Helgason | 60 Kilo Sonnenschein | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Helgason 60 Kilo Sonnenschein


Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
ISBN: 978-3-608-12008-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-608-12008-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ausgezeichnet mit dem Isländischen Literaturpreis für den besten Roman des Jahres Das Erwachen der Moderne im tiefen Schnee Islands. Der große Roman von einem der originellsten Autoren des Landes. So schräg und humorvoll, wie man es von Hallgrímur Helgason kennt, so literarisch und episch wie nie. 60 Kilo Sonnenschein ist die Geschichte von Gestur, einem unehelichen Bauernsohn aus einer isländischen Siedlung am Fjord Segulfjörður. Während er bei immer neuen Ziehvätern heranwächst, schließlich selbst Vater wird, erwacht auch das moderne Island. Große Fischfänger steuern eines Tages den Hafen an, bringen Exotisches und Fremdes aus dem Umland und der weiten Welt. Mit den Waren kommen auch neue Werte, neue Moden und Gefühle ins kalte und tief verschneite Segulfjörður. Humorvoll, turbulent und mit unvergesslichen Figuren erzählt Hallgrímur Helgason vom Weg Islands in die Moderne. Stimmen zum Buch: »Die Figuren, die Helgason sich ausdenkt, sind eine Pracht. Seiner krachend absurden Phantasie verfällt man sofort.« Spiegel Online »Hier kriegt man diese gute alte Leselust. Man verliert sich ganz in der wunderbaren Welt der Fiktion. Ich hatte Tränen in den Augen.« Sigurður Valgeirsson, Kiljan - Isändische TV-Sendung »...für Schriftsteller scheint als Regel zu gelten: je langweiliger ihre Werke, desto spannender ihr Privatleben - wenn diese Sentenz stimmt, muss Hallgrímur Helgasons Privatleben sehr öde sein.« Stuttgarter Zeitung

Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er 1996 mit dem Roman 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfilmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2008) und Eine Frau bei 1000° (2011). Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands. Zuletzt sind von ihm bei Tropen erschienen: Seekrank in München (2015) und 60 Kilo Sonnenschein (2020).
Helgason 60 Kilo Sonnenschein jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Kapitel 4

Neunundneunzig Forellen


Eilífur kam erst spät, das Licht am Himmel ließ bereits nach, und die meisten anderen befanden sich schon auf dem Heimweg, es war ein Schneesturm im Anzug. Eine Einkaufstour stand aber noch aus; auf einer Bank gegenüber dem dänischen Ruderer, einem jungen, noch bartlosen Kerl mit krebsrotem Gesicht, hockte der einarmige Bauer auf Tvíhamar im Óðalsfjörður mit seiner ewigen Gewittermiene. Aus Ehrfurcht vor Kopp und Krone hielt er seine Kopfbedeckung trotz der Kälte in der Hand. Der Kaufmann stand noch am Ufer, als der große Mann mit seinem leeren Sack erschien.

»Stundarkot? Du hast bei mir nichts abgeliefert.«

»Nein, wir Segulfjorder liefern gewöhnlich an den Fanneyrihandel von Sigurður.«

»Was hast du dann hier verloren? In meinem område und meinem Schiff?«

»Dem guten Mann ist das Getreide ausgegangen. Das Treibeis!«

»Das ist mir ein armer Kaufmann, der sein Magazin leer werden lässt. Was soll das für ein Unternehmen sein?«

»Er sagt, auf Säcken schlafe er nicht besonders gut, der Sigurður.«

»Ach? So? Und was hast du heute für mich? Im Segulfjörður drucken sie ja nicht gerade Geld.«

»Ich dachte mir … hm, dreizehn Forellen für drei Kilo Weizen. Es ist ja Weihnachten, und die Frau …«

»Ah, Weihnachten und die Frau. Soso! Und wo sind die Forellen?«

»Im See zu Hause.«

»Aha. Und warum hast du sie nicht mitgebracht?«

»Na ja, er ist doch vereist, der See, knüppeldick zugefroren.«

»So? Und wann bekomme ich sie dann?«

»Im Frühling. Im Frühling kann ich sie abliefern.«

»Drei Kilo Weizen für dreizehn ungefangene Forellen? Ich verlange dreiunddreißig Forellen pro Kilo Weizen.«

Auf den letzten Worten rutschte der Kaufmann ein wenig aus, und Eilífur erkannte, wie auch andere Umstehende, dass der Rum des Schiffskapitäns Wirkung zeigte. In der Nähe stand der Pferdeknecht des Kaufmanns mit Hund und Pferden sowie zwei namenlosen menschlichen Schemen, und sie hörten das Gespräch mit an, ebenso wie zwei Bauern etwas weiter entfernt, die sich über ihre frisch gefüllten Säcke beugten und sich mit ihren Kötern für den Heimweg rüsteten.

