E-Book, Deutsch, 286 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 210 mm
Herrmann Meine Sommer mit Nietzsche - Die Erinnerungen der Sibylle von Rathingen an ihre Begegnungen mit dem Philosophen - Historischer Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95753-744-7
Verlag: Verlag DeBehr
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 286 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 210 mm
ISBN: 978-3-95753-744-7
Verlag: Verlag DeBehr
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das junge Fräulein von Rathingen ist fasziniert, als sie von diesem Nietzsche hört. „Gott ist tot und wir haben ihn umgebracht und die Kirchen sind nur noch Grabmäler Gottes“, so sagt er. Seine Aussagen erzürnen die Kirchenoberen, auch Pastoren sind beunruhigt, er provoziert die Gesellschaft. Diesen interessanten Mann möchte Fräulein von Rathingen treffen. Sie muss ihn überzeugen, dass er sich irrt, ist sie doch selbst Philosophin. Sils-Maria wird der Ort ihrer Zusammenkünfte werden. Eine faszinierende Freundschaft entsteht. Mit viel Detailfreude und historisch fundiert lässt Markus Herrmann den großen Philosophen zu Wort kommen. Eine fesselnde Hommage an Friedrich Nietzsche.
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I. Kapitel Schon manche haben es unternommen, zu berichten von den Ereignissen, die sich unter uns zugetragen haben und das Leben und die Werke Friedrich Nietzsches betreffen. Seine Bücher, die er in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschaffen hat, gehen ihren Weg durch die Hände der Gebildeten, in die Stuben der Gelehrten, die Köpfe der Künstler und auch in die Regale der einfachen Leute, die sich mit geistigen Dingen abgeben. Und sein Leben erforschen schon manche und suchen die Spuren des Kometenphilosophen, wie sie ihn nennen, denn er erschien als ein Himmelszeichen, das eine neue Zeit ankündigt. Und so verstehen es auch seine Leser, die in diesem Jahr 1910, in dem ich diese Zeilen schreibe, eine Dekade nach seinem Ableben, längst an die Tausende zählen und immer mehr werden. Doch er war auch der Einsiedler von Sils-Maria, wie er sich selbst nannte, siebenmal kam er im Sommer in die Hochalpen ins Engadin, um dort einsame Wanderungen zu unternehmen, sich dabei Notizen zu machen und in seiner Schreibstube an seinen Werken zu arbeiten. Nur manchmal fuhren Besucher zu ihm herauf, die den kauzigen Philosophen sprechen wollten und sich um ihn bemühten. Er selbst hatte noch Fäden in die alte Heimat nach Naumburg in Sachsen, wo seine Familie lebte, seine Mutter und seine Schwester, die ihm manchmal Essenspakete schickten, mit Würsten, Speck und anderen Köstlichkeiten und Briefe beilegten voller Sorgen um den Sohn und Bruder. Sein Vater war schon mit 36 Jahren gestorben an einer Hirnerkrankung und auch er steckte sich, wie wir inzwischen wissen, bei seinen wenigen Sexualkontakten mit Prostituierten während eines Italienaufenthaltes 1876/77 mit der Syphilis an, die schließlich seine geistige Umnachtung verursachte, an der er noch elf Jahre litt, bevor zu seinem Gott und Vater heimging. Ihm hatte er abgeschworen in seinem Leben und in seinen Werken. Aber ich bin mir sicher, wer so mit seinem Gott ringt, dann wird ihm am Ende die ewige Freude zuteil, mögen die Leute reden, was sie wollen über den Gottesleugner und Propheten des Atheismus und was dergleichen Etiketten mehr sind. Nun wird der geneigte Leser wissen wollen, wer es ist, der diese Aufzeichnungen verfasst hat. Mein Name ist Sibylle von Rathingen, ich stamme aus Frankfurt am Main, habe in Zürich promoviert im Fach Philosophie als eine der ersten Frauen in Europa, wie es dort noch manch