Henrich / Bormuth / Bülow | Ins Denken ziehen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 284 Seiten

Henrich / Bormuth / Bülow Ins Denken ziehen

Eine philosophische Autobiographie

E-Book, Deutsch, 284 Seiten

ISBN: 978-3-406-75643-6
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Dieter Henrich ist weltweit bekannt als Erforscher des deutschen Idealismus und Philosoph der Subjektivität. In Gesprächen mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow resümiert er die Stationen seines Wegs zur und in der Philosophie, den Gang seines Denkens sowie die Begegnungen mit Lehrern, Zeitgenossen und Weggefährten. Dazu zählen Hans-Georg Gadamer, Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Hilary Putnam oder auch Sergiu Celibidache und Alexander Mitscherlich, der ihm nach einigen Sitzungen bescheinigte, keine Psychoanalyse zu benötigen.

Als Kind ist er lange Zeit schwer krank gewesen. Heute erkennt er darin einen der Gründe, warum die Philosophie zu seiner Lebensaufgabe wurde. Dieter Henrichs philosophische Autobiographie ist reich an prägnanten Erinnerungen an Personen und Begebenheiten in vielen Lebenssphären und Weltgegenden. Er wurde zu einem der einflussreichsten Philosophen seiner Zeit, mit einer ergebnisoffenen, undogmatischen Philosophie, in der die Freiheit des Subjekts als eine ermöglichte und nicht als eine aus Selbstmacht initiierte verstanden wird. In mit großer Offenheit geführten Gesprächen lernen wir einen eleganten, altersweisen Metaphysiker ohne System und ohne Lehrsätze kennen, der der menschlichen Subjektivität in ihrem Glück und ihren Nöten, ihren Wirrungen und befreienden Momenten nachgeht und dabei die Perspektiven und Konflikte erkundet, in die ein Denken zieht, das den Mut hat, sich auch letzten Fragen auszusetzen.
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2. Schul- und Studienzeit in Marburg (1933–1949)

