Herbst / Mautz / Vogel | Gleichzeitig ungleich | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 223 Seiten

Herbst / Mautz / Vogel Gleichzeitig ungleich

Inmitten der pandemischen Arbeitswelt

E-Book, Deutsch, 223 Seiten

ISBN: 978-3-593-45113-8
Verlag: Campus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die dritte Welle der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2021 stand medizinisch gesehen ganz im Zeichen erweiterter Infektionsgefahr auf der einen und beschleunigtem Impftempo auf der anderen Seite. In ihrem Buch setzen sich Sarah Herbst, Rüdiger Mautz und Berthold Vogel soziologisch mit dieser Phase der Pandemie auseinander. Ihre Analysen zeigen, welchen spezifischen Belastungen einzelne Berufsgruppen während dieser Zeit ausgesetzt waren und wie sich die Wertschätzung für einzelne Berufe und Tätigkeiten verändert hat. Zudem analysieren die Autor:innen, welche Spuren die Pandemie in der Arbeitswelt und in den Erfahrungen der Menschen hinterlässt. Dabei zeigt sich, dass die dritte Welle eine Schlüsselphase der Covid-19-Krise war.
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1.Frühjahr 2021 – der pandemische Wendepunkt!?
Wann fanden unsere Erhebungen statt? Und warum zu diesem Zeitpunkt? Im folgenden Abschnitt skizzieren wir die zeitlichen Rahmenbedingungen, in denen wir unsere Corona-Interviews geführt haben. Wichtig ist: Für uns waren die Monate März bis Mai 2021 der pandemische Schlüsselmoment. Das galt für die Situation im Frühjahr 2021 und das gilt auch noch retrospektiv. Denn zu diesem Zeitpunkt trafen erstens eine neue Infektionswelle und eine ins Rollen gekommene Impfkampagne aufeinander. Zweitens überlagerten sich ein ermüdender Lockdown und eine intensivierte »Öffnungsdebatte«. Drittens changierte staatliches Handeln zwischen Zaudern und Entschlossenheit. Viertens wurden in einer zunehmend nervösen, sehr angespannten und oftmals auch über widersprüchliche Beschlusslagen irritierten Arbeitswelt Fragen nach Sinn, Gerechtigkeit und Maß gleichzeitiger Ungleichheit gestellt. Die Pandemie hatte sich zu einem gesellschaftlichen Konfliktfeld ersten Ranges entwickelt. Eine wichtige Konsequenz war, dass die Idee einer zentralen Steuerung des pandemischen Geschehens zugunsten einer dezentralen Verantwortungsteilung bzw. Verantwortungsdelegation verabschiedet wurde. Diese Neujustierung war in einer föderalen Demokratie nicht überraschend und auch nicht per se negativ. Aber die Koordinaten des Handelns begannen sich zu verschieben. Und diese Verschiebung bestimmte den weiteren Pandemieverlauf. Insofern war das Frühjahr 2021 der Zeitpunkt, an dem »die Gesellschaft« und ihre sehr ungleichen Interessen und Ressourcen immer mehr zum Zentrum der Pandemiepolitik wurden, während sich die staatliche Politik mehr und mehr von den Reglerknöpfen des Pandemiemanagements verabschiedete und sich im Kern auf die Formulierung von Sicherheitsmaßnahmen konzentrierte: Maskentragen, Testen, Impfen. So wurde Impfen von Woche zu Woche immer mehr zum zentralen Thema. Hier lag die Hoffnung, dass relativ rasch alles sehr viel besser werden könnte. Abb. 1: Verlauf der Neuinfektionen und verabreichten Impfdosen zwischen November 2020 und Juni 2021 Quelle: Eigene Darstellung Infektionswelle und Impfquote Mit unserer Studie stiegen wir zu einem Zeitpunkt in die Pandemie ein, als sich Infektionswelle und Impfkampagne auf einen gemeinsamen Schnittpunkt zubewegten (siehe Abbildung 1, die unseren Erhebungszeitraum als rot hinterlegten Bereich kennzeichnet). Die dritte Corona-Welle – die sogenannte