andere meiner Geschlechtsgenossinnen getan haben. Und ich lernte damals in den 80er Jahren auch Lou Salomé kennen, die zeitweilige Freundin des Philosophen, die 17 Jahre jünger war als er und aus Russland kam und schon von sich reden gemacht hat als Schriftstellerin. In „Im Kampf um Gott“ gestaltete sie die Hauptfigur Kuno nach Friedrich Nietzsche. Dieser Mann im Roman findet die einzig würdige Haltung in der trotzigen Hinnahme des Schicksals – amor fati, wie der Lateiner sagt. In dieser Geisteshaltung findet er Erfüllung und Freude. Dieser Roman, noch zu Lebzeiten des Philosophen erschienen, fand Gefallen bei der Literaturkritik und auch ihre spätere Liaison mit dem Dichter Rainer Maria Rilke sorgte in Kunstkreisen für Aufsehen. Sie begegnete Nietzsche zum ersten Mal ausgerechnet im Petersdom zu Rom, wo der Philosoph sie mit den berühmten Worten begrüßte: “Von welchen Sternen sind wir einander zugefallen?“ Das ist mal ein Wort, reif für die Philosophiegeschichtsbücher und Lou hat es mir selbst erzählt. Ich war ihre Freundin an der Universität, wo sie vor allem religionswissenschaftliche Veranstaltungen besuchte, aber auch Philosophie, Philologie und Kunstgeschichte hörte. Daneben entstanden weltanschaulich-inspirierte Gedichte, die auch ein Professor mit literarischer Vergangenheit „stark und schön“ fand. Doch musste sie die Stadt schon bald wegen des Ausbruchs einer Lungenkrankheit verlassen, um eben im Süden Heilung zu finden, aber sie kehrte noch manchmal nach Zürich zurück und dann trafen wir uns. Aber sie hat auch ein Sachbuch über Nietzsche geschrieben, in dem sie kenntnisreich und einfühlsam ihm und seinem Werk gerecht zu werden versucht. Außerdem verfasste sie als unbekannte Schriftstellerin auch Artikel in Zeitschriften und Zeitungen, so in der Sonntagsnummer der „Vossischen Zeitung“ und in der „Freien Bühne“, die sie ebenso bekannt machten. Nietzsches Verwandte und Freunde waren von diesen Veröffentlichungen peinlich berührt und warfen ihr „journalistische Ausbeutung“ ihrer Bekanntschaft mit dem Philosophen vor. Ich betone, dass mir, die ich Ähnliches unternehme, dies fernliegt, vielmehr will ich die unbekannten Seiten Nietzsches hervorheben. Möglicherweise erscheint dem Leser die Einleitungsformel zu diesen Aufzeichnungen etwas überhöht, lehnt sie sich doch an die Anfangsworte des Lukasevangeliums an, denn dort heißt es auch: „Schon viele haben es unternommen...“ Aber ich habe diesen Satz absichtlich gewählt, denn Nietzsche tat ja das Ungeheure, dass er gleichsam ein neues Evangelium schreiben wollte, das die anderen vier ersetzen sollte, auch sein Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“ war in vier Büchern abgefasst und sollte eine neue Bibel werden und deren Verbreitung übertreffen. Es sei das bei weitem wichtigste Buch, das der Menschheit bislang gegeben wurde, behauptete er. Was Lou mir verschwieg und ich erst später erfuhr, war, dass Nietzsche mit dem „Zarathustra“ eine Art Selbstheilung vornahm, die ihn über die Enttäuschung mit der Freundin hinweghalf und mit einem schöpferischen Akt dieses Kapitel in seinem Leben abschloss. Einer ihrer Bewunderer sagte über Lou, sie knüpfe eine leidenschaftliche Beziehung zu einem Mann an, und neun Monate später bringe dieser ein Buch zur Welt. Neben Nietzsche gab es auch noch andere ehemalige Liebhaber, auf die dies zutraf. Ich war erstaunt und bestürzt zugleich über Lous Aussage, dass er die Bibel ersetzen wolle, erschrocken, denn ein Mensch, der solches unternimmt, der lädt sich gleichsam Berge auf den Rücken, wie sie in Sils-Maria emporragen, die ihn erdrücken können und so ist es auch mit Friedrich Nietzsche geschehen. Aber