Sie sind in Marburg geboren, haben dort die Schule besucht und erste Studienjahre verbracht.
Meine Schulzeit koinzidierte mit Hitlers Herrschaft. Ich bin zu Ostern 1933 in die Volksschule gekommen, die Süd-Schule. Sie wurde gerade in «Horst-Wessel-Schule» umbenannt.
Zeigten sich bei Ihnen bereits in der Volksschulzeit Anlagen oder Begabungen, die Sie ein Leben lang begleitet haben? Sie unterscheiden einmal den Komplex Ihrer historischen Arbeit von dem eigenen philosophischen Werk.
Ich war immer ein tüchtiger Schüler, aber kein Überflieger. Eine Begabung und Motivation zum historischen Teil meiner späteren Arbeit zeigte sich wohl in meiner Freude an der ‹Heimatkunde›. In der dritten Klasse bekam ich in diesem Fach ein «sehr gut», was damals selten war. Hinter die Note hatte der Lehrer zudem in Klammern eine «1» mit dickem Ausrufezeichen gesetzt. Mein Vater schenkte mir darauf zu Ostern 1936 die Leinenausgabe der Geschichte der Stadt Marburg von Walter Kürschner. Dies war mein erstes wissenschaftliches Buch, versehen mit Anmerkungen und Literaturhinweisen.
Woher kam Ihre Liebe für die Stadtgeschichte?
Mein Vater hat die Neigung zur heimatlichen Landschaft sicher befördert. Die Stadt hat durch Schloss und Elisabethkirche ein durchaus monumentales Profil und zugleich doch die Intimität einer kleinen Bürgerstadt am Berghang. Das Schloss auf der Bergspitze steht in harmonischem Kontrast mit den gotischen Doppeltürmen der mächtigen Kirche im Tal. Wer auf eine solche Atmosphäre anspricht, wird die Stadt lieben. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal, mit elf Jahren, von Kassel allein nach Marburg fahren durfte. Während der Zug im Lahntal bei Cölbe durch die letzte Kurve fuhr und dies Bild der Stadt im Frühdunst der Ebene plötzlich auftauchte, war ich im Nu überströmt von Tränen. Ich war glücklich. Es war die Erfahrung der Rückkehr in das, was mir Heimat geworden war. So bat ich meine Mutter, da wir meinen Vater verloren hatten, nach Marburg zurückzuziehen. Sie tat es um meinetwillen. Vielleicht hatte ich der Beheimatung noch mehr als andere Kinder bedurft, weil ich durch meine langen Krankheitszeiten und durch Monate der Isolation in meinem Selbstvertrauen schwach und körperlich mutlos geworden war.
Mit der Liebe zu Marburg war Ihr Bedürfnis verbunden, eigene Wege ihrer Erkundung zu nehmen, mehr vom Ganzen der Stadt zu erfahren.
Man kann von einer Stadtatmosphäre berührt werden, ohne sich eingehender mit ihr beschäftigen zu wollen. Aber bei mir erwachte damals auch der Betätigungstrieb; ich wollte in Marburgs Geschichte eindringen, möglichst selbst etwas beobachten und herausfinden. Die Liebe zu Marburg war für mich ein wichtiger Motor für meine Liebe zur Wissenschaft unter Einschluss der Gestimmtheit, die sich aus der intensiven Erforschung einer vergangenen Epoche ergeben kann.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie die Begabung haben, ein komplexes Ganzes zu durchschauen?
Vielleicht wurde mir mein Ordnungsvermögen schon als ganz kleines Kind deutlich, als mich die Marburger Straßenbahn zu faszinieren begann. Es gab zwei Fahrzeugtypen. Die unterschied ich als Kleinkind nach den Tönen, die sie von sich gaben, in «Ipp» und «Opp». Marburg besaß damals gerade einmal zehn Wagen auf glatten Schienenbahnen, die neben holprigem Kopfsteinpflaster im eigenen Stil elegant dahinglitten und meine Phantasie in Gang setzten. Nur war die eine Marburger Linie doch viel zu wenig. So träumte ich von vielen Weichen und neuen Linien und von ihren Verknüpfungen und Kreuzungsstellen. Dieses Vorstellungsspiel übertrug sich später leicht auf jedes Straßenbahnnetz von Großstädten, die ich kennenlernte.
Gab es auch andere kindliche Leidenschaften, die Ihren systematischen Geist oder historischen Sinn anzeigten?
Ich sammelte etwa Zigarettenbildchen von historischen Uniformen, schon in der Vorschulzeit. Überall wurde mir von Verwandten und Bekannten geholfen, denn die Alben mussten vollständig werden. Ich kannte bald alle Staaten und ihre Regimenter, die da abgebildet waren. Für mich war klar, dass man eine Suchaktion auch zu Ende führen muss, um einen entsprechenden Überblick auf dem betreffenden Gebiet zu erlangen.
