E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Henn Die Goldene Schreibmaschine
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96052-398-7
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Abenteuerroman für Kinder ab 10 Jahren über die Kraft der Literatur und Magie der Worte - erstes Kinderbuch des Bestseller-Autors Carsten Henn
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-96052-398-7
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carsten Sebastian Henn wurde 1973 in Köln geboren und lebt heute noch im Rheinland - mit seiner Frau, zwei Kindern und drei Katzen.
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Das sonnengelbe Haus von Emilys Großeltern lag gegenüber dem alten, einstmals prächtigen, heute verfallenen und größtenteils überwucherten Hallenbad. Das Haus war gleichzeitig klein und groß. Klein, weil es zwischen zwei größeren stand und wirkte, als würde es von diesen gleich in die Mangel genommen. Groß, weil es viele Zimmer hatte – auch wenn sie alle klein waren. Im Erdgeschoss lebten Emilys Großeltern. Früher hatten sie das ganze Haus bewohnt, aber nach und nach immer weniger Platz gebraucht und immer weniger Lust gehabt, Treppen zu steigen, sodass die obere Etage frei gewesen war, als Emilys Eltern eine Bleibe für sich und ihre Tochter gesucht … und kein Geld hatten, um sich etwas Eigenes zu leisten.
Überall war es eng, und da die Wände dünn waren, auch laut. Die Heizung funktionierte nie richtig und klang, als gurgelte jemand mit Mundwasser. Deswegen verbrachte Emily im Winter sogar noch mehr Zeit in der Anna-Amalia. Zwar fehlte der Bibliothek an allen Ecken und Enden Geld, die Farbe blätterte von den Wänden, etliche Glühbirnen waren kaputt, die Abflussrohre in den Toiletten regelmäßig verstopft, aber es war immer gut geheizt, wogegen Emily zu Hause an kalten Tagen mit Pullover und dicken Socken herumlaufen musste.
Trotzdem liebte Emily das Haus ihrer Großeltern von ganzem Herzen. Denn nach sieben Umzügen in drei Jahren war es das erste, das sich wirklich wie ein Zuhause anfühlte.
Als Rose die Tür aufschloss, fiel Emilys Blick auf die Namen über der Klingel. »Rose & Martin Wirich« stand da, und auf einem nachträglich hingeklebten Zettel »Monika & Ralf Paper«. Emily strich sanft über ihre Namen. Ein kleiner Gruß in die Ferne.
Vor etwas über einem Jahr war das Architekturbüro bankrottgegangen, in dem ihre Eltern als Bauzeichner gearbeitet hatten. Ein halbes Jahr später war das Angebot aus Dubai gekommen. Da es in der Stadt keine Jobs für sie gab und es zudem gut dotiert war, hatten sie die weite Reise angetreten. Ein Jahr im Orient. Direkt am Meer, obwohl ihr Vater Angst vor offenem Wasser hatte, seit er als Kind beinahe in der Nordsee ertrunken wäre.
Ihre Tochter wollten sie nicht schon wieder aus der gewohnten Umgebung reißen und hatten sie schweren Herzens zurückgelassen.
Emilys Kopf verstand das, aber ihr Herz verstand es nicht und bekam immer einen kleinen Stich, wenn hinter der Haustür weder ihre Mutter noch ihr Vater auf sie warteten.
Umso schöner war es, dass Wolke sie begrüßte, als Emily die Tür ihres Zimmers im Obergeschoss öffnete.
»Guten! Tag! Emily! Nüsse! Küsse!«
Obwohl er echt gerne Unsinn redete.
Da es Zeit für eine Vogel-Dusche war, holte sie die kleine mit Wasser gefüllte Sprühflasche aus dem Schrank. Wolke spreizte sofort genüsslich die Flügel und schüttelte die langen Schwanzfedern, als der Wassernebel um ihn herum auftauchte.