Alpha-Welle – rollte und steigerte sich zum Ende des Winters! Zuvor hatte Deutschland nach allgemeiner Bewertung die erste Welle recht gut überstanden. Die politischen Maßnahmen, die zu dem Corona-Alltag zwischen Lockdown, Homeoffice und Abstandsgebot führten, wurden von einer sehr großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und das Krisenmanagement der Regierung erhielt gute Noten. Dann kam der »Sommer der Sorglosigkeit« 2020, der von einer zweiten Infektionswelle im Herbst desselben Jahres jäh abgelöst wurde, die hierzulande im internationalen Vergleich besonders vielen Infizierten das Leben kostete (vgl. Drosten 2022). Nicht nur die kritische Auslastung der Intensivstationen war im Spätherbst 2020 das Thema von Sondersendungen und Talkshows, sondern auch die hohe Übersterblichkeit, die sich in Bildern von überlasteten Krematorien symbolisierte. Diese irritierenden Erfahrungen, die mit Nachdruck die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft im Allgemeinen und unseres Gesundheitssystems im Besonderen demonstrierten, wurden im Fortgang des Winters 2020/2021 (Stichwort: »Weihnachtsruhe«) durch die Alpha-Variante des Virus beschleunigt. Zur Chronologie: Am 2. November 2020 begann der Lockdown »light« in Deutschland, der nach einigen Verschärfungen und manchen Revisionen insgesamt sechs Monate andauerte und im Mai 2021 endete. Das öffentliche Leben stand während dieser Zeit (zum wiederholten Male) an vielen Orten, aber bei weitem nicht überall still. Es galt jetzt im Unterschied zu den Infektionswellen des Jahres 2020 die Schulen offen zu halten und auch »die« Wirtschaft, das heißt insbesondere die industrielle Fertigung, der Bausektor und das Handwerk, lief in der Regel schon wieder im Normalbetrieb. Die Pandemie machte auf diese Weise auch deutlich, dass Deutschland ein in hohem Maße industriell geprägtes Land ist. Ein Lockdown in diesen Bereichen und Branchen fand faktisch niemals statt. Die Furcht vor irreparablen Schäden an der industriewirtschaftlichen Basis der deutschen Wirtschaft war sehr groß. Stattdessen griff man in der dritten Welle wieder auf Maßnahmen aus dem Vorjahr zurück. Denn um Infektionsketten zu durchbrechen und persönliche Begegnungen zu reduzieren, wurden erneut weitreichende Einschränkungen in den Bereichen Betreuung, Handel, Kultur und Freizeit verhängt und umfassende Kontaktbeschränkungsmaßnahmen vorgenommen. Die dritte Welle der Pandemie erreichte ihren Höhepunkt schließlich im April 2021 (vgl. RKI 2022b). Steigende Fallzahlen, eine erweiterte Infektionsgefahr und international grassierende Mutationen ließen damals befürchten,1 dass die Infektionslage nach einem deprimierenden Winter noch einmal neu an Fahrt aufnehmen werde. Doch die Inzidenzzahlen waren der eine Indikator bei der Pandemiebewertung. Zugleich drängte sich mehr und mehr aber ein anderer Wert nach vorne: die Impfquote! Die Stimmungslage im Frühjahr 2021 ist heute kaum mehr nachzuvollziehen. Das Ende der Pandemie schien auf einmal in Sicht zu sein. Die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, war allerorten zu spüren. Bei Twitter, Instagram und Facebook kursierten Bilder von strahlenden Impflingen, Pflastern auf dem Oberarm und Daumen hoch bei den Impfärzt*innen. Das »Impf-Selfie« verbreitete die Hoffnung, dass die Pandemie nun Injektion um Injektion in den Griff zu bekommen ist. Die Impfkampagne dieser späten Winter- und ersten Frühjahrsmonate – mit einer klar definierten Impfreihenfolge – war mit der Erwartung verbunden, dem Infektionsgeschehen baldmöglich Einhalt gebieten