»Neunund… Forellen?«, wiederholte Eilífur und spürte, wie sein Herz heiß wurde und siebzehn verschiedene Gedanken in seinen Blutkreislauf pumpte. Was konnte man dazu sagen?

»Jawohl, ni og halvfems ørreder!«

Eilífur betrachtete einen Moment das trunkene Gesicht des Kaufmanns, die kleine Nase, die großen Wangen, den gewichsten Schnurrbart, die eingesunkenen Augen unter dem glasharten Hut. Und plötzlich sah er vor sich, wie an einem schönen Frühlingsabend neunundneunzig Forellen aus dem Stundarvatn aufstiegen, durch den Fjord und über die Berge und eine weite Strecke durch die Luft schwebten, bis sie wie ein Kometenschweif über Fagureyri auftauchten, Kurs auf das Holzhaus von Kopp nahmen, dort in den Schornstein eingesaugt wurden, aus dem Herd herausflogen und geradewegs in die Diele marschierten (die führende Forelle fand gleich heraus, wo das Esszimmer lag), dort stellten sie sich im Licht der Deckenlampe in einer Reihe entlang des Esstischs auf, an dem Herr Kopp mit umgebundener Serviette und offenem Schlund saß. Dort hinein verschwanden sie mit großer Geschwindigkeit, eine nach der anderen. Neunundneunzig Mal musste der Kaufmann schlucken.

All das sah er vor sich. Nur sagen konnte er nichts. Und so standen sie voreinander, der langgliedrige, erschöpfte Bauer und das beträchtliche Gesäß. Aus dem einen stieg eine Atemfahne auf, der Rauch aus dem Schornstein einer menschlichen Maschine, aus dem anderen kam nichts, er schien aus massivem Holz geschnitzt zu sein. Wie war es möglich, dass das kleine Holzmännlein auf einen so hochgewachsenen Mann herabsah? Der große Zylinder reichte Eilífur gerade mal bis zu den Augen. So hatte der Bauer das kreisrunde Hutdach des Kaufmanns horizontal im Blick, und es glich nichts mehr als einem wunderschönen Fleckchen des Paradieses: Obwohl gerade Schneeflocken vom Himmel fielen, blieb keine von ihnen auf dem edlen Dache liegen. Doch plötzlich ging im Gesicht Kopps eine leichte Veränderung vor sich, und einige Schneekörner später drehte er das Gesicht seewärts. Erbrochenes flog in einem langen, majestätischen Bogen aus seinem Mund und landete mit lautem Platschen im Wasser.

Eilífur blickte zum Boot und sah, dass es sich bei dem Mann, der mitten im Gespräch mit Kopp in die Jolle geklettert war und sich neben den einarmigen Bauern mit dem verbiesterten Gesicht gesetzt hatte, um niemand anderen als einen Knecht Kristmundurs von Hvammur handelte. Jakob hieß er, ein Mann mit kräftigem Kiefer, den eine Schifferkrause bedeckte. Warum sollte er zum Schiff fahren dürfen, Eilífur aber nicht? Sie kamen beide aus dem Segulfjörður, beide aus dem Bezirk einer anderen Handelsniederlassung. Jetzt sah er, wie ihm dieser Jakob ausgesprochen freundlich zunickte, eine Bewegung, die alles zugleich ausdrückte: 1) Soso, du hast also kein Korn mehr, armer Kerl? Ist doch immer das Gleiche mit dir. 2) Glaubst du wirklich, für dich gilt das Gleiche wie für uns Hvammsleute? 3) Bestimmt nicht. Kopp ist eben ein völlig verrückter Geizkragen, der nicht weiß, wie man sich besäuft. Guck nur, wie unmöglich er kotzt, noch dazu diese feine Mahlzeit, die er an Bord bekommen hat.

Der Kaufmann stand noch immer sabbernd über sein Erbrochenes gebeugt am Ufer, der Zylinder war ihm vom Kopf gefallen. Eilífur sah, wie er vor dem Wind über den schneebedeckten Strand rollte, Schwarz auf Weiß, wie eine vornehm glänzende Frucht aus einem Obstgarten, die in ein eiskaltes Jammertal gefallen war und dort herumtrudelte. Er erkannte seine Chance, tat die erforderlichen Schritte und fing den Hut ein, bevor ihn der Pferdeknecht erwischte.