Die Papers/Wirichs waren eine zoologische Familie. Jeder besaß ein Tier – wobei man Tiere ja nie wirklich besaß. Emilys Großmutter hatte einen Mops namens Churchill, der aussah wie ein zerknautschtes Sofakissen und den man mehr hörte als sah, weil er immer aus irgendeiner Ecke schnarchende Geräusche von sich gab. Emilys Großvater hatte einen Karpfen, einen sogenannten Koi, der im Gartenteich lebte. Der Karpfen trug den Namen Kaiser Wilhelm, hörte aber natürlich nicht darauf, ließ sich jedoch streicheln. Emilys Mutter hatte eine zerzauste Katze namens Campino adoptiert, die manchmal vorbeischaute, und Emilys Vater, nun ja, der hatte kein Tier, aber er wünschte sich schon lange ein Terrarium mit einer Grünen Zwergwüstenkröte. Wenn es nach dem Rest der Familie ging, würde er so ein Ungetüm aber nie bekommen.
Emily hatte einen Vogel.
Und ja, dazu hatte sie sich schon alle Sprüche anhören müssen, die es gab.
Sie ging zur großen Voliere und öffnete diese, damit ihr Indischer Ringelhals herausfliegen konnte. Eine Stunde pro Tag war Pflicht. Der hellblaue Vogel mit dem kleinen orangefarbenen Schnabel landete auf ihrer Schulter – seinem liebsten Platz auf der ganzen Welt.
»Na, wie war dein Tag so?«
»Sonne! Wonne! Hoch!«
Wolke war fasziniert von Sonne und Mond.
Emily sah, dass Wolkes Futterschale schon wieder leer war. Das Geld reichte kaum, um alle Tiere im Haus zu versorgen. Sie holte eine kleine Tüte Nüsse aus der Tasche, die sie in der Pause mit Charly gegen ihr Dinkelbrot mit Gouda getauscht hatte. Deren Vater war überzeugt davon, dass Nüsse gut für die Intelligenz waren, und Charly war überzeugt davon, dass sie nicht gut für ihren Geschmack waren.
»Hier, für dich.« Emily fütterte Wolke aus der Hand, was immer ein wenig kitzelte. Auf die gute Art und Weise. Danach stieß der Ringelhals ein paar glückliche Triller aus und drückte sein fedriges Köpfchen gegen Emilys Hals.
Sie hätte sich gerne auf ihr Bett fallen lassen, aber die Strafarbeit für Dr. Dresskau musste geschrieben werden. Also setzte sie sich an den Schreibtisch. Emily hasste jedes Wort, das sie zu Papier brachte. Und dass sie danach auch noch für die Mathearbeit lernen musste.
Gegen Abend schlängelte sich der köstliche Geruch von Bratkartoffeln unter dem Türspalt hindurch in Emilys Zimmer und lockte sie hinunter in die kleine Küche. Auf dem knarzenden Holztisch dampfte es aus einer Pfanne. Dazu gab es Spiegelei und Apfelmus. Wie an jedem Mittwoch. Rose und Martin aßen alles mit Apfelmus. Spaghetti Bolognese – mit Apfelmus. Bratwurst – mit Apfelmus. Pizza – mit Apfelmus. Emily mochte die Kombi nicht besonders, aber um den beiden eine Freude zu machen, nahm sie immer einen Löffel voll Apfelmus und aß ihn zum Schluss als kleines Dessert.
Churchill lag in seinem Körbchen in der Ecke, das pralle Bäuchlein hob und senkte sich rhythmisch. Er wurde immer vor dem Abendessen gefüttert, und zwar ausgiebig, damit er zu voll war, um zu betteln.
Mit am Tisch, oder besser auf Emilys Schulter, saß Wolke, der manchmal auch etwas abbekam. Vor allem Gemüse und Obst, aber auch Kräuter liebte er sehr. »Kartoffel! Heiß! Mais! Hasenpfote!«, rief er fröhlich.
