« – der im weiblichen Körper eingeschlossenen männlichen Seele. Ulrichs unterschied mit dem »Mannling« (Homosexueller mit maskulinem Phänotypus) und dem »Weibling« (Homosexueller mit femininem Phänotypus) »zwei Hauptclassen der Urninge, zwischen denen es dann eine ganz regelmäßige Reihenfolge von Zwischenstufen« gebe.
Erste Ausgabe der von Karl Heinrich Ulrichs projektierten Zeitschrift Uranus, 1870.
Sigmund Freud, der selbst von der grundsätzlichen Bisexualität von Menschen und einer immer auch möglichen homosexuellen Objektwahl ausging, kritisierte den Ansatz von Ulrichs, den er irrtümlicherweise dem jüdischen Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld zuschrieb, und verschob den Akzent vom Leib auf den Geist: »Die Bisexualitätslehre ist in ihrer rohesten Form von einem Wortführer der männlichen Invertierten ausgesprochen worden: weibliches Gehirn im männlichen Körper. […] Der Ersatz des psychologischen Problems durch das anatomische ist ebenso müßig wie unberechtigt.« Solcherart zum Hirngespinst erklärt, spukte eine stärkere gegengeschlechtliche Ausprägung männlicher wie weiblicher Homosexueller dennoch weiter durch die Köpfe. So in der auf Ulrichs zurückgreifenden Zwischenstufentheorie Hirschfelds, der Anfang des 20. Jahrhunderts von einer letztlich unendlichen Menge von Varianten auf einer Skala vom (theoretischen) echten Mann zum (theoretischen) Vollweib ausging. Und was die Sexualität anging, verfocht Hirschfeld ab 1896 die Ansicht, die »Mannigfaltigkeit der Geschlechtsneigungen« sei unermesslich. So gesehen war jeder Mensch seine eigene geschlechtlich-sexuelle Monade. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch erklärte 2017 im Anschluss an Hirschfeld folgerichtig: »Es gibt so viele Geschlechter, wie es Menschen gibt.«
Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die feministische Forschung eingeführte Differenzierung in biologisches Geschlecht (sex) und soziales Geschlecht (gender) sollte für größere Transparenz sorgen. Nun wurden einerseits bislang unter den Scheffel gestellte Geschlechtsvarianten deutlicher in den Blick gefasst und ebenso sexuelle Identitäten außerhalb der binären Struktur männlich – weiblich. Ließ die äußere Erscheinungsform keine Aussagen mehr über eine sexuelle Orientierung zu, dann waren Körper und Sexualitäten befreit von ihrer selbstverschuldeten Abhängigkeit. Oder, mit den Worten der deutschen Soziologin Sabine Hark: »Tatsächlich gibt es also weder einen Referenten (sex), der Geschlecht (gender) garantiert, noch einen (Geschlecht des sexuellen Objekts), der sexuelle Identität garantiert.«
Ebenso wie im Deutschland der 1970er Jahre der zuvor pejorativ auf gleichgeschlechtlich liebende Menschen angewandte Begriff »schwul« von den derart Diffamierten angenommen und mit positiver Bedeutung versehen wurde, war im US-amerikanischen Kulturraum in den 1980/90er Jahren der Begriff »queer« seiner homophoben Konnotation entkleidet und zur bewussten Selbstbezeichnung verwendet worden. Sonderbar, so eine der Übersetzungen von queer, waren Männer und Frauen, die alleine lebten, weil sie ihre sexuelle Veranlagung aufgrund gesellschaftlicher Restriktionen nicht ausleben konnten, was ja auch in dem Substantiv »Sonderling« mitschwingt, der ehelos gebliebenen Männern im Deutschland des 19. Jahrhunderts gerne angehängt wurde.
Mit der Übernahme des Begriffs »queer« in den akademischen Diskurs zu Beginn der 1990er Jahre kristallisierten sich für die Queer-Theorie drei Kernelemente heraus, so die Theoretisierung von Sexualität, die Infragestellung einer vorgeblich natürlichen heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit als Naturtatsache sowie die Kritik am Identitätsbegriff. Queere Identitätskritik habe »Identität als ausschließendes und normierendes Regulationsregime enttarnt. Eine der wichtigsten Ausgangspositionen der Queer Theory ist folglich, dass Identitäten keine Konstanten sind, sondern das Resultat von Normierungen« (Heike Raab).
Bereits 1993 hatte der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Warner in seiner Einleitung zu dem Buch Fear of a Queer Planet geschrieben, queere Menschen betrieben eine Art praktische Gesellschaftsanalyse, indem sie Wege fänden, queer zu sein. In seinen Augen sollten Akademiker die Theorie selbst queer machen und nicht nur eine Theorie über queere Menschen aufstellen. Im Gegensatz zu den Homostudien oder Gay and Lesbian Studies, die nur Nabelschau betrieben, beanspruche die Queer-Theorie, so die italienisch-US-amerikanische Semiotikerin Teresa de Lauretis 1991, sich eben gerade nicht den bestehenden Dichotomien unterzuordnen, sondern unter ständiger kritischer Spiegelung des eigenen Diskurses Machtstrukturen zu dekonstruieren. Binäre Oppositionen wie männlich – weiblich, heterosexuell – homosexuell, Schwarz – weiß usw. wurden dekonstruiert und kritisch hinterfragt. Hark meinte in diesem Zusammenhang, die Queer-Theorie sei »keine Theorie im Sinne eines kohärenten wissenschaftlichen Lehrgebäudes«, es handele sich vielmehr um »eine politische und theoretisch-konzeptionelle Idee für eine kategoriale Rekonzeptualisierung von Geschlecht und Sexualität, mit der problematisch gewordene Identitätspolitiken überwunden werden sollen«.
2003 konnte der Studiengang Geschlechterforschung in Hamburg erstmals belegt werden. Der zu erlangende Abschluss wurde von der Zeitschrift Der Spiegel prompt als »Schwuchtel-Diplom« bezeichnet: »Queer ist also zunächst einmal ein Lebensstil, und zwar der einer Minderheit innerhalb einer Minderheit. Sind Queer Studies also nur etwas für Leute, die sich gern mit sich selbst beschäftigen, zumindest aber mit selbst gemachten Problemen, was in einigen Fällen auch dasselbe sein kann – ein Schwuchtel-Diplom, sozusagen?«
Von ihrem anfänglichen Drive hat die Queerness inzwischen einiges eingebüßt. Mehrheitsfähig scheint nun zu sein, was der deutsche Wikipedia-Eintrag zu »Queer« sagt. Demnach handele es sich um »eine Sammelbezeichnung für sexuelle Orientierungen, die nicht heterosexuell sind, für Geschlechtsidentitäten, die nichtbinär und nicht-cisgender sind, sowie Lebens- und Liebesformen, die nicht heteronormativ sind«. So weit der Commonsense, der wieder einmal eine Opposition zwischen queeren Sexualitäten einerseits und Heterosexualität anderseits postuliert, als wäre nicht längst schon erkannt worden, dass der »Dreh« (Calvin Thomas) gerade darin besteht, auch Letztere...




