Heidorn / Robinson / Brieber | Kim Stanley Robinson. Erzähler des Klimawandels | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Heidorn / Robinson / Brieber Kim Stanley Robinson. Erzähler des Klimawandels


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-949452-32-1
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-949452-32-1
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Durch Geschichten schaffen wir Bedeutung, also sind die Geschichten, die wir uns erzählen, wichtig." Kim Stanley Robinson

Mit "Das Ministerium für die Zukunft" von Kim Stanley Robinson erschien 2021 ein Roman, der wie kein anderer Fiktion und Realität zusammenbringt. Schon viele Jahre beschäftigt sich der Autor mit dem Klimawandel, ist mit seinen Science-Fiction-Szenarien so nah am Puls der Zeit wie kaum ein realistischer Roman und gibt seinen Leserinnen und Lesern mögliche Zukünfte und kreative, aber auch wissenschaftlich fundierte Ideen an die Hand, um das Beste für unsere Zukunft daraus zu ziehen.

Gemeinsam mit dem Klimahaus Bremerhaven und dem Autor Fritz Heidorn entstand die Idee zu einem abwechslungsreichen Porträt über den Erzähler des Klimawandels, das durch zehn exklusiv für dieses Buch ins Deutsche übertragene Kurzgeschichten ergänzt und durch einen Zustandsbericht über die Klimalage in Deutschland abgerundet wird.