dies will ich sogleich vorweg sagen: Es sei mir ferne, dass ich die Geisteskrankheit des Philosophen als eine Strafe Gottes ansehe, wie es heute schon manche christlichen Ausleger tun, doch ich halte dies für zutiefst unmenschlich und als einen Frevel, so mit dem Philosophen umzugehen. Diese verwechseln ihren Zeigefinger mit dem Finger Gottes. Ich wiederhole, dass er mit dem Allerhöchsten gerungen hat wie wenige vor ihm und jemand nannte ihn schon den „Frömmsten unter den Gottlosen“, wie sich auch der Zarathustra selbst bezeichnet. Lou Salomé hielt ihn sogar für ein „religiöses Genie“, in welchen Lobruf ich durchaus einstimme, auch wenn meine weltanschaulichen Grundlagen im Christentum liegen. Ich habe also in Zürich studiert und sogar promoviert über die philosophischen Aspekte im Werk des heiligen Augustinus, des Bischofs von Hippo in Nordafrika, ich stelle hier aber klar, dass ich die Theologie nur als Nebenfach betreibe. Ich habe mich also durchgerungen, einen Beitrag über den Philosophen Nietzsche zu verfassen, um ein ganzheitliches Bild über ihn zu ermöglichen. Dieses Werk soll wie ein Mosaikstein dazu sein. Ich habe ihm nämlich nach den Erzählungen Lou Salomés einen Brief geschrieben und ihn gefragt, ob ich ihn besuchen könne und er hat mich erhört und mir die Erlaubnis gegeben, zu ihm zu fahren. Das habe ich mehrmals getan und die Gespräche mit ihm sind mir unvergesslich und so gebe ich auch mir selbst Rechenschaft über meine Begegnung mit einem Geistesriesen, denn als einen solchen bezeichne ich ihn und die sich lawinenartig ausbreitenden Werke über ihn in unseren Tagen sprechen Bände. Viele Künstler lesen ihn, um seine Diagnose der Zeit, in der wir leben, zu verstehen und die Zeichen zu deuten, die da geschrieben sind. Es kommt hinzu, dass seine Werke alles Andere als sperrig sind. Nietzsche gilt schon heute als großer Stilist, der seine Sprache an den Klassikern, vor allem Goethe, geschult hat, und durch beständige Lektüre auch verbessert und geschliffen hat, auch viele Werke über biologische und naturwissenschaftliche Themen gewälzt hat. Vor allem war er ja auch Professor für klassische Philologie in Basel und hat dort Vorlesungen an der Universität gehalten, und auch am Pädagogium, einem Gymnasium, unterrichtet. Zeitweise verloren sich bei seinen Vorlesungen nur wenige Zuhörer im Saal, wie ich gehört habe, bei seiner „Rhetorik des Aristoteles“ saßen zwei Studenten im Auditorium, bei seiner Vorlesung über griechische Literatur waren es immerhin elf. Er hatte auch einige Schüler, auf die er stolz sein konnte und mit Namen kannte. Auch erzählte er mir von einem jungen Mann, der nach Australien ging und sich vorher mit seinen Schriften versah. Aus Annaberg in Sachsen kamen zwei junge Musiker eigens, um ihn zu hören, darunter Heinrich Köselitz, der unter dem Namen Peter Gast einer seiner treuesten Freunde wurde. Auch wenn er gerne unterrichtet hat, wurde ihm dieses Leben aber mehr zur Last denn zur Lust. Und so hat er aber vor allem aus Krankheitsgründen nach zehn Jahren die Lehre aufgegeben und erhielt eine Pension, die ihn unabhängig machte. Aber gleichzeitig hatte er immer wieder um Verlängerung der Zahlungen zu ersuchen und auch dies hing wie ein Damoklesschwert über ihm. So bin ich also mehrmals nach Sils-Maria gefahren, wo er sich immer im Sommer während seiner letzten Jahre vor der geistigen Umnachtung aufhielt, während er die Winter in Italien oder Südfrankreich verbrachte, in Nizza, Genua, Sorrent und anderswo. Die Franzosen mochte er nur wenig. Aber Nizza hat die meisten Sonnentage im Jahr. Er brauchte den blauen Himmel, die Lichtfülle, die trockene Luft, um arbeiten zu...