Der Kätner hob den Hut auf und hielt ihn verlegen in der Hand wie ein schüchternes Mädchen einen Blumenstrauß, während der mächtige kleine Mann sich weiter auskotzte. Endlich hatte Kopp den letzten Schleim herausgegurgelt, richtete sich auf und sah sich um, mit einem Kopf wie eine knallrote Sonne über einem grau glänzenden Meeresspiegel. Wo ist der Hut? Wo ist das Boot? Wo, um alles in der Welt, bin ich? Als er in seinen feinen französischen Lederstiefeln durch den Schaum am Ufer zurückwatete, war alle Luft aus ihm gewichen, Müdigkeit schien ihn zu übermannen. Was für eine gewaltige Strapaze war es doch, diesen Hungerkünstlern etwas von fremden Handelspartnern zu verschaffen …

Wortlos ging Kopp zu seinem Hut wie eine Mutter zu ihrem Kind und nahm ihn Eilífur aus der Hand, dann drehte er sich wieder um und beorderte das Boot heran. Während der dänische Ruderer die Jolle näher ans Ufer brachte, wandte sich Kopp an den langen Bauern und rief ihm etwas zu, das entweder »Nun komm schon!« oder »Scher dich zum Teufel!« bedeutete. Im Kopf des Bauern von Stundarkot kam es auf das Gleiche hinaus, und er trottete zum Ufer. Wie er da vor dem tänzelnden Boot mit drei Sitzenden und einem stehenden Kaufmann stand, drückte seine Haltung die stumme Frage aus:

»Was ist mit dem Kilopreis? Ich kann nie im Leben dreiunddreißig Forellen pro Kilo bezahlen.«

»Losjetz, mach schon! Wir regeln das irgendwie«, rief ihm Kopp lallend zu.

Der Zylinderträger schien mit dem Übrigen auch den größten Teil seiner Arroganz erbrochen zu haben, und in seinen Augen war etwas Seltenes und darum umso Bemerkenswerteres zu lesen, so etwas wie Verständnis. Gab es in diesem gottserbärmlichen Jammertal doch so etwas wie Hoffnung auf Glück? Bewegte hinter diesem Dezembertag eine milde Hand das Eismeer? Die Hand des Allmächtigen? Nein, wohl kaum, dachte Eilífur, bestenfalls die fehlende Hand des Einarmigen von Tvíhamar, der da, in seine eigene Atemwolke gehüllt, im Boot wartete. Eilífur gab sich einen Moment, um nachzudenken. Für seinen Geschmack lagen die Dinge viel zu unklar. Wie das Boot und der schöne Zylinder schaukelte vor ihm auf den Wellen auch der Kilopreis auf und ab, auf dem ewig bewegten Meer, doch dann sah er sein weihnachtliches Zuhause vor sich, die Gesichter, die liebe Guðný und die Kinder, und da watete er hinaus in das eiskalte Vage, das isländische Geschäfte so oft kennzeichnete, stieg über das Dollbord und kauerte sich hinter dem tiefrot angelaufenen Ruderer auf eine Bank.

Über dessen Schulter sah er den Zylinder hinter dem Knecht Jakob ins Boot sinken, der mit einem müden Grinsen seine Schifferkrause um sich breitete. Neben ihm saß nach wie vor der Einarmige mit seiner ewigen Schneesturmmiene. Doch gerade war sie ganz angemessen, denn es stürmte und...


Helgason, Hallgrímur
Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er 1996 mit dem Roman 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfilmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2008) und Eine Frau bei 1000° (2011). Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands. Zuletzt sind von ihm bei Tropen erschienen: Seekrank in München (2015) und 60 Kilo Sonnenschein (2020).

Wetzig, Karl-Ludwig
Karl-Ludwig Wetzig, geboren 1956, war Lektor an der Universität Reykjavík und arbeitet heute als Autor und Übersetzer aus den nordischen Sprachen. Er hat u. a. Jón Kalman Stefánsson, Gunnar Gunnarsson und Hallgrimur Helgason ins Deutsche übertragen.

Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er 1996 mit dem Roman 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfilmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2008) und Eine Frau bei 1000° (2011). Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands. Zuletzt sind von ihm bei Tropen erschienen: Seekrank in München (2015) und 60 Kilo Sonnenschein (2020).

Karl-Ludwig Wetzig, geboren 1956, war Lektor an der Universität Reykjavík und arbeitet heute als Autor und Übersetzer aus den nordischen Sprachen. Er hat u. a. Jón Kalman Stefánsson, Gunnar Gunnarsson und Hallgrimur Helgason ins Deutsche übertragen.

Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er 1996 mit dem Roman 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfilmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2008) und Eine Frau bei 1000° (2011). Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands. Zuletzt sind von ihm bei Tropen erschienen: Seekrank in München (2015) und 60 Kilo Sonnenschein (2020).
Karl-Ludwig Wetzig, geboren 1956, war Lektor an der Universität Reykjavík und arbeitet heute als Autor und Übersetzer aus den nordischen Sprachen. Er hat u. a. Jón Kalman Stefánsson, Gunnar Gunnarsson und Hallgrimur Helgason ins Deutsche übertragen.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.