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Das versunkene Venedig
von Kim Stanley Robinson
Als Carlo Tafur sich aus dem Schlaf hochgerappelt hatte, plärrte das Baby bereits laut, der Teekessel pfiff und der Geruch von Ofenrauch erfüllte die Luft. Kleine Wellen schwappten ein Stockwerk tiefer gegen die Wände. Der Morgen dämmerte gerade. Widerwillig befreite er sich aus seinen Laken und stand auf. Er tapste durch das andere Zimmer seines Zuhauses, ohne seine Frau und sein Kind zu beachten, und ging zur Tür hinaus aufs Dach. Bei Morgengrauen sieht Venedig immer am besten aus, dachte Carlo, während er in den Kanal pisste. Im blassvioletten Licht konnte man sich ausmalen, dass die Stadt noch immer so war wie seit jeher, dass schon bald an diesem schönen Sommermorgen Horden von Touristen den Grand Canal fluten würden … natürlich musste man über die behelfsmäßig zusammengezimmerten Hütten auf den Dächern in der Umgebung hinwegsehen, um sich dieser Phantasie hinzugeben. Um die Kirche herum – San Giacomo di Rialto – waren selbst die obersten Stockwerke aller Gebäude geflutet, weshalb man die Ziegeldächer hatte aufreißen und auf den Dachbalken Hütten hatte errichten müssen, die aus allerlei aus dem Wasser gefischten Material bestanden: Holz, Ziegel, Stein, Metall, Glas. Carlos Zuhause war eine dieser Hütten und bestand aus einem wilden Durcheinander von Holzbalken, Kirchenfensterglas von der San Giacometta und platt gehämmerten Abflussrohren. Er warf einen Blick darauf und seufzte. Am besten war es, den Blick über den Rialto in die Ferne schweifen zu lassen, wo die rote Sonne über den Kuppeln von San Marco loderte. »Du musst dich heute mit diesen Japanern treffen«, sagte Carlos Frau Luisa von drinnen. »Ich weiß.« Es kamen nach wie vor Besucher nach Venedig, so viel stand fest. »Und beleidige sie nicht und rudere dann weg, bevor du bezahlt worden bist«, fuhr sie deutlich vernehmbar fort. »Wie bei diesen Ungarn. Es ist völlig egal, was sie sich von unter Wasser holen, weißt du. Das ist die Vergangenheit. Dort unten hat eh keiner was von dem alten Zeug.« »Halt die Klappe«, sagt er müde. »Ich weiß.« »Ich muss Ofenholz und Gemüse und Toilettenpapier und Socken für das Baby kaufen«, sagte sie. »Die Japaner sind deine besten Kunden; behandele sie lieber gut.« Carlo trat zurück in den Schuppen und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Zwischen einem Stiefel und dem anderen hielt er inne, um eine Zigarette zu rauchen, die letzte, die sie da hatten. Während er rauchte, starrte er seine Bücherstapel auf dem Boden an, seine Bibliothek, wie Luisa sie sardonisch nannte; alles Bücher über Venedig. Sie waren zerfleddert, eselsohrig, angeschimmelt und von der Feuchtigkeit so verzogen, dass kein einziges sich mehr richtig zuklappen ließ. Jede einzelne schimmelige Seite war so wellig wie die Lagune an einem windigen Tag. Sie boten einen jämmerlichen Anblick, und Carlo versetzte dem nächsten Stapel einen leichten Tritt mit seinem kalten Stiefel, als er ins andere Zimmer zurückkehrte. »Ich geh dann mal«, sagte er und gab erst seinem Baby und dann Luisa einen Kuss. »Ich komme spät nach Hause – sie wollen nach Torcello.« »Was wollen die denn da?« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollen sie es bloß mal sehen.« Er zog den Kopf ein und trat durch die Tür nach draußen. Unter dem Dach gab es einen kleinen, rechteckigen Bereich, in dem die Boote aus der Nachbarschaft festgebunden waren. Carlo ließ sich von den Kacheln auf den schmalen Schwimmsteg rutschen, den er und seine Nachbarn zusammen gebaut hatten, und ging zu seinem breiten Segelboot mit dem Segeltuchverdeck. Er trat hinein, knotete es los und ruderte es aus auf den Grand Canal hinaus. Sobald er auf dem Kanal war, nahm er die Ruder aus dem Wasser und ließ das Boot stromabwärts treiben. Der große Kanal folgte seit jeher dem natürlichen Verlauf der Wasserstraße zwischen den Wattebenen der Lagune hindurch. Für eine Weile hatte man ihn gezähmt, aber nun war er wieder ein Fluss, dessen Ufer aus Ziegeldächern und Steinpalästen bestanden, mit Hunderten von Zuflüssen. Im frühen Morgenlicht arbeiteten die Leute auf ihren Dachhäusern. Die, die Carlo kannten, winkten ihm mit Hammer oder Seil in der Hand, und riefen Hallo. Carlo hob der Form halber ein Ruder in ihre Richtung, bevor die Strömung ihn weitertrug. Es war leichtsinnig, so nah am großen Kanal zu bauen, dessen Strömung inzwischen stark genug war, um die alten Gebäude umzureißen, was sie oft genug auch tat. Aber das mussten die Leute mit sich selbst ausmachen. Genaugenommen waren sie alle hier in Venedig leichtsinnige Narren. Dann war er im Becken von San Marco und ruderte hinüber, zur Piazetta hinter dem Dogenpalast, der auch mit zwei Stockwerken noch imposant war, und auf die Piazza. Wie üblich herrschte reger Verkehr. Es war der einzige Ort in Venedig, an dem noch wie früher die Massen zusammenströmten, und Carlo mochte ihn eben deshalb, obwohl er ebenso laut fluchte wie alle anderen auch, wenn die Gondeln vor ihm vorbeizogen. Er bahnte sich einen Weg zum Fenster der Basilika und ruderte hinein. Unter dem blaugoldenen Glanz der Kuppeln war es laut. Der Großteil der Wasserfläche in den Innenräumen war von einem Schwimmdock bedeckt. Carlo machte daran fest, hievte seine vier Tauchflaschen aus dem Boot und kletterte dann selbst hinterher. Mit zwei Flaschen in jeder Hand überquerte er das Dock, auf dem der Fischmarkt gerade in vollem Gange war. Es wurden Paletten voller Meeräschen, Lagunenhaie, Thunfische, Rochen und Plattfische angeboten. Auf Tabletts häuften sich Muscheln, deren Schalen im Sonnenlicht glänzten, das durch das bunt verglaste Ostfenster fiel. Männer und Frauen zogen lebende Krebse aus Löchern im Dock und setzen dabei in den mit Beute vollgestopften Fallen darunter ihre Finger aus Spiel; Oktopusse färbten ihre Wassereimer dunkel, Schwämme schwitzen Schaum; Fischer brüllten Preise und stellten lautstark die Frische der Produkte ihrer Nachbarn infrage. Inmitten des Fischmarkts hatte Ludovico Salerno, einer von Carlos besten Freunden, seinen Stand mit Tauchausrüstung. Carlos zwei japanische Kunden warteten dort. Er begrüßte sie und reichte seine Tauchflaschen Salerno, der sich daran machte, sie aus seiner Maschine aufzufüllen. Sie sprachen in schnellem, saloppem Italienisch miteinander, während die Flaschen sich füllten. Als sie fertig waren, bezahlte Carlo und führte die Japaner zurück zu seinem Boot. Sie stiegen ein und verstauten ihre Rucksäcke unter der Segeltuchplane, während Carlo die Tauchflaschen an Bord zog. »Wir sind bereit bei Torcello zu reisen?«, fragte einer, und der andere lächelte und wiederholte die Frage. Sie hießen Hamada und Taku. Sie hatten ein paar Witze darüber gemacht, dass der Name von letzterem so ähnlich wie der von Carlo klang, aber Taku war derjenige, der weniger Italienisch sprach, weshalb die geistreiche Unterhaltung schnell ein Ende fand. Sie hatten ihn vor vier Tagen an Salernos Stand angeheuert. »Ja«, sagte Carlo. Er ruderte von der Piazza hinunter und durch Seitenkanäle vorbei am Campo Santa Maria Formosa, der fast so voll wie die Piazza war. Dahinter waren die Kanäle leer, und nur dann und wann störte ein Dachhaus das Bild überfluteter Ruhe. »Dieser Teil der Stadt Venedig hier nicht viele Menschen leben«, bemerkte Hamada. »Nicht Häuser auf Häuser.« »Das ist wahr«, antwortete Carlo. Als er an San Zanipolo und dem Krankenhaus vorbei ruderte, erklärte er: »Wir sind hier zu nah am Krankenhaus, wo zu viele Erreger aufbewahrt wurden. Krankheiten, Sie wissen schon.« »Ah, das Krankenhaus!« Hamada nickte, und Taku tat es ihm nach. »Wir sind bei Venedigreise vor dieser hier in Krankenhaus geschwommen. Bergen viele schöne Statuen aus den untersten Zimmern.« »Steinlöwen«, fügte Taku hinzu. »Viele Steinlöwen mit Flügeln in Zimmern unter Zwanzig-Vierzig-Wasserlinie.« »Na so was«, sagte Carlo. Steinlöwen, dachte er, aufgestellt am Eingang zum teuren Eigenheim irgendeines japanischen Geschäftsmanns auf der anderen Seite der Welt. Er versuchte, sich abzulenken, indem er die wunderbar gesunden, maskenhaften Gesichter seiner beiden Passagiere betrachtete, die über die geteilte Erinnerung lachten. Dann waren sie über den Fondamente Nuove, den Nordrand der Stadt hinaus, und in der Lagune. Von Norden kam leichter Wellengang. Carlo ruderte ein bisschen nach draußen und stand dann auf, um das eine Segel des Bootes zu hissen. Der Wind kam von Osten, sie würden also bald in Torcello sein. Hinter ihnen bot Venedig in der Morgensonne einen wunderschönen Anblick, als wären sie kilometerweit von der Stadt entfernt, sodass ein Horizont aus Wasser ihnen teilweise die...


Dr. Fritz Heidorn (*1952), hat sich beruflich vor allem der Umweltbildung und der nachhaltigen Entwicklung gewidmet. Seit 2007 schreibt Fritz Heidorn Essays, Literaturkritiken und Bücher zu Zukunftsthemen. Zuletzt erschienen seine Essaybände "Kurz vor ewig. Kosmologie und Science-Fiction" (2016), "Demnächst oder Nie – Reisen zu fremden Welten" (2018) und "Arthur C. Clarke – Jenseits des Möglichen" (2019) im Verlag Dieter von Reeken. Zudem veröffentlichte er in DAS SCIENCE FICTION JAHR, in dem Magazin QUARBER MERKUR sowie auf den Webseiten zukunftskulturen.de, www.klimafakten.de und auf dem Blog des Klimahauses Bremerhaven: blogachtgradost.de

Kim Stanley Robinson (*1952) studierte Literatur an der University of California in San Diego und promovierte über die Romane von Philip K. Dick. Seine ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten veröffentlichte er Mitte der Siebzigerjahre, 1984 folgte sein erster Roman. Der literarische Durchbruch gelang ihm 1992 mit der MARS-Trilogie, die ihn weltberühmt machte und für die er mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet wurde. Ein zentrales Thema in seinem Werk ist der Klimawandel. Mit "Das Ministerium für die Zukunft" erschien 2021 eine Utopie, die laut Barack Obama "eines der wichtigsten Bücher des Jahres" darstellt. Kim Stanley Robinson lebt mit seiner Familie in Davis, Kalifornien.



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