E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Format (B × H): 205 mm x 125 mm, Gewicht: 330 g
Heringer Die Liebe vereinzelter Männer
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7550-5035-3
Verlag: März Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Wirklich ein einzigartiger Roman.« Zadie Smith
E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Format (B × H): 205 mm x 125 mm, Gewicht: 330 g
ISBN: 978-3-7550-5035-3
Verlag: März Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
1
Zu Anbeginn war unser Planet heiß, gelb und stank nach schalem Bier. Der Boden war verdreckt von kochendem, klebrigem Schlamm. Die Randbezirke von Rio de Janeiro waren das Erste, was in die Welt kam, noch vor Vulkanen und Pottwalen, noch bevor die Portugiesen einfielen und bevor Getúlio Vargas den Bau von Sozialwohnungen befahl. Queím, wo ich geboren und aufgewachsen bin, ist so ein Randbezirk. Eingezwängt zwischen Engenho Novo und Andaraí entstand das Viertel aus dem Urlehm, der sich in verschiedene Formen fügte: frei herumlaufende Hunde, Fliegen und Hügel, einen Bahnhof, Mandelbäume, Bretterhütten und Stadthäuser, Kneipen und Munitionsdepots, Kurzwarenläden, Jogo-do-Bicho-Stände und ein riesiges, für den Friedhof reserviertes Stück Land. Aber noch war alles leer: Es fehlten die Menschen. Doch sie ließen nicht lange auf sich warten. Auf den Straßen sammelte sich so viel Staub, dass dem Mensch keine andere Wahl blieb, als in Erscheinung zu treten und sie zu kehren, sich am späten Nachmittag auf die Balkone der Häuser zu setzen und über die Armut zu jammern, über andere zu lästern, auf die sonnengewaschenen Bürgersteige zu schauen, und auf die von der Arbeit zurückkommenden Busse, die alles wieder verdreckten. 2
In einem meiner Schulbücher stand, dass es in der Nähe der heißesten Regionen der Erde ein Volk gab, das die Sonne verwünschte. Die Männer schrien jeden Tag fünf Mal fluchend zu ihr hinauf, und wenn die Nacht anbrach, beteten sie froh. Sobald die Frauen die ersten Strahlen sahen, bedeckten sie ihre Häupter und Augen mit einem bloßen Tuch, so wie sie es taten, wenn sie ihre Toten begruben, und erst in der Abenddämmerung legten sie es wieder ab. Wegen der Sonne waren diese Menschen schwarz, und ihr Kontinent hieß Afrika. Obwohl ich fast weißgrün aussehe, bin ich ein Sohn jenes Volkes. Von klein auf habe ich die Sonne gehasst, aber mein ganzes Leben bin ich von ihr abgeleckt worden wie ein Welpe. Inzwischen habe ich mich an ihre Anwesenheit gewöhnt, in manchen Momenten glaubte ich sogar, sie zu lieben, aber nein: Ich hasse die Sonne. Ich verfluche sie jeden Tag fünf Mal. In den Ferien 1976 war ich dreizehn Jahre alt. Der Sommer hatte noch nicht einmal richtig begonnen, und meine Haut schälte sich schon zum dritten Mal. Meine Arme und Schultern, von winzigen Bläschen überzogen, würden schon bald Hautspäne fallen lassen. Meine Nase bekam eine weitere verbrannte Schicht. Mein gerösteter Kopf ließ nicht zu, dass ich mir die Haare kämmte. Mein Rücken ließ nicht zu, dass ich schlief. Es war fast Mittag. Wir waren schon seit dem Morgen am Pool. Joana, meine kleine Schwester, tauchte, plantschte und lachte, nur mit einem Bikinihöschen bekleidet, obwohl ihre Brustwarzen schon hervorstanden. Ich konnte nicht schwimmen, ich