Eine andere Besonderheit Marburgs konnte die Erwägung von weit ausgreifenden Gedankenbahnen und Weltauslegungen nahelegen. Marburg war einmal eines der wichtigsten Pilgerziele der gesamten Christenheit und ein Ort zahlreicher Klöster gewesen. Und dennoch wurde es ein Zentralort der Reformation mit der ersten protestantischen Universität der Welt. Es lag nahe, sich für den Streit zwischen den christlichen Kirchenlehren zu interessieren. Und dies Interesse dehnte sich von Beginn an auf jegliche Weltauslegung aus, mit der ich bekannt wurde. Darin lag schon die Bereitschaft zu Gedankengängen, die auf ein Ganzes und Grundsätzliches gehen und Anstoß und Anlass zum Verstehen und zur Ordnung des Menschenlebens geben.
Ihre Kindheit fällt in die Zeit des Nationalsozialismus, in der nationale Gefühle vielfach missbraucht wurden und ideologische Vorstellungen vom Ganzen entwickelt wurden.
Der Kult um den ‹Führer›, der aus dem Volke selbst kam und als einfacher Gefreiter ein Held war, nun aber neben dem alten Feldmarschall stand, hat auch mich angerührt. Kaum war die erste Schulwoche vorbei, da zog ich als Sechsjähriger mit der ganzen Volksschule auf eine Straßenkreuzung, um eine Rede ‹des Führers› zu hören. Der Radioapparat dröhnte aus einem offenen Eckfenster. Die Schule selbst hatte noch keinen. Ich habe später das Parteiprogramm genau gelesen, das wenig mit deren wirklichem Handlungsprofil zu tun hatte. Gewiss war der Nationalsozialismus eine Weltanschauungspartei. Als Bewegung setzte er die soldatische Disziplin, die Niederkämpfung des Kommunismus und den Wiedergewinn nationaler Selbstachtung ganz nach oben.
Waren Sie in den obligatorischen Jugendorganisationen?
Ja, meine Eltern schickten mich schon, als es noch nicht Pflicht war, zum Deutschen Jungvolk. Ich sollte als Einzelkind unter Kinder kommen. Die Jugendlichen auf der Straße waren ihnen zu verdächtig. Sie fanden es auch gut, dass im Jungvolk Jungen aus verschiedenen sozialen Gruppen zusammenkamen, dass die Bürgerkinder aus dem Südviertel und die Kinder der Bauern aus Ockershausen derselben Gruppe angehörten.
Wie sah das Leben im Jungvolk konkret aus?
In meinem ersten ‹Dienst› lernte ich Kanon singen. Überhaupt singen, immer wieder neue Lieder mit anderen historischen Bezügen. Die ergänzten die vielen Formen des Soldatenspielens, darunter das Sich-Orientieren in der Landschaft mit Messtischblatt und Kompass, Zeltbau, Winkernachrichten, weite Wanderungen (‹Fahrten› genannt) und Lagerleben, auch mit großangelegten Wettspielen aller Art. Das Ganze war von einer Melange von Abenteuer, Kompetenzgewinn und Ordnungsstolz durchzogen. Sie sollten in der Aneignung der ‹Ideen› Hitlers kulminieren, welche alle Eigenschaften einer leicht verständlichen, suggestiv auftrumpfenden Sektenlehre hatte. Die verehrten Heroen der von ihm repräsentierten ‹Bewegung› waren zunächst die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und der ‹Kampfzeit›, die dann freilich bald hinter die Kriegshelden von Hitlers eigenem Krieg zurückgestellt wurden. Zudem bot das Jungvolk gegenüber der Schule die Möglichkeit, einen Rang zu erhalten und diverse Leistungsabzeichen zu erwerben – so auch für Segelfliegen und Schießen. Das Ganze hatte etwas Frisches, Unternehmensfrohes. Scheinbar regierte sich die Jugend wirklich selbst, noch die obersten Vorgesetzten waren ganz junge Leute. Es war eine Welt ohne Erwachsene – ganz anders als die Schule mit ihren in einer Wissenschaft vor langem einmal ausgebildeten Erziehern. Es gab auch Hilfsdienste, die im Vorfeld des Krieges schnell zunahmen. Zunächst sammelten, zum Beispiel, Jungen und Mädchen in Uniform für das Winterhilfswerk mit Sammelbüchsen und hatten dabei Abzeichen und Figürchen für Weihnachtsbäume zu verkaufen.
Lag darin ein Erbe der früheren Jugendbewegung?
Es wurde vieles aus dieser Tradition übernommen, auch die Einfachheit des Lebens und die Naturverbundenheit. Aber das militärische Leitbild stand der erwünschten Lockerheit doch immer auch entgegen.
Wie kamen Sie mit dem Militärischen zurecht?
Ich war ein sehr unsportlicher Knabe; dramatisch ersichtlich darin, dass ich Nichtschwimmer war. Viel später erst habe ich mir diese Schwächen weggearbeitet, habe als Ordinarius in Heidelberg das...


Dieter Heinrich ist einer der einflussreichsten deutschen Philosophen. Er ist Mitglied vieler nationaler und internationaler Akademien sowie Träger zahlreicher Ehren und Auszeichnungen, darunter des Deutschen Sprachpreises.

Matthias Bormuth ist Medizinethiker und Kulturwissenschaftler. Er hat seit 2012 die Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg inne und leitet dort das Karl-Jaspers-Haus.

Ulrich von Bülow ist seit 2006 Leiter der Abteilung Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach.


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