zu können. Diese Erwartung blieb hoch, obwohl Versäumnisse in der Impfstoffbeschaffung, die »Masken-Affäre« und die öffentliche Debatte um die Wirkung einzelner Vakzine die Hochgefühle immer wieder dämpften. Doch von Impfskepsis, Impfprotesten und Impfverweigerern war noch kaum die Rede. Keiner dachte daran, die Impfung in besonderer Weise zu bewerben oder ihre Notwendigkeit zielgruppenspezifisch zu kommunizieren. Kaum vorstellbar war im Frühjahr 2021, welches Spaltungspotenzial die Frage nach dem Impfstatus ab dem Sommer 2021 entfalten wird – Familien- und Freundeskreise entzweiten sich hinsichtlich der Frage nach dem Ja oder Nein zum Impfen. Gefälschte Impfpässe waren im Umlauf. Hassmails und Drohanrufe wurden zum Alltag derer, die sich frühzeitig für eine Impfpflicht aussprachen. Schaut man in der Rückschau freilich genauer auf die Debattenlagen, dann sind die Tendenzen der Spaltung bereits im Frühjahr 2021 durchaus zu erkennen. Zwar sprach sich damals die stille Mehrheit der zur Corona-Lage Befragten für anhaltende oder verschärfte Maßnahmen zum wechselseitigen Schutz der Bevölkerung aus. Doch immer lauter war eine kleine Minderheit, die gegen Bevormundung und gegen eine »Corona-Diktatur« wetterten. Auf diese Weise verschob sich allmählich die Grundhaltung gegenüber den Corona-Maßnahmen. Ermüdender Lockdown und Öffnungsdebatte Zu dieser Verschiebung zählte, dass das bis dahin weithin akzeptierte Sicherheitsdispositiv – niemand soll und darf sich infizieren und Infektionsketten müssen unterbrochen werden – trotz steigender Fallzahlen zunehmend relativiert wurde. Der Lockdown ermüdete und die Öffnungsdebatte gewann an Kraft. Die Gesellschaft und ihre wirtschaftlichen Aktivitäten sollten wieder zu ihrem Recht kommen. Diese Haltung stand wiederum im Widerspruch zu Befragungen, die eher für schärfere denn für gelockerte Schutzmaßnahmen plädierten. Die medial verbreitete Auffassung, dass die Gesellschaft der Maßnahmen überdrüssig sei, deckte sich nicht mehr mit der repräsentativ erfassten Auffassung, die Maßnahmen seien beizubehalten und möglicherweise noch zu verschärfen.2 In dieser öffentlichen Verhandlung über den vermeintlich richtigen Weg wurden politische Gestaltungsansprüche mehr und mehr an die Einzelnen (und ihre vermeintliche Vernunft) abgegeben. Das Postulat der Solidarität und der Verweis auf wechselseitige Rücksichtnahme wurden in einen...


Herbst, Sarah
Sarah Herbst ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen.

Vogel, Berthold
Berthold Vogel ist geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Georg-August-Universität Göttingen. Er unterrichtet Soziologie an den Universitäten Göttingen, Kassel und Sankt Gallen. Seit 2020 ist er Sprecher des Göttinger Standorts im Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Vorstandsmitglied des Energieforschungszentrums Niedersachsen.

Mautz, Rüdiger
Rüdiger Mautz ist Senior Research Fellow am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen.

Sarah Herbst ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen.
Rüdiger Mautz ist Senior Research Fellow am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen.
Berthold Vogel ist geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Georg-August-Universität Göttingen. Er unterrichtet Soziologie an den Universitäten Göttingen, Kassel und Sankt Gallen. Seit 2020 ist er Sprecher des Göttinger Standorts im Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Vorstandsmitglied des Energieforschungszentrums Niedersachsen.


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