musste am Rand sitzen, die Füße im Wasser und die Oberschenkel auf dem heißen Granit, und mitansehen, wie die Sonne langsam den Schatten auf dem Boden wegaß. Maria Aína saß im zweiten Stock auf dem Balkon und passte auf uns auf, während sich Paulina, die Hausangestellte, um das Essen oder den Staub kümmerte. Meiner kindlichen Berechnung nach musste Maria Aína 279 Jahre alt sein. Sie war eine der Nachbarinnen, die auf uns aufpasste, wenn Mama sie darum bat. (Ob sie Geld dafür bekam, weiß ich nicht.) Sie war hier in Queím geboren, sie lebte hier und starb hier in einer Hütte, die es schon gegeben hatte, als das Viertel noch eine Fazenda gewesen war. Sie hatte Rio nie verlassen – der weit entfernteste Ort, den sie je in ihrem Leben besucht hatte, war Jurema, wo die Seelen der Indios weilen. Sie stieß beim Atmen lange Pfeiftöne aus wie ein altes Tier und hatte die Geburt jedes lebenden Menschen miterlebt, sogar die meines Vaters. Extrem dünn und die Tochter von Sklaven, sprach sie in der Sprache der Ururgroßeltern, wenn sie nicht wollte, dass man sie verstand. Sie schaute auf grüne Früchte, und schon waren sie reif. Am St. Kosmas- und St. Damianstag machte sie Doce de Abóbora und brachte sie uns noch warm. Den Geschmack habe ich nie vergessen, außen knusprig und innen sandige, fleischige Creme. Wir waren die Ersten, die die Leckereien essen durften, gleich nach den Erês: Ihnen stellte sie eine volle Schüssel in den Wald. Die Gaben verdorrten und verschwanden. So ernähren sich die Geister. Maria Aína hatte mich gern, weil ich genau wie sie mit der Nabelschnur um den Hals geboren war. Jahre später, wenige Tage vor ihrem Tod, sagte sie zu mir: »Wer auf diese Weise geboren wird, steht immer im Vorzimmer der Gefahr, Camilo.« 3
Joana kam zum Rand und bespritzte meine verbrannten Schenkel, damit sie nicht so schmerzten. Sie kletterte aus dem Pool und schützte mich mit einem Sonnenschirm. Ich erinnere mich gut an das Gesicht, das sie machte, wenn sie sich um mich kümmerte: ein angespanntes Lächeln, schüchtern, wegen ein paar fehlender Zähne, die Augenbrauen in einer traurigen, festlichen Form, weil ich nicht so gut zu Fuß war wie sie. Mein Bein ist schwach. Monoparese der linken unteren Extremität. Verkrüppelt, ja, aber nicht schlimm. Mit fünf ging es schon humpelnd, mit acht an Krücken. In den Ferien versteckte ich die Krücken und benutzte eine Art Hirtenstab aus Guavenbaumholz, der fast so groß war wie ich und an der Spitze gebogen. So fühlte ich mich wild, ein Wanderer oder ein Schamane, wie ein normaler Junge. (Die meiste Zeit musste ich mich mit beiden Händen festhalten.) Dasselbe Stück Holz dient mir heute als Stock. Auf ihn gestützt bin ich alt geworden. Er gehörte irgendeinem Verwandten von Maria Aína, sie hat ihn mir geschenkt. Wer ihn gemacht hat, weiß ich nicht, aber er zählt zum Liebsten, was ich habe. Wenn es weich ist in mir, kann ich in allem, das aus diesem Holz gemacht ist, eine Seele spüren. Ich bekomme keine Guaven herunter. Joana sprang erneut ins Wasser. Lustlos schwamm sie ein paar Züge und kam wieder zu mir zurück. Sie grinste und entblößte ihre kleinen Zähne. Dieses Grinsen kannte ich: Sie wollte mir etwas erzählen. Meine Schwester schämte sich wegen ihrer Zahnlücken zu Tode, aber sie grinste, wenn sie ein