E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Helmink Nicht vergessen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95728-731-1
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie man sich selbst nicht verliert, wenn ein geliebter Mensch von Demenz betroffen ist
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-95728-731-1
Verlag: Knesebeck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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ABWEHR
Sehr lange war die beginnende Demenz meiner Mutter nicht zu greifen und auch nicht zu besprechen. Später im Buch werde ich mehr darüber erzählen, wie es uns bis jetzt ergangen ist mit dem Krankheitsverlauf und was dabei alles zum Vorschein kam, aber eine Frage möchte ich schon einmal vorwegnehmen, nämlich: Warum wird Demenz so oft verleugnet, selbst wenn sie sich vor unseren Augen zeigt? Die Antwort ist so simpel wie ernüchternd: weil wir gar nichts davon wissen wollen. Es hat mit der Angst zu tun, die rund um die Diagnose »Demenz« herrscht. Es ist fast die einzige Krankheit, bei der als Erstes bemerkt wird, dass der Geist allmählich schwächelt, ausfällt und aufgibt. Bei den meisten ernsten Krankheiten ist es andersherum: Als Erstes ist der Körper betroffen und baut ab, während der erkrankte Mensch oft bis zum letzten Atemzug die Person bleibt, die man kannte und liebte. Obwohl die Demenz wie gesagt auch eine körperliche Erkrankung ist, wird sie anders wahrgenommen und erfahren. In vielen Fällen macht der Körper noch eine ganze Weile tapfer weiter und ermöglicht Leben, während man von der Person, die man kennt und liebt – von ihrem Charakter, ihrer Selbstständigkeit – schon Stück für Stück Abschied nehmen muss. Das ist beängstigend. Unser Geist macht einen unglaublich wichtigen Teil von dem aus, was und wer wir »sind«. Unser Gehirn ist das Lager, in dem unzählige Erinnerungen, Erfahrungen, Überzeugungen, Gefühle, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften durch Tausende kommunizierende Linien miteinander verbunden sind. Ein riesiger Schuppen, bis unter die Decke gefüllt mit Identität. Was darin gelagert wird, bildet in der Gesamtheit deine Persönlichkeit. Wer also bist du, wenn du zu diesem Schuppen, in dem dein Leben gelagert liegt, keinen Zugang mehr hast? Was bleibt von dir übrig, wenn die Verbindungen zum Erliegen kommen, wenn keine Informationen über dein Wissen, Wollen und Vorhaben mehr weitergegeben werden? Wenn‘s nicht sein muss, denken wir darüber lieber nicht nach. Das Wort »Demenz« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich so viel wie »Entgeistung«. Ich muss oft an die von dem Wort abgeleiteten »Dementoren« denken, die Zauberwesen aus den weltberühmten Harry-Potter-Büchern von J. K. Rowling. Die Dementoren sind die gemeinsten und gruseligsten Monster: Sie saugen alles Glück aus ihrer Umgebung, und wer den »Kuss« eines Dementors empfängt, verliert seine Seele – der Dementor saugt sie aus dem Körper heraus – und muss als eine rein körperliche, entseelte Hülle weiterleben. Das ist ein angsteinjagendes Bild, das ziemlich genau der größten Angst vor Demenz entspricht und sie nährt: dass man nur noch aus einer leeren Hülle besteht. Inzwischen weiß ich, dass ein solches Schreckensbild auf einen Menschen mit Demenz überhaupt nicht zutrifft – aber erkläre das mal jemandem, der die Krankheit nicht aus der Nähe miterlebt. Wir wenden unseren Blick auch deshalb ab von Demenz und allem, was damit zu tun hat, weil man sie viel zu oft mit Verrücktheit assoziiert. Natürlich möchte niemand für verrückt erklärt werden. Ich selbst finde »verrückt« keinen besonders respektvollen Ausdruck, aber meine Mutter hat es wörtlich so gesagt, als wir behutsam darüber zu sprechen versuchten, was mit ihr los sein könnte. Da wurde sie fuchsteufelswild. »Ich bin nicht verrückt!«, rief sie, ihre dunklen Augen sprühten Feuer, und unser versammelter Mut zerfiel zu Asche. Ob sie sich begutachtet und verurteilt gefühlt hat? Inwiefern hat sie selbst die Demenz bemerkt? Wir wissen es nicht, aber wir wissen, dass sie diesen Stempel unbedingt vermeiden wollte. Wir waren verrückt, nicht sie. HERUMLAVIEREN
Zu meinem Bedauern muss ich gestehen, dass ich selbst auch lange mit Zögern und Zweifeln um die Diagnose herumlaviert habe. Wenn meine Eltern das Thema vom Tisch fegten, meine Mutter mit hartnäckigem Leugnen und mein Vater mit seiner beschützenden Liebe für sie, ließ ich es wieder eine Weile ruhen, manchmal kurz, manchmal zu lang. Wir alle spielten unsere jeweils eigene Rolle in dem Familientheaterstück Bei uns ist alles in Ordnung. Jeder Akt dauerte, bis meine Sorgen oder die meiner Brüder oder unsere manchmal erbitterten Diskussionen darüber hoch aufloderten. Dann mussten wir doch wieder das Gespräch bei unseren Eltern darauf bringen, dass mit unserer Mutter wirklich etwas nicht stimmte. »Mam, Pap, wir glauben, Mama könnte doch Demenz haben.« »Ach kommt, Kinder, muss das jetzt wirklich sein?« Noch immer plagt mich von Zeit zu Zeit das Gefühl, dass ich vielleicht mehr hätte tun müssen. Stärker auf Antworten bestehen. Als meine Eltern endlich einmal wieder zu ihrem Hausarzt gingen und erst viel später (zu spät, finde ich) tatsächlich zu weiteren Untersuchungen überwiesen wurden, fühlte sich das nicht wie ein Sieg an. Wussten wir denn mehr als die Profis aus dem medizinischen und pflegerischen Bereich? Wir mussten uns mit Schnipseln einer vagen Diagnose begnügen. Ab und zu steckte ich meine Zehe in kaltes Wasser und googelte »Symptome von Demenz« und »Hat meine Mutter Demenz?«. Das fachte zwar meinen Wunsch nach mehr Antworten wieder an, aber der wurde allzu oft durch das alltägliche Leben und meine eigenen Sorgen und Pflichten erstickt. Ach, dann lavierten wir wieder eine Weile herum. Dass ich mich, wie meine Eltern, von Bequemlichkeit und mangelnder Kenntnis über Demenz habe leiten lassen, ist eine Einsicht, mit der ich leben muss. Lange tat ich mich sehr schwer, die Möglichkeit einer Demenz wirklich in Betracht zu ziehen – und zwar nicht nur mit meinem Verstand, sondern mit Herz und Seele. Ich weiß noch, wie ich vor Jahren mit engen Freundinnen aus war; wir tranken Wein, aßen gut und hatten es lustig, und plötzlich fragte mich eine von ihnen mitfühlend, wie es meiner Mutter eigentlich gehe. In meinem Zwerchfell spürte ich eisige Kälte und bleierne Schwere. Wie konnte sie es wagen! Diese einfache, interessierte Frage brachte mich völlig aus der Fassung. Es nah an mich heranzulassen, dass meine Mutter möglicherweise, nein, wahrscheinlich, sehr krank war, unwiderruflich und unheilbar, das war auch für mich ein Prozess. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, war nicht nur für meine Eltern, sondern für jeden von uns vorübergehend eine Lösung. Ich bin zudem nicht der Typ Mensch, der Halt in Ziffern und Prozenten und trockenen medizinischen Fakten über Demenz findet – so bin ich einfach nicht veranlagt. Um zu begreifen, was mit einem geliebten Menschen geschieht, sollte man die Fakten aber nicht unterschätzen – das sage ich jetzt aus voller Überzeugung und mit meiner Erfahrung von heute. Ich weiß nicht genau, wovor ich solche Angst hatte. Es kommt mir vor, als hätte lange ein dickköpfiges kleines Mädchen in meiner Brust gesessen, das mit verschränkten Armen trotzig den Kopf schüttelt, wenn das Wort »Demenz« auftaucht: Nee, nicht meine Mutter! Als würde die Krankheit auf solchen Widerstand Rücksicht nehmen. Und als sie längst nicht mehr zu verkennen war, konnte ich vieles nicht mehr rückgängig machen. Lieber würde ich eine andere Geschichte schreiben. Von heute aus gesehen hätten wir manches anders und vielleicht besser machen können. Was ich über den Krankheitsverlauf meiner Mutter erzähle, ist nicht unbedingt vorbildlich. Was hätte eine frühere Diagnose gebracht? Vielleicht hätte meine Mutter stärker mit einbezogen werden können (obwohl ich das immer noch stark bezweifle). Eine frühe Diagnose ermöglicht, sich auf das, was kommen wird, vorzubereiten. Sie gibt dem Menschen mit Demenz mehr Zeit, in der er noch selbst über seine Zukunft nachdenken kann. Auf der anderen Seite: Ich habe bis zum heutigen Tag noch nie mit jemandem gesprochen oder eine Geschichte gehört, in der sich die Krankheit tatsächlich vorbildhaft in einem sanft verlaufenden Stufenplan entwickelte. Es scheint dazuzugehören, dass der Beginn zerfranst und heimtückisch ist, umhüllt von Geräusch und Nebel. Glücklicherweise wird heute allgemein stärker wahrgenommen, wie wenig wir über die Krankheit wissen und was sie im Umfeld auslösen kann. Es gibt diverse gesellschaftliche Initiativen unter der Überschrift »Freundliches Zusammenleben mit Demenz«, die dazu beitragen sollen, dem Unverständnis und der Angst vor Demenz entgegenzuwirken. Je früher wir lernen, dass Demenz nichts ist, vor dem wir Angst haben müssen, umso besser. Wenn du die Möglichkeit hast, fang heute noch damit an, dich zu informieren. Meine Textmarker sind fast alle verbraucht. Du glaubst nicht, wie viele Passagen aus Büchern ich markiert und an meine Brüder und meinen Vater weitergeleitet habe. »Schaut mal, wir sind nicht die Einzigen, die das verpasst haben« oder »Siehst du, bei denen ist es genauso...