Rose löffelte Martin noch eine Kelle Apfelmus auf den schon vollen Teller und erzählte von den Besuchern in der Bibliothek, Martin erzählte von den Nachrichten. Er dachte, es wären die heutigen Nachrichten, aber manche waren zwei Wochen alt, andere sieben Monate oder sogar dreißig Jahre. Interessant waren sie alle.
Martins Erinnerung war wie ein Buch, in dem viele Seiten fehlten – und in dem kaum Platz für Neues war. Nachts konnte er nie richtig schlafen und stromerte durchs Haus.
Emily nannte ihn deshalb ihren ganz persönlichen Nachtwächter. Sie fühlte sich sicher, wenn sie die leisen Schritte seiner Filzpantoffeln auf dem Laminat hörte.
Martin hatte einen Rauschebart mit weißen, schwarzen und roten Stellen. Emily hatte einmal gelesen, dass dreifarbige Katzen auch Glückskatzen genannt wurden. Da hatte sie beschlossen, dass Martin ein Glücksgroßvater war.
Heute war allerdings eine Sache anders als sonst mit ihm: Martin zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Mehrmals. Immer wartete er dafür einen Moment ab, in dem Rose nichts mitbekam.
Nachdem sie alles abgeräumt und das Geschirr gespült und abgetrocknet hatten, begleitet von Wolke, der plötzlich anfing, »Ein belegtes Brot mit Schinken« zu pfeifen, sagte Martin, sie solle ihm mal ins Wohnzimmer folgen.
Sehr komisch.
»Alles gut, Opa?«, fragte Emily deshalb, als sie sich auf die Fernsehcouch setzte.
Er hielt sich einen Zeigefinger vor den Mund, signalisierend, dass sie leise sein müssten. »Soll Rose nicht wissen, was ich dir sage.« Er schloss die Tür hinter ihnen. Dann zog er einen Briefumschlag aus der Hosentasche und reichte ihn Emily.
Er war bereits geöffnet und stammte von der Johannes-Gutenberg-Schule. Ohne Briefmarke. Jemand musste ihn persönlich eingeworfen haben.
»Brief! Tinte! Flinte! Rasenmäher!«, sagte Wolke aufgeregt und hüpfte auf Emilys Schulter.
Sie zog das Schreiben aus dem Umschlag und las die wenigen Zeilen Text.
»Ein schriftlicher Tadel?«
»Wir haben früher Blauer Brief dazu gesagt. Wer ist dieser Dr. Dresskau, kenne ich den?«
»Aber … nur, weil ich einmal etwas nicht gewusst und Widerworte gegeben habe? Warum hat er es auf mich abgesehen? Das ist so unfair!«
»Ich habe ihn unterschrieben, dann muss Oma das nicht sehen. Wofür hat man schließlich einen Opa?«
»Zum Umarmen«, sagte Emily und umarmte ihn. Wolke wechselte kurz auf Martins Schulter und schaute sich interessiert um. Rechtzeitig sprang er aber wieder auf seinen angestammten Platz zurück.
Emily besah sich den Brief genauer. Unterschrieben war er nicht von Dr. Dresskau, sondern von Frau Schneider, der Direktorin. Sie hatte sich bei der Wahl gegen Dr. Dresskau durchgesetzt, als die Direktorenstelle neu besetzt werden musste. Dadurch war er noch unerträglicher geworden.
»Du musst aufpassen …«
Emily bemerkte, dass Martin versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. Das passierte manchmal. Immer häufiger.
»Emily«, sagte sie.
»Weiß ich doch!« Er lachte entschuldigend. »Du bist meine Emily, meine Liebste, mein kleines Glück!«
»Sag mal, du kennst dich doch auch aus in der Bibliothek.«
»Ja, natürlich. Welche Bibliothek denn?«
Emily gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ist schon gut.«
»Wenn es gut ist, dann ist es gut!«
»Zimmer! Decke! Schnecke! Popcorn!«
»Wolke will nach oben«, sagte Emily. Und sie wollte es auch. Sie musste über vieles nachdenken. Und ihre ganze Wut in ihr Tagebuch schreiben. Denn...