Geheimnis verraten oder erfahren wollte. Sie grinste, um zu zeigen, dass auch ihr Mund frei von Mysterien war, dass ihre Zunge niemandem Schaden zufügen würde. Sie war ein offenes Mädchen. (Als unsere Mutter Anfang der Nullerjahre starb, grinste Joana breit, danach überbrachte sie mir die Nachricht.) »Mama hat die Pflanzen nicht gegossen, sie hat sie heute wieder nicht gegossen«, sagte sie und sah mich an wie eine Detektivin. Zum Beweis kletterte sie aus dem Pool, hüpfte zu dem kleinen Garten und kam mit Farnblättern zurück. Ich zwickte eines, das zwischen meinen Fingern zerfiel. Die Sonne hatte Mutters Garten versengt. Anscheinend hatte sie ihn seit Wochen nicht gegossen. Joana fragte mich etwas mit den Augenbrauen. Ich antwortete mit einem Fischmund. Sie seufzte und ahmte die Erwachsen nach, stemmte die Hände in die Hüften und verdrehte die kleinen Augen. Sie wusste viel mehr als ich, und trotzdem wusste sie nichts. Ich hatte nur eine Sorge: Wenn die Pflanzen vertrockneten, würden sie bald gelb werden. Wenn sie gelb wurden, war der Herbst vor seiner Zeit gekommen und der Sommer vorbei. Ohne Sommer würde es auch keine Sommerferien geben. Dann würden wir wieder in die Schule gehen müssen. Wir hatten keine Ahnung von der Krise, die die Ehe unserer Eltern seit Monaten traf. Wir wussten nicht einmal, wer das Land regierte. Wir lebten unter der eigenartigen Diktatur der Kindheit: wir sahen, ohne zu erkennen; wir hörten, ohne zu verstehen; wir redeten, und keiner nahm uns ernst. Aber wir waren glücklich unter dem Regime. Der Stoff unserer kleinen Leben war dunkel und verbarg uns völlig, eine Burka ohne Augen. An diesem Tag kam es zum ersten Riss. Vaters Wagen war laut zu hören. Das Licht würde in unser Versteck eindringen. Brumm-Brumm, schon bog der Ford Corcel um die Ecke. Er hielt vor dem Tor und brüllte wieder, Wrumm-Wrumm, und verlangte, eingelassen zu werden. Niemand ging hin und öffnete ihm. Mutter tauchte auf der Veranda auf, wechselte ein paar Worte mit Maria Aína, machte den Eindruck, als würde sie bleiben, aber ging wieder hinein. Vater, der über das Eisentor kletterte, sah sie nicht. Er hielt am Pool, hupte, und die Sonne knallte mitten auf die phlegmatisch-gelbe Karosserie des Corcels, mitten in unsere Augen. 4
Maria Aína richtete sich Stück für Stück auf, ihr Skelett schwerfällig und schlaff, und schaute von oben zu uns herunter. Joana brachte mir meinen Stock und half mir hoch, ihr zahnloses Lachen wollte wissen, was Vater uns wohl mitgebracht hatte, denn von Reisen kam er immer mit Geschenken zurück. Er stieg aus dem Wagen, schlug die Tür zu und rückte schnaufend die Hose zurecht. Eine Hitze. Mit abgestelltem Motor schnurrte der Corcel asthmatisch, bevor er in Schlaf verfiel. Meine Schwester kreischte kurz und wickelte sich schnell in ein Handtuch. Erst da sah ich seinen Kopf, eingerahmt von der Heckscheibe: den kahl rasierten Kopf eines Jungen, der so sehr Junge war wie ich. Nur hatte ich den Kopf voller Haare, und ich war nicht milchkaffeefarben wie er. Im Sommer war ich rot, und im Winter weißgrün. Sein Schädel muss immer diese ewige Dazwischenfarbe gehabt haben, Farbe von Nichts mit wässriger Milch. Er sah stark aus, ich war dünner, gebrechlicher, lahm. Doch sein Blick war schwach, wie der Hals von einem...