E-Book, Deutsch, 330 Seiten
Heimbach Die Rote Hand
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-293-31100-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 330 Seiten
ISBN: 978-3-293-31100-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Arnolt Streich ist nicht gerade ein Menschenfreund. Vom Wirtschaftswunder vergessen, verbringt der ehemalige Fremdenlegionär seine Tage als Wachmann über ein paar schäbige, von zwielichtigen Typen gemietete Garagen in einer zugigen Wohnung, raucht eine Morris nach der anderen und flüchtet sich in die tröstliche Stimme von Édith Piaf.
Beim täglichen Bier um die Ecke erfährt er von einem tödlichen Anschlag mitten in der Stadt. Das Opfer: Georg Puchert, ein Waffenhändler, der die algerische Befreiungsfront FNL im Kampf um die Unabhängigkeit mit Waffen versorgt hat. Gleichzeitig beginnen düstere Gestalten, nach Streich zu fragen. Der kann die Machenschaften hinter den verschlossenen Garagentoren nicht länger ignorieren und stößt auf Vorgänge, die besser im Verborgenen geblieben wären.
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Routine
Arnolt Streich stand am Fenster und blickte durch das feucht-matte Glas in die Dämmerung. Die provisorisch an den Wänden befestigten Laternen tauchten die Ansammlung heruntergekommener Garagen und Lagerhallen in ein diffuses Licht. In den Pfützen, die sich nach den Regengüssen der vergangenen Tage in den Vertiefungen der Schotterwege gebildet hatten, brachen sich die Lichtstrahlen und tanzten unruhig auf der vom Wind bewegten Wasseroberfläche. Gerade hatte er seinen letzten Rundgang für diesen Tag abgeschlossen und alle Türen und Tore des ehemaligen Tankstellengeländes kontrolliert, das nach dem Krieg mehr und mehr verfallen war und nun ein trostloses Bild abgab. Nicht mehr lange nach den Plänen von Karlheinz Bommel, der das ganze Areal erworben hatte, um hier Wohnungen zu errichten. Noch allerdings fehlte ihm das nötige Geld, deshalb hatte er einen der Lagerräume an eine Tischlerei vermietet und in zwei oder drei der Garagen waren Autos untergestellt, der Rest war schon so marode, dass sie kaum mehr genutzt werden konnten. Streich blickte auf den Abrisskalender neben dem Fenster. Er zeigte den 4. März 1959 an, und der war verlaufen wie die meisten Tage in dem einen Jahr, seit er wieder in Deutschland lebte und dieses Gelände als Hausmeister und Wachmann für Bommel beaufsichtigte, der ihn dafür mehr schlecht als recht entlohnte und in der feuchten, zugigen Wohnung über der kleinen Halle neben der Einfahrt wohnen ließ. Kontrollgänge, Leibesübungen, der Gang zum Wasserhäuschen. Mehr war nicht. Der Kalenderspruch unter dem Datum klang für Streich wie Hohn: »Glücklich ist, wer nicht vergisst, was durchaus zu ändern ist.« Anfangs hatte er das Gelände noch erkundet, hatte Karten angelegt, darauf die Räumlichkeiten verzeichnet, ein Zeitvertreib, mehr nicht, dennoch hatte Bommel ungehalten reagiert, als er davon Wind bekommen hatte, und ihn angeschnauzt, dass er ihn fürs Kontrollieren und nicht für so eine Kleckserei bezahle. Streich riss das Blatt vom Kalender, zerknüllte das Papier in seiner Faust und warf es hinter sich, um gleich darauf wieder seine alte Haltung einzunehmen. Gerade und aufrecht am Fenster, den Blick nach draußen gerichtet, die kantigen Gesichtszüge starr, nur seine Augen wanderten aufmerksam hin und her. Lärm von Kindern, die verbotenerweise zwischen den Garagen spielten, drang zu ihm herauf. Sie mussten in den letzten Minuten gekommen sein, bei seinem Rundgang hatte er sie nicht gesehen. Ihr Geschrei übertönte die Kratzgeräusche der Nadel, die in der Auslaufrille der Schallplatte ihre endlosen Runden drehte. Arbeit und Wohnung verdankte Streich einem früheren Kameraden, der den Kontakt zu Bommel hergestellt hatte. Die Arbeit war nicht die, die Streich sich erhofft hatte, und Bommel kein Mensch, für den er Sympathie empfand, doch schon beim Grenzübertritt an einem kalten Aprilmontag im letzten Jahr hatte man ihn deutlich spüren lassen, dass auf einen wie ihn niemand wartete. Trotz Wirtschaftswunder und Wir-sind-wieder-wer war offenbar niemand bereit, ihm ordentliche und anständig bezahlte Arbeit zu geben. Er hatte den Kameraden, die ihm genau das vorausgesagt hatten, nicht geglaubt. Oder nicht glauben wollen. Streich löste sich aus seiner Starre und ging zur Spüle, wo er in ein schon benutztes Glas den Rest aus der Wermutflasche füllte und ihn mit einem Schluck hinunterkippte. Auf dem Rückweg zum Fenster legte er die Nadel an den Anfang der Platte. Eine Bewegung, schon Hunderte, Tausende Mal durchgeführt. Er besaß nur diese eine Platte, brauchte keine andere. Eigentlich nur dieses eine Lied, das letzte darauf. Die getragenen Akkorde, dann die Stimme von Édith Piaf. Zart und rau zugleich. Er kannte jede Zeile, jeden Buchstaben, jeden Hauch. Verstand das Begehren in ihrer Stimme so gut. Il avait de grands yeux très clairs Où parfois passaient des éclairs Comme au ciel passent des orages. Il était plein de tatouages Que j’ai jamais très bien compris. Son cou portait: »Pas vu, pas pris.« Sur son cœur on lisait: »Personne.« Sur son bras droit un mot: »Raisonne«. Gedankenverloren hörte er eine Weile zu, trat dann wieder ans Fenster. Der Kinderlärm war nun gedämpft, ein Rauschen unter der Musik. Er wartete. Auf Bommel. Sein Geld. Er hatte versprochen, an diesem Abend zu kommen, um ihm den noch ausstehenden Lohn zu bringen. Streich schloss seine Augen, lauschte der Musik, bis die Bilder kamen, wie immer am ersten Mittwoch im Monat. Ein Ritual wie eine Beichte oder die Bitte um Nachsicht für den Verrat … Er ballte seine Fäuste. Die schweren Schritte, die sich die Treppe hinaufbewegten, verrieten ihn. Bommel, der sich mühsam nach oben keuchte. Ohne hinzuschauen, fingerte Streich eine Morris aus der Zigarettenschachtel auf dem morschen Fensterbrett, steckte sie an, inhalierte tief und blickte weiter auf den Hof. Lauschte, zählte … vier, fünf, sechs … bis eine Faust gegen die Holztür krachte. »Streich, mach auf!«, dröhnte von draußen eine herrische Stimme. Er wartete, zählte weiter … sieben, acht, neun, zehn … Es klopfte erneut, zwei Schläge … elf, zwölf, dreizehn … Streich nahm noch einen Zug, drückte die angerauchte Zigarette auf der Fensterbank aus. Während Édith Piaf unbeeindruckt weitersang, J’rêvais pourtant que le destin Me ramèn’rait un beau matin drehte sich Streich um, war mit wenigen Schritten an der Tür, riss sie auf. Der Mann draußen stand mit erhobener Faust vor ihm. »Was soll das, Streich!«, blaffte Bommel, schwer atmend, irritiert durch die Musik. Inzwischen einhundertdreißig, schätzte Streich. Bei jeder Begegnung kam es ihm vor, als ob der Mann mindestens ein Kilo zugelegt hätte. Wirtschaftswunder, so sah das also aus. »Wirtschaftswunder«, die Kameraden hatten dieses Wort immer mit einer gewissen Ehrfurcht ausgesprochen. »Wenn wir erst wieder daheim sind« … Daheim, er lachte innerlich. »Hörst du nicht den Krach da unten? Wofür bezahle ich dich eigentlich? Und was ist das für ein Gekrächze? Franzackengejammer!« Bommel versuchte, an ihm vorbei ins Innere zu schauen. Streich blieb unbeweglich stehen, lauschte den letzten Worten der Piaf: Mon légionnaire! Y avait du soleil sur son front Qui mettait dans ses cheveux blonds De la … Bommel wagte nicht, in das langgezogene lumière und das Verklingen des letzten Tons hineinzusprechen. … lumière! »Wenn ich nicht zufällig vorbeigekommen wäre, könnten die Gören machen, was sie wollen. Die haben da nichts zu suchen. Und wenn was passiert …?!« Streich schwieg weiter. Einen wie Bommel regte so etwas mehr auf als jedes Wort. »Was ist, Streich, die Sprache verloren?« Statt einer Antwort streckte Streich seine rechte Hand aus. Bommel sah ihn erst verständnislos an, um dann aus der Außentasche seiner Jacke einen Briefumschlag zu ziehen. »Erst die Kinder da unten. Und das um die Uhrzeit. Haben die keine Eltern?!« Streich schüttelte sanft den Kopf. »Es ist der vierte März.« »Na und? Erst die …« Streichs Hand schoss vor und entriss Bommel den Umschlag. »He, was soll das?!« Ohne auf sein Gegenüber zu achten, öffnete Streich den Umschlag, nahm die Scheine heraus und zählte. Die Bewegungen seines linken Arms hatten dabei etwas Unbeholfenes. Bommel ließ ihn nicht aus den Augen. »Das reicht nicht.« »Wie?«, fragte der dicke Mann entrüstet. »Da fehlen zwanzig Mark.« »Hast eben nicht genügend gearbeitet. Wie jetzt!« Er deutete mit seinem Kopf auf das Fenster. Wie verabredet schrien die Kinder in diesem Moment besonders laut. Streich streckte seine freie Hand abermals vor, fixierte Bommel, der diesem Blick nur wenige Sekunden standhielt, aber keine Anstalten machte, ihm das geforderte Geld zu geben. »Ohne mich«, Bommel machte eine raumgreifende Armbewegung, »würdest du auf der Straße sitzen. Ich sage, was gemacht wird, sonst fliegst du hier raus. Es gibt genügend arme Schlucker, die sonst was dafür geben würden, deine Arbeit zu machen.« Überdeutlich sog er Luft ein. »Hast du schon wieder gesoffen? Nicht während der Arbeit, habe ich gesagt!« Streich machte einen kleinen Schritt auf Bommel zu, dem die Überlegung anzusehen war, ob Streich auf ihn losgehen würde. »Erst das Geld, dann gehe ich runter.« Bommel zögerte noch einige Sekunden, griff dann aber doch in seine Tasche und hielt Streich den geforderten Zwanzigmarkschein entgegen. Bedächtig steckte er ihn in den Umschlag zu dem anderen Geld, schob ihn in seine Hosentasche und nahm eine Jacke vom Haken neben der noch offen stehenden Wohnungstür. »Dann mal los!« Behäbig wuchtete Bommel seinen Körper um die eigene Achse, umfasste den Handlauf und wackelte langsam die Treppe hinunter. »Und